Tatsiana Khomich über ihre Schwester, die inhaftierte belarussische Bürgerrechtlerin und Flötistin Maryja Kalesnikawa, und die neue Hoffnung auf ein anderes Belarus.
Politische Häftlinge in Belarus„Ein großer Hoffnungsschimmer“

Tatsiana Khomich setzt sich aus dem Exil für die Freilassung ihrer Schwester Maria Kalesnikowa ein. Jetzt fordert sie eine veränderte Strategie.
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Frau Khomich, Sergej Tichanowski der im Jahr 2020 bei der Präsidentenwahl in Belarus antreten wollte und deswegen inhaftiert wurde, ist vor wenigen Wochen freigelassen worden. Er war der Kopf der Revolutionsbewegung in Belarus. Hat Sie seine Freilassung überrascht?
Tatsiana Khomich: Bis vor kurzem glaubten die meisten Menschen – mich eingeschlossen –, dass Sergej Tichanowski der letzte der politischen Gefangenen sein würde, der jemals freikommen würde. Dass es doch geschehen ist, ist ein großes Glück – für ihn persönlich und für Belarussen auf der ganzen Welt. Seine Freilassung fühlt sich wie ein stiller Nationalfeiertag an. Innerhalb des Landes tauschten Tausende von Menschen verschlüsselte Nachrichten aus – eine Fähigkeit, die sie sich in Jahren der Unterdrückung angeeignet hatten. Dieser Moment ist ein großer Hoffnungsschimmer.
Bedeutet Hoffnungsschimmer womöglich auch Wendepunkt im Umgang mit den politischen Gefangenen wie Ihrer Schwester Maria Kalesnikova, die seit September 2020 inhaftiert ist und von der es über sehr lange Zeit kein Lebenszeichen gab?
Ich hoffe, dass es ein Wendepunkt sein wird. Für die Menschen, die sich aus dem Exil für politische Gefangene in Belarus einsetzen, ist Tichanowskis Freilassung ein Signal, dass wir unsere Strategie ändern müssen: In den vergangenen Jahren war es wichtig, die Weltöffentlichkeit zu alarmieren, dass es keine Lebenszeichen von unseren Freunden und Verwandten gab, dass die Inhaftierten gefoltert wurden und unter menschenunwürdigen Bedingungen eingesperrt sind. Mit der Freilassung von Tichanowski zeigt sich: Es ist Dialog mit dem Regime möglich. Diesen Dialog müssen wir nutzen. Es geht jetzt darum, öffentlich weiteren Dialog einzufordern und still Druck auszuüben – nicht mehr laut.
Es ist Dialog mit dem Regime möglich. Diesen Dialog müssen wir nutzen.
Tichanowski hat in seinen ersten Interviews in Freiheit von systematischer Folter gesprochen und die Belarussen aufgefordert, keine Angst zu haben vor dem Regime – wenn die Menschen „aktiv handeln“ würden, gäbe es die Chance, das Regime zu Fall zu bringen. Widerspricht sich das nicht? Sie fordern stillen Dialog – Tichanowski fordert die Menschen in Belarus auf, laut zu sein …
Es geht nicht darum, den Druck aufzugeben, sondern darum, worauf wir den Schwerpunkt legen. Verhandlungen zur Rettung von Menschenleben sind weder Schwäche noch Zugeständnis. Es gibt eine moralische Dimension – und eine praktische. Die öffentliche Eskalation hatte ihre Berechtigung – als vorübergehende Reaktion und Strategie. Fünf Jahre sind seitdem vergangen. Der regionale Kontext hat sich seitdem geändert – und auch der internationale. Belarus hat ein Interesse an einer Annäherung an den Westen, allein schon, um die Wirtschaft zu stärken.
Tichanowski sagte, dass „nur durch Drohungen mit weiteren Sanktionen aus der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten weitere politischen Häftlinge befreit werden können“. Sehen Sie das ähnlich?
Ich denke, dass die Länder der EU sich aktiver an den diplomatischen Bemühungen beteiligen sollten, um ihre eigenen Bürger und andere politische Gefangene wie meine Schwester Maria Kalesnikava zu befreien. Es müssen jetzt alle verfügbaren diplomatischen und humanitären Mittel eingesetzt werden, um die Freilassung politischer Gefangener zu einer klaren Priorität zu machen, die Verhandlungsbemühungen aktiv zu unterstützen und strategisch auszuweiten.
Es müssen jetzt alle verfügbaren diplomatischen und humanitären Mittel eingesetzt werden.
Ende 2024 gab es nach Jahren der Unsicherheit das erste Lebenszeichen von ihrer Schwester, ihr Vater durfte sie auch einmal im Gefängnis besuchen. Wie ist der aktuelle Stand – wann gab es das letzte Lebenszeichen?
Es gibt seit Ende 2024 keine direkten Neuigkeiten von ihr. Nach dem Treffen mit ihrem Vater wurde sie im November 2024 in eine Frauenabteilung verlegt. Ihre Ernährung und medizinische Versorgung verbesserten sich. Allerdings hat sich ihr Gesundheitszustand im Laufe der Jahre insgesamt erheblich verschlechtert, insbesondere während ihrer Isolationshaft, die seit Anfang 2023 andauerte. Zuvor wurde sie wegen eines perforierten Magengeschwürs operiert, verlor stark an Gewicht und benötigt eine spezielle Ernährung – was unter Haftbedingungen unmöglich ist. Es gibt nach wie vor keinen Austausch mit Maria: keine Briefe, keine Telefonate, keine Besuche von Angehörigen oder ihrem Anwalt.
Diktatoren und Autokraten sind für ihre Willkür bekannt – und ihre sehr durchdachten Strategien, öffentliche Aufmerksamkeit zu erzeugen. Wie groß ist Ihre Hoffnung, dass Tichanowskis Freilassung nicht nur ein einmaliges Symbol war, mit dem Lukaschenko sich als gesprächsbereiter Vermittler inszenieren möchte?
Seine Freilassung ist ja kein Einzelfall. Die jüngsten Freilassungen politischer Gefangener in Belarus wurden dank der konsequenten und gezielten Bemühungen der Vereinigten Staaten möglich. Diese Bemühungen haben vor einem Jahr unter der Biden-Regierung begonnen und bereits im Februar 2025 zu ersten Freilassungen geführt. US-amerikanische und belarussische Staatsbürger wurden unmittelbar nach dem ersten Besuch eines amerikanischen Diplomaten, des stellvertretenden Staatssekretärs Chris Smith, freigelassen. Im April besuchte der stellvertretende Sonderbeauftragte für die Ukraine, Coale, Minsk – kurz darauf wurde der politische Gefangene Yuri Zenkovich, ein US-belarussischer Staatsbürger, freigelassen. Mit Tichanowski wurden jetzt 14 weitere Menschen freigelassen – Bürger aus Belarus, aus Polen, Schweden, Estland, den Vereinigten Staaten und Japan. Das zeigt: Diplomatie funktioniert.
Und deswegen wollen Sie nicht mehr so laut darüber klagen, dass Ihrer Schwester wahrscheinlich für ihre Gesundheit notwendige Medikamente vorenthalten werden, dass Menschen in belarussischer Haft gefoltert werden und gestorben sind?
Es ist ja nicht so, dass ich nicht mehr darüber spreche – es kommt mir nur auf die Ausrichtung des Dialogs an. Mehr als 1.170 politische Gefangene befinden sich weiterhin in belarussischen Gefängnissen. Nach Angaben von Menschenrechtsaktivisten befinden sich etwa 30 davon in kritischem Zustand: Menschen mit Krebs, Herzproblemen oder einem dringenden Bedarf an Organtransplantationen. In den letzten fünf Jahren sind mindestens acht politische Gefangene im Gefängnis gestorben. Der Mangel an notwendiger medizinischer Versorgung macht jeden Tag der Haft zu einer Frage von Leben und Tod. Das gilt auch für meine Schwester – und darüber werde ich niemals schweigen.
Maryja Kalesnikawa, geboren 1982 in Minsk, ist eine belarussische Bürgerrechtlerin und Flötistin. Seit 2020 ist sie politische Gefangene in Belarus. Sie absolvierte in Minsk ein Solistenstudium für Querflöte. Anschließend studierte sie an der Musikhochschule Stuttgart. Daraufhin verbrachte sie mehrere Jahre im Ausland und nahm an zahlreichen deutschen und internationalen Festivals mit unterschiedlichen Ensembles teil. Seit 2016 unterrichtete sie klassische Musik und von 2017 an war sie als Projektleiterin des Artemp Festival tätig. Sie spricht fließend Deutsch.
2020 war Maryja Kalesnikawa im Wahlkampf an der Seite von Swetlana Tichanowskaja gegen den belarussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko angetreten und gehörte zu den Anführerinnen der Massenproteste nach der von Manipulationsvorwürfen überschatteten Präsidentenwahl. Lukaschenko ließ den demokratischen Aufbruch niederschlagen, bis heute sind mehr als tausend Oppositionelle in Belarus in Haft.