Meine RegionMeine Artikel
AboAbonnieren

Interview

Anonymer Ex-Inspektor
Michelin-Tester: „Ich kann die Kritik am Auszeichungswahn verstehen“

Lesezeit 6 Minuten
Ein roter Guide Michelin wird von einer Person im Anzug in der Hand getragen.

In Deutschland sind etwa zwei Dutzend Testerinnen und Tester anonym im Einsatz. (Archivbild)

Wie arbeitet der Restaurantführer? Ein ehemaliger Michelin-Tester spricht im Interview anonym über das Testverfahren.

Sie reisen umher, sie legen Wert darauf, bei ihren Besuchen nicht erkannt zu werden und ihre Urteile können über das Wohl und Wehe von Restaurants entscheiden: Die Tester des Guide Michelin, des einflussreichsten Restaurantführers der Welt, lassen sich normalerweise nicht in die Karten blicken. Für uns macht einer anonymisiert eine Ausnahme.

Produktqualität, Aromenklarheit und Handwerkskunst entscheiden

„Jeder Teller kann darüber entscheiden, ob du drei Sterne oder gar keinen hast“, behauptet Sternekoch Tim Raue im Trailer zu der Serie „Star Kitchen“ – klingt sehr theatralisch. Sie waren viele Jahre als Inspektor beim Guide Michelin beschäftigt. Ist was dran? 

Nein. Bei Restaurants im Grenzbereich scheiterte es häufig an der Kontinuität in der Qualität. Bei anderen Restaurants verzettelten sich Köchinnen und Köche. Da wurde bei Gerichten zu viel gewollt und noch eine siebte Komponente um eine dritte Variation herumgebaut. Währenddessen war die Hauptkomponente auf dem Teller kalt geworden. Es ging also mehr um grundsätzliche Kritik, als um ein Manko bei einem einzelnen Gericht.

Was muss denn eine Köchin oder ein Koch tun, um zwei, gar drei Sterne zu bekommen? Intuition, Erfahrung, Hokuspokus?

Da gab es kein Handbuch. Aber man konnte sich natürlich die Mechanismen und Kriterien klarmachen, worauf der Guide Michelin angeblich bis heute achtet und sie ein Stück weit für sich ausnutzen, etwa Produktqualität, Aromenklarheit oder Handwerksleistung. Ich habe aber festgestellt, dass gute Köchinnen und Köche oft dieselbe Entwicklung durchmachen. Am Anfang ihrer Karriere packen sie zu viel auf die Teller. Hier ein Schäumchen, da ein Soßenpunkt, dann noch eine cremige Textur und eine krosse Komponente. Sobald sie selbstsicherer sind und ihren eigenen Stil entwickelt haben, kommen sie zurück auf die zwei, drei wichtigen Sachen ihrer Idee – und das war es. Kochen auf diesem Niveau muss aus der Seele kommen.

Früher waren die Restauranttipps des Guide Michelin eine Zusatzinfo in der Kraftfahrerlektüre „Werkstattwegweiser“ des französischen Reifenherstellers „Michelin“, heute gelten die Sterne als der Ritterschlag der Kochkunst. Köche tätowieren sich ihre Sterne auf die Arme. Blogger fliegen um die Welt, um in allen Drei-Sterne-Restaurants zu essen und machen sich so unwillkürlich zu Markenbotschaftern der „roten Bibel“, wie der Führer wegen seines roten Einbands auch genannt wird – alles nicht ein bisschen übertrieben?

Wir gingen schon mit hoher Professionalität an die Sache ran. Der Einsatz, der auf der Seite der Redaktion gebracht wurde, war so groß wie der Einsatz am Herd. Wenn es keine Gastronomiekritik gäbe, dann wäre der Hype um die Restaurants auch nicht so groß. Aber ich kann Kritik an diesem Auszeichnungswahn verstehen, das nimmt teils pseudoreligiöse Züge an. Dabei ist der Guide Michelin auch eine PR-Maschine. Über die neuen Sterne, die vergeben werden, wird in der Presse doch mehr berichtet, als über jeden neuen Reifen, den „Michelin“ auf den Markt bringt. Und ganz offen: Eigentlich muss ich als Köchin oder Koch doch das Ziel verfolgen, mein Restaurant voll zu haben, Geld damit zu verdienen und tolle Gäste zu haben, die wiederkommen. Ist es nicht einfacher zu sagen: Ich koche, was ich will und wie ich es will, und wenn das Sterne wert ist, prima?

Ein Michelin-Männchen und Guide Michelins verschiedener Jahrgänge stehen im Eingangsbereich am Firmensitz in der Nähe des Frankfurter Flughafens.

Der Firmensitz ist heute in der Nähe des Frankfurter Flughafens. Früher kamen die Tester aus Karlsruhe. (Archivbild)

Wie viele Restaurants haben Sie im Jahr getestet?

Man hat Pi mal Daumen 220 Arbeitstage im Jahr. Ein Drittel ist weggefallen durch die Redaktionszeit. Bleiben noch 140 Tage. Bin ich in eine nicht so weit entfernte Stadt gefahren, habe ich dann montags mit Mittagessen angefangen und freitags mit Mittagessen aufgehört.

Waren Sie in Restaurants nicht irgendwann bekannt?

Ich bin immer in Regionen gefahren, in denen ich am längsten nicht war. Da hat es dann auch schon mal acht Jahre gedauert, bis ich wieder in derselben Ecke war. Da war mein Gesicht vergessen. Ausnahme waren die Zwei- oder Dreisterne-Restaurants, die dichter beurteilt wurden. In meiner Zeit nahm auch der internationale Austausch unter den Teams zu, was ich für absolut notwendig halte, um globale Vergleichbarkeit in den Bewertungen herzustellen. Wäre ein Inspektor nur in Belgien oder den Niederlanden unterwegs, wo es nicht so viele Sterne-Restaurants gibt und wo man jedes irgendwann kennt, erläge er irgendwann dem Trugschluss, dass der beste Zweisterner eigentlich drei Sterne haben müsste.

Hängt einem das gute Essen nicht irgendwann zum Hals raus?

Ich wurde nicht fürs Aufessen bezahlt … Ich habe aber einerseits versucht, mittags relativ leicht zu essen. Andererseits wurden von der Redaktion ja nicht nur Sterne-Restaurants, sondern auch Lokale mit „Bib Gourmand“ ausgezeichnet, also gute Küchen zu einem guten Preis-Leistungs-Verhältnis. Ich habe vielleicht zweimal im Monat in einem Zwei-Sterne-Restaurant und einmal in zwei Monaten in einem Drei-Sterne-Restaurant gegessen. So blieb das immer ein Highlight. Man darf auch nicht vergessen: Tester sind Verrückte, die gehen ja auch privat in solche Restaurants. Da werden Urlaube um Restaurants herum geplant. Zumindest war es bei mir so und bei allen anderen, die mit mir unterwegs waren.

Haben Sie wirklich immer alle Sterne-Restaurants jährlich getestet?

Wir waren flächendeckend immer in Deutschland unterwegs. Da gab es einen gewissen Rhythmus, der nicht immer der Jahresrhythmus sein musste. Ist ein Tester länger ausgefallen, hat man den Rhythmus gestreckt. Ich stand auch mal kurz vor Redaktionsschluss vor einem Lokal, das kurzfristig geschlossen hatte – was macht man da? Wenn man weiß, hier ist seit Jahren derselbe Küchenchef im selben Ambiente, mit demselben Stil und Team am Werk, dann ist es vielleicht auch ein weniger wichtiges Testessen als anderswo …

Der „Guide Michelin“ wirkt sehr selbstreferenziell und erweckt gerne den Eindruck der Unfehlbarkeit – passierten Fehler?

Du wirst immer Möglichkeiten finden, Kritik in irgendeiner Form zu kritisieren. Das ist auch vollkommen in Ordnung so. Aber dass man sich richtig geirrt hat, ist nur selten passiert. Der „Erbprinz“ in Ettlingen war meