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Salzburger FestspieleEin Schneesturm muss das Theater retten

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August Diehl ist als Dr. Garin beim Schauspiel „Der Schneesturm“ nach Vladimir Sorokin zu sehen. Das Stück wird im Rahmen der Salzburger Sommer-Festspiele aufgeführt.

August Diehl als Dr. Garin beim Schauspiel „Der Schneesturm“ nach Vladimir Sorokin. Das Stück wird im Rahmen der Salzburger Sommer-Festspiele aufgeführt. 

Regisseur Kirill Serebrennikov triumphiert in Salzburg mit der Uraufführung von „Der Schneesturm“ nach Vladimir Sorokin.

Es ist ein bisschen in Vergessenheit geraten, dass die Salzburger Festspiele vor mehr als 100 Jahren von einem Theaterregisseur gegründet wurden. Und zwar mit der Aufführung eines Theaterstücks, als Max Reinhard 1920 Hugo Hofmannsthals „Jedermann“ auf dem Domplatz inszenierte. Obwohl das Spiel vom Sterben des reichen Mannes bis heute alljährlich über die Bühne geht und stets ausverkauft eine der Cashcows des Programms ist, werden die Festspiele heute eher als größtes Klassik-Festival gehandelt, dominiert von den großen Opern-Produktionen und dem imposanten Konzertprogramm.

Und der „Jedermann“ bleibt ein Sonderfall, denn neue Inszenierungen werden zwar eifrig diskutiert, aber wirklich von Interesse ist die Frage, wer den Jedermann und die Buhlschaft spielt (im zweiten Jahr: Philipp Hochmair und Deleila Piasko), und ob das Wetter das Spiel auf dem Domplatz zulässt, oder ob ins Große Festspielhaus ausgewichen werden muss.

Es gab schon bessere Zeiten für die Salzburger Schauspielsparte

Und weil der „Jedermann“ der populäre Sonderfall ist, wird er gar nicht wirklich zur Schauspielsparte des Festivals gerechnet. So hat das Sprechtheater in den vergangenen Jahren schleichend an Bedeutung verloren – einzelne Highlights ausgenommen – und zur Strahlkraft der Festspiele immer weniger beitragen. Dazu passt, dass die Festspiele sich von der erst 2024 angetretenen Schauspielchefin Marina Davydova nach nur einer Saison trennten, und der Leitungsposten seither verwaist ist. Ihr bereits geplantes Programm für 2025 wird dennoch unverändert umgesetzt. Für 2026 wird Intendant Markus Hinterhäuser das Schauspielprogramm selbst verantworten, was Davydova neulich dazu veranlasste, öffentlich zu raunen, das Schauspiel würde womöglich ganz abgeschafft, was Hinterhäuser allerdings umgehend dementierte.

Mit anderen Worten: Es gab schon bessere Zeiten für die Schauspielsparte bei den Salzburger Festspielen. Dennoch stand am Beginn des Kernprogramms diesmal keine Oper, sondern mit Dušan David Pařiseks Dramatisierung von Karl Kraus‘ kolossalem Kriegskaleidoskop „Die letzten Tage der Menschheit“ ein Sprechtheater. Oder besser gesagt, der Versuch, aus dem riesigen Kraus’schen Textkonvolut, in dem 1114 Personen auf- und wieder abtauchen, ein Theaterstück zu destillieren. Aus Kölner Sicht ist dieses Experiment besonders interessant, da Ende Juni im Staatenhaus der französische Komponist Philippe Manoury sein gut dreistündiges Musiktheaterwerk nach Kraus‘ Vorlage zur Uraufführung brachte. Das Libretto für das Riesenwerk für Chor, Orchester und Live-Elektronik kondensierten in Köln Dramaturg Patrick Hahn und Regisseur Nicolas Stemann.

Dörte Lyssewski (l-r) als Elfriede Ritter-Schwarz-Gelber, Schauspielerin, Felix Rech als Anton Allmer, Feldkurat spielen bei „Die letzten Tage der Menschheit“ von Karl Kraus mit. Das Stück wird im Rahmen der Salzburger Festspiele auf der Perner-Insel gezeigt.

„Die letzten Tage der Menschheit“ von Karl Kraus in Salzburg

Der Kölner Abend begann vielversprechend, mit suggestiven Klangflächen, die auf eine Stimmung existentieller Bedrohung einschworen, doch zerfaserte er, vor allem nach der Pause in dem Eindruck von Beliebigkeit.

