Das Ende des Sommers ist der richtige Moment, um eine Tür zu öffnen zu einer Welt, die wir bislang nicht kannten. Etwas Neues auszuprobieren. Selbst wenn es am Ende gar nicht klappt.
Die OptimistinEine günstige Zeit für einen aufregenden Start


Vielleicht werden wir noch Ballettstar. Wer weiß das schon?
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Ein ganz normaler Tag, es ist ein bisschen langweilig, so wie späte Ferientage manchmal sein können, wenn alle Spiele schon gespielt wurden, wenn man schon zwanzig Mal im Schwimmbad war und im Kino dreimal und man irgendwann sogar das örtliche Eiermuseum besucht hat, weil das Programm sich sonst eben arg ausdünnt. Und plötzlich taucht da direkt neben dem Badezimmer eine zweite Tür auf. Sie quietscht ein bisschen beim Öffnen. Dahinter liegt Erstaunliches, gänzlich Unbekanntes. Eine neue Welt, jede Nacht eine andere.
Es sind wahrscheinlich die schönsten Träume, die man haben kann: Die Entdeckung eines neuen Anfangs. Einer Möglichkeit. Wohin all diese Türen führen könnten, ist erstmal einerlei. Im Moment des Starts ist die Realität ja so wundervoll vielfältig, wie die Fantasie das eben hergibt. Balletttänzerin in New York? Tennisstar in Wimbledon? Menschenrechtsanwältin in Den Haag? Pianistin an der Oper von Sydney? Wenn wir zum ersten Mal den Trainingsraum betreten, die Tasche für die erste Vorlesung packen, den Schläger kaufen, zur neuen Klavierlehrerin aufbrechen, schleicht sich der Gedanke ins Gehirn: Warum denn eigentlich nicht? Könnte ja in der Tat erfolgreich werden. Oder mindestens richtig gut. Was für eine Verheißung.
Die Möglichkeiten, einen aufregenden Start hinzulegen, sind selten günstiger als jetzt. Der Herbst kündigt sich an und viele verbinden damit mehr Ende als Anfang. Aber das ist natürlich höchst ungerecht. Denn: Gerade jetzt zum Sommerende befinden wir uns in der wahren Achsenzeit des Neustarts. Die Ferien gehen zu Ende, die Schule beginnt, eine neue Klasse, eine neue Bildungseinrichtung möglicherweise. Vielleicht steht eine Ausbildung an, oder eben mindestens die Rückkehr ins Büro. Und dann startet auch noch die Bundesliga. Natürlich, nicht alles offenbart sein Glamour-Potenzial auf den ersten Blick. Aber erinnern Sie sich an das Gefühl, das Sie hatten, wenn der neue Schreibblock noch ganz leer war. Wenn man den ersten Hefteintrag noch poesiealbummäßig niederpinselte, weil man überzeugt war: Das wird das perfekte Jahr, mir wird alles gelingen, ich werde nur gute Noten schreiben und wahnsinnig viel interessante Dinge lernen. Jetzt ist der richtige Moment, eine Tür zu öffnen „zu einer Welt, die ich nicht kannte“, um die Worte des ewigen Nach-der-Zeit-Suchers Marcel Proust zu verwenden.
Den Alltag mit Nach-Ferien-Mut ins Wanken rütteln
Schließlich ist so ein Menschenleben ja nicht in Stein gemeißelt. Auch ein noch so erratisch wirkender Alltag kann ins Wanken geraten, wenn wir mit Nach-Ferien-Mut daran rütteln. Wer sagt schon, dass wir nicht um sechs Uhr morgens zu einer kraftspendenden Sonnenaufgangsrunde in den Park starten können, wenn schon das Meer oder der Berg nicht mehr zur Verfügung steht? Wer sollte uns daran hindern, alte Freunde wieder anzurufen und spontan ein Picknick in den letzten Sommertagen zu vereinbaren? Wer will uns einen Riegel vorschieben, wenn wir künftig meinetwegen alles über die Funktionsweise des menschlichen Körpers oder die Geschichte der Habsburger lernen wollen? Wenn wir ab jetzt unserem Körper zuliebe auf Zucker verzichten? Wenn wir die Perspektive wechseln, in Bewegung kommen und einen neuen Anfang wagen?
Beispiele für hoffnungsvolle Neuanfänge gibt es jeden Tag. Nicht alle schaffen es in unsere Wahrnehmung. Aber täglich ist da jemand, der sich was traut: Die Amerikanerin Nola Ochs zum Beispiel hat mit 90 Jahren noch ein Studium an der Universität in Kansas begonnen und das mit 95 auch abgeschlossen, sie gilt damit als die älteste Absolventin weltweit und konnte ihr neu gewonnenes Wissen auch noch zehn Jahre anwenden ehe sie mit 105 Jahren starb. Der Japaner Tatsuo Horiuchi erfand sich nochmal komplett neu, als er mit Anfang 60 in Rente ging. Er begann, Landschaftsbilder mit dem Tabellenkalkulationsprogramm Excel zu zeichnen und wurde so gefragt, dass er seine Werke international ausstellen konnte. Die Kanadierin Olga Kotelko begann ihre Leichtathletikkarriere mit 77 Jahren und sammelte bis zu ihrem Tod mit 95 Jahren immerhin noch 750 Goldmedaillen in Speerwurf, Weitsprung, 100-Meter-Lauf und Kugelstoßen.
Natürlich wissen wir, dass mancher Neustart im Sand verläuft, dass das neu angefangene Heft spätestens bis zu den Herbstferien Kakaoflecken haben wird und Eselsohren und man die Schrift vielleicht nur noch mit gutem Willen lesen kann. Aber vielleicht liegt ja gerade darin das Wunder: Dass wir das Scheitern mit einberechnen, dass wir putzen, obwohl wir wissen, dass spätestens am Nachmittag eines der Kinder Milch oder Saft verschütten wird. Dass wir sechs Tage zuckerfrei leben, obwohl jedem klar ist, dass wir spätestens am siebten ein großes Spaghettieis löffeln werden. Dass wir euphorisch starten, Italienisch zu lernen, obwohl wir uns gut an die sterbenslangweiligen Stunden vor dem Latein-Vokabelheft in der neunten Klasse erinnern. Dass wir trotzdem immer wieder den Eindruck haben, es könnte diese Tür zu einer neuen Welt und zu einem neuen Ich geben. Und dass es sich lohnen könnte, diese zu öffnen. Vielleicht wagen wir zumindest ein paar Schritte und entdecken Verheißungsvolles.