Suzie Miller auf der lit.CologneIn „Prima facie“ kämpft eine junge Anwältin gegen ihren Vergewaltiger

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Die englische Schauspielerin Jodie Comer in „Prima facie“, ein Ein-Personen-Stück am Londoner West End und am New Yorker Broadway. Sie steht an einem Schreibtisch vor Aktenregalen, gestikuliert mit ausgestrecktem Arm und Zeigefinger.

Jodie Comer in der Bühnenfassung von „Prima facie“

Suzie Miller hat ihr Erfolgsdrama „Prima facie“ zum bewegenden Roman umgearbeitet. In Köln liest sie mit Anke Engelke. Wir verlosen Karten. 

„Prima facie“, das heißt wörtlich übersetzt „auf den ersten Blick“. In der Rechtssprache verweist es auf eine Tatsache, die dem ersten Anschein nach zutreffend ist. Bis auf Widerruf. Bis weitere Informationen oder neue Beweise geprüft werden können. Die junge Strafverteidigerin Tessa Ensler ist ein aufstrebender Star in Londons Gerichtssälen. Selbstsicher, messerscharf. Jedenfalls auf den ersten Blick. Sie genießt, bekennt Ensler, die Aufregung und die Furcht, die den Saal kurz vor Prozess durchströmen: „Hier kann ich meine Fähigkeiten voll ausspielen.“

Gleich auf den ersten Seiten von „Prima facie“, dem Romandebüt der australischen Autorin Suzie Miller, erleben wir Tessa Ensler im Kreuzverhör. Ihr Mandant ist ein durchtätowierter Kneipenschläger, bestimmt nicht ganz unschuldig. Alles hängt am Zeugen der Anklage. Für Tessa ist das ein Spiel, sie gibt sich fahrig, blättert in Unterlagen, verliert den Faden, wiegt den Zeugen in Sicherheit. Bis der ins Plaudern gerät, zu viel erzählt, sich widerspricht. Und schließlich unter den Salven ihrer Nachfragen zusammenbricht. Was die Verteidigerin gefragt, was der Zeuge geantwortet hat, das erfahren die Leser nicht, sollen sie nicht erfahren. Suzie Miller will ihnen die Form zeigen, der Inhalt ist egal. Wer wirklich schuldig ist auch. Das interessiert nur Gott.

Tessa Ensler verteidigt Männer, die des sexuellen Missbrauchs angeklagt sind

Immer wieder verteidigt Tessa Männer, die des sexuellen Missbrauchs angeklagt sind. Das Gesetz, erläutert sie, beschützt alle. Und es sei das Gesetz selbst, das im Prozess auf dem Spiel stehe. Sie stelle es als Anwältin lediglich auf die Probe, das Gesetz und die Aussage vor dem Gesetz: „Wenn einige einzelne Schuldige davonkommen, dann liegt das nur daran, dass Polizei und Staatsanwaltschaft ihre Arbeit nicht gut genug gemacht haben. Ein ordnungsgemäßes Verfahren ist alles.“

Bald jedoch wird Tessa Ensler selbst auf eine furchtbare Probe gestellt und ihr Glaube an die Unfehlbarkeit des Gesetzes erschüttert. Dazu gleich mehr. Suzie Miller hat selbst als Strafverteidigerin gearbeitet, sie hat Menschenrechte verteidigt und die Interessen von Obdachlosen vertreten, vor allem aber hat sie auf dem Gebiet des sexuellen Missbrauchs gearbeitet. Die Grundidee zu „Prima facie“ hatte Miller freilich schon während ihres Jurastudiums, als sie realisierte, dass es nahezu unmöglich ist, ein Verfahren wegen sexueller Nötigung zu führen und zu gewinnen.

Die australische Autorin Suzie Miller

Autorin Suzie Miller

Die Dramatisierung von Romanen ist, vor allem auf deutschsprachigen Bühnen, gang und gäbe. „Prima facie“ ist einer der seltenen Romane, der auf einem Theatertext basiert. Das Ein-Personen-Stück feierte seine Uraufführung 2019 in Sydney. 2022 wurde es am Londoner West End zum Triumph für die englische Schauspielerin Jodie Comer, bekannt geworden als psychopathische Auftragsmörderin in der Fernsehserie „Killing Eve“. Und auch die geifernde Art, in der Comers Tessa Ensler anfangs zum pumpenden Bass dem Publikum ihre Verhörtechniken vorführt, hat etwas von einem Raubtier im Sprung.

Später zog die Erfolgsproduktion an den Broadway um, eine Aufzeichnung aus London wurde weltweit in den Kinos gezeigt. In dieser Spielzeit wird Millers Gerichtsdrama an 16 deutschsprachigen Bühnen inszeniert, eine Version mit Lou Strenger in der Hauptrolle hatte im vergangenen Dezember im Düsseldorfer Schauspielhaus Premiere.

Die junge Anwältin weiß, wie schlecht ihre Chancen vor Gericht stehen

Das scheinbar unerschütterliche Selbstbewusstsein der jungen Anwältin bricht jäh in sich zusammen, nachdem sie sich in den brillanten Julian, einen Kollegen aus ihrer Kanzlei verliebt hat. Achtung: es folgen Spoiler! Ein erstes nächtliches Aufeinandertreffen verläuft leidenschaftlich, das erste Date berauschend. Dann vergewaltigt Julian Tessa. Noch heulend unter der Dusche, die Haut mit der Nagelbürste rot geschrubbt, spult sie „in Gedanken die Fragen ab, die ich vor Gericht immer und immer wieder gestellt habe“.

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Sie weiß, was sie erwartet, weiß, wie schlecht ihre Chancen vor Gericht stehen, auch wenn sie niemals damit gerechnet hätte, sich in dieser Lage wiederzufinden. Sie ist jetzt eine von drei Frauen, die mindestens einmal in ihrem Leben Opfer von sexualisierter Gewalt werden. Tessa entschließt sich zur Anzeige, auch wenn sie damit ihre Karriere als Anwältin riskiert.

In Millers Romanadaption erfährt man sehr viel mehr über Tessa Enslers ärmliche Herkunft. Über den gewalttätigen, später abwesenden Vater; die Mutter, die sich als Putzfrau durchschlägt; den vorbestraften Bruder. Ihr Vergewaltiger stammt dagegen aus einer angesehenen Anwaltsfamilie. Das erhöht nicht nur den Einsatz, es steht sinnbildlich für die patriarchale Tradition des Rechts.

Am Ende muss sich Tessa selbst einem Kreuzverhör unterziehen, soll Intimstes vor der Öffentlichkeit ausbreiten, muss sich Angriffe auf die eigene Integrität gefallen lassen. Jeder Schlag zielt unter die Gürtellinie. Das Gesetz beschützt sie nicht, also schert sie sich auch nicht mehr um ein ordnungsgemäßes Verfahren, hält stattdessen ein flammendes Plädoyer gegen das geltende Recht, das das Opfer diskreditiert, statt den Beschuldigten zu fragen, „was er getan hat, um sicherzugehen, dass es wirklich ein Einvernehmen gab?“

„Prima facie“ mag an manchen Stellen allzu didaktisch daherkommen, auch fehlt dem Roman die Durchschlagskraft des Stücks. Aber Suzie Millers Zorn ist gerecht, das Gesetz nicht. Es ist das richtige Buch im richtigen Moment.


Suzie Miller: „Prima facie“, Kjona Verlag, 352 Seiten, 25 Euro. Miller liest zusammen mit Anke Engelke am 7. Februar auf der lit.Cologne. Theater am Tanzbrunnen, 17 Uhr.

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