Erstaunlicherweise krankt die Salzburger Koproduktion mit dem Burgtheater an ähnlichen Problemen: Es beginnt auch hier verheißungsvoll, Pařisek konzentriert sich auf sieben Figuren, der Viktualienhändler Vinzenz Chramosta etwa, der bei Kraus nur einmal auftritt, verschmilzt in der Industriehalle auf der Perner-Insel mit etlichen anderen Figuren. Andere bleiben konstant in ihren Rollen wie etwa der großartige Michael Maertens als Hofrat Schwarz-Gelber und Dörte Lyssewski als seine nervige Gattin. Oder der Nörgler, den Elisa Plüss mit starkem Schweizer Akzent und leicht weltentrückt-quäkend gibt.

Das eigentliche Problem des Abends ist die Textauswahl. Kraus‘ Riesenwerk ist zwar ein Kaleidoskop, das Passagen der Sprach- und Medienkritik kurzschließt mit privaten Szenen, deren Handlungssplitter unter dem Dach der Sprachkritik aber disparat bleiben. Pařisek aber konzentriert sich mehr und mehr aufs Private und serviert Eifersuchtsszenen statt Endzeitgefühl. Nach der Pause ist wie in Köln endgültig die Luft raus aus dem Abend.

Weiter geht's in Salzburg mit einem Gastspiel des Odéon Théâtre de l'Europe, „Le Passé“ von Julien Gosselin, ein Vierstünder von 2021, also eigentlich ein alter Hut, gespielt im Salzburger Landestheater. Dort bleiben in der Premiere bereits zu Beginn etliche Sitze frei, der Trailer hat potenzielle Besucher offenbar abgeschreckt. In der Pause wandert das Publikum dann in Scharen ab. „Das ist Marina Davydovas Rache an den Festspielen“, witzeln Kollegen, die teils auch in der Pause fliehen. Das aufwändige Video-Theater will die in der Literatur des russischen Dichters Leonid Andrejew geschilderte Vergangenheit heraufbeschwören. Entstanden ist eine wilde Collage, die das Patriarchat anprangern will und in der betont hysterisch agiert wird. Nervtötend.

Erzählt wird von einer Irrfahrt durch ein märchenhaft-grausames Russland

Aufatmen dann bei der letzten Produktion dieses Jahrgangs, erneut ein formal und ästhetisch gewagtes Experiment: Regisseur Kirill Serebrennikov hat die Erzählung „Der Schneesturm“ des russischen Gegenwartsautors Vladimir Sorokin für die Bühne eingerichtet und in Koproduktion mit dem Düsseldorfer Schauspielhaus auf der Perner-Insel ein rauschhaft sinnliches und assoziationsreiches Theater geschaffen, in dem Sprechtheater, Musik und Tanz wie selbstverständlich verschmelzen.

Beide Künstler leben seit Jahren im Berliner Exil und gelten als scharfe Putin-Kritiker. Dass die Uraufführung von „Der Schneesturm“ ausgerechnet auf den Tag des für Putin erfolgreichen Gipfeltreffens in Anchorage fällt, gibt dem Abend zusätzliche Dringlichkeit.

Erzählt wird von einer Irrfahrt durch ein surreal überzeichnetes, märchenhaft-grausames Russland. Ausgerechnet an einem besonders heißen Tag herrscht auf der Szene (Vlad Ogay) fast durchgängig der titelgebende Schneesturm, durch den Dr. Garin (phänomenal: August Diehl) sich mit dem trottelhaft-kindischen Kutscher Perkushka (grossartig: Filipp Avdeev) zu einem Dorf durchkämpfen will, um die dort von einer Zombie-Seuche bedrohten Einwohner zu impfen. Aber es geht nicht voran, denn der Kutscher hat nur 50 Mini-Pferde zur Verfügung, eine Kufe des Schlittens ist geborsten und allerlei weitere Hindernisse stellen sich in den Weg.

Ohne plumpe Aktualisierungen zu bemühen, bringen Sorokin und sein Regisseur, der nah am Ursprungstext bleibt, auf subtile Weise den ewigen russischen Fatalismus auf die Bühne. Der Schneesturm wird dabei selbst eine poetische Figur aus Schneeflocken und mit einem tanzenden Ensemble von neun auch singenden Stimmen, flankiert von der suggestiven Livemusik von Malika Maminova. Ovationen für alle Beteiligten, besonders für Sorokin.