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„Das wäre Selbstmord“Wie eine Polizeibeamtin die Flutnacht im Ahrtal erlebte

Lesezeit 5 Minuten
Ahrtal Juli 2021 100722

Altenahr am 19. Juli 2021 

Koblenz – Es ist der 14. Juli 2021, kurz vor 22 Uhr. Petra S. (Name geändert) tritt im Polizeipräsidium Koblenz die Nachtschicht in der Führungszentrale an. Als die leitende Beamtin auf der Dienststelle eintrifft, ahnt sie nicht, dass ihr die schlimmste Einsatznacht ihrer Laufbahn bevorsteht. Auf der Fahrt zum Präsidium scheint noch alles in Ordnung zu sein. Im Radio ist keine Rede von der bereits seit Stunden laufenden Flutkatastrophe durch die Starkregenfälle im Ahrtal. Erst bei der Übergabe erfährt die Schichtleiterin, dass im Eifelort Schuld an der Oberahr bereits sechs Häuser weggebrochen seien.

Näheres weiß der Kollege aber auch nicht zu sagen. Nichts über die tödlichen Dramen auf dem Campingplatz Stahlhütte nahe Dorsel, der bereits Stunden zuvor völlig überschwemmt wurde, über die prekäre Lage in etlichen anderen Gemeinden an der Ahr. Nichts von einer nie erlebten Hochwasserwelle, die auf die nächsten Ortschaften hinabrauscht.

Dienststellenleiter schildert Lage in dramatischen Worten

Die Polizeiführerin sucht den Kontakt zum Leiter der zuständigen Polizeiinspektion (PI) in Adenau. Die Eifelstadt liegt nur 15 Kilometer entfernt von Schuld. Der Dienststellenleiter schildert die Lage in dramatischen Worten. In Schuld laufen die Fluten durch die Straßen. Seine Beamten würden nicht an die Häuser herankommen. „Das wäre Selbstmord.“

Auch die Inspektion in Adenau sei betroffen. Nach seinen Angaben fehlt ein Notstromaggregat, um den Betrieb weiter aufrecht zu erhalten. Petra S. hängt sich an den Hörer, versucht beim Innenministerium und der Bereitschaftspolizei das gewünschte Gerät zu beschaffen – erfolglos.

Retten, was noch zu retten ist

Die Schilderungen der leitenden Beamtin sind Beispiel dafür, wie hilflos die Polizei und das Innenministerium in Rheinland-Pfalz der größten Hochwasserkatastrophe der Landesgeschichte gegenüberstanden. Gegen 22 Uhr am Abend des 14. Juli 2021 seien keine Warnungen mehr vor der Flutwelle möglich gewesen, gibt die Zeugin bei ihrer Vernehmung zu Protokoll, die der „Kölner Stadt-Anzeiger“ einsehen konnte. „Wir mussten mit Manpower rangehen und retten, was noch zu retten war. Die Katastrophe war schon da“, erläutert die Beamtin.

Die Vernehmung ist eine von Vielen, die eine Frage beantworten soll: Wer trägt am Tod der Flutopfer im Ahrtal Schuld? Seit knapp einem Jahr erforschen die Strafverfolger in Koblenz die Ursachen des tödlichen Dramas als Teil eines umfangreichen strafrechtlichen Komplexes, der das miserable Katastrophenmanagement der Verantwortlichen im Krisenstab von Ahrweiler in der Flutnacht vom 14. auf den 15. Juli durchleuchtet.

Ermittlungen gegen Landrat Jürgen Pföhler

Die Generalstaatsanwaltschaft Koblenz ermittelt in dem Zusammenhang gegen den damaligen Landrat Jürgen Pföhler (CDU) und dessen Krisenstabsleiter wegen fahrlässiger Tötung durch Unterlassen. Der Anfangsverdacht steht im Raum, dass die Bevölkerung trotz erkennbarer Hinweise zu spät oder gar nicht vor der tödlichen Sturzflut gewarnt wurde. Eine Hochwasserwelle, die von der oberen Ahr bis hinunter nach Sinzig 134 Menschen in den Tot riss. Beide Beschuldigten weisen über ihre Verteidiger die Vorwürfe zurück.

Doch die Aussagen der Koblenzer Polizeiführerin weisen in eine andere Richtung. Petra S. gibt in der Nacht des 14. auf den 15. Juli ihr Bestes, um das Schlimmste zu verhindern. Angesichts der eskalierenden Lage in den Flutgebieten, fordert die leitende Beamtin beim Lagezentrum des Innenministeriums in Mainz Einsatzhundertschaften, Taucher und Rettungsboote an. Zudem bittet sie um schweres Gerät, weil die Kollegen mit den Streifenwagen sich nicht mehr durch die Fluten kämpfen können. Der Mann im Lagezentrum verspricht, sich darum zu kümmern. Allerdings fällt die Hilfe spärlich aus. Einen mageren Zug mit technischem Material schickt man ins Krisengebiet.

Helikopter können Mangels Winden nicht helfen

Vor dem Hintergrund des Katastrophenfalles richtet Petra S. eine Besondere Aufbauorganisation (BAO) ein. Da zeigt die Uhr bereits 0.30 Uhr und die Flut rauscht längst die Ahr hinunter. Einen Hubschrauber, der die Lage im Eifelort Schuld fotografieren soll, beordert man zurück. Zahlreiche Menschen, die sich auf die Dächer ihrer Häuser gerettet haben, winken hilfesuchend zu dem Helikopter. Mangels Winde kann die Besatzung aber nicht helfen.

Meist vergeblich sucht die Koblenzer Führungszentrale die einzelnen Polizeistationen vor Ort zu kontaktieren. Zugleich häufen sich die Notrufe in Koblenz, weil die lokalen Dienststellen nicht mehr zu erreichen sind. „Unser größtes Problem war, dass wir nicht an die Örtlichkeiten herangekommen sind. Durch den Ausfall der Dienststellen hatten wir auch keinen Funkkontakt“, berichtet Petra S..

Kurz vor ein Uhr realisiert die Polizeiführerin das ganze Ausmaß der bedrohlichen Lage. Petra S. alarmiert ihre Vorgesetzten, fordert, dass man einen großen Führungsstab benötige, um das Hochwasserunglück in den Griff zu bekommen. Bisher hat sie versucht mit drei Kollegen den verheerenden Naturgewalten zu begegnen. Ein Unterfangen, das bereits zum Beginn der Schicht keine Erfolgsaussichten verspricht und sich im Laufe der Nacht stetig zuspitzt.

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Das Lagezentrum aus dem Innenministerium meldet sich nach Mitternacht, als man sich dort über den Ernst der Lage im Klaren wird. Ab sofort erwarte man halbstündlich einen neuen Lagebericht, heißt es aus Mainz.

Keine Zeit für halbstündige Lageberichte

Den Wunsch aus Mainz haben man nicht erfüllen können, erinnert sich die BAO-Führerin Petra S.. Mit der Arbeit sei man gar nicht hinterhergekommen. Notrufe seien pausenlos eingegangen. „Wir konnten keine klare Lage erstellen.“ Erst um 5.30 Uhr kommt die zweite Phase mit mehr Personal in der Koblenzer Führungszentrale ans Laufen. Zu jener Zeit aber hat die Flutkatastrophe längst das Ahrtal verwüstet.

Am Ende der Vernehmung erkundigen sich die Ermittler, ob der Krisenstab in Ahrweiler oder Landrat Pföhler in jener Nacht die Koblenzer Führungszentrale über die ernste Lage vor Ort informiert habe. Immerhin geht es um das Epi-Zentrum der Katastrophe. Die Antwort der Zeugin fällt kurz aus: „Nein“.

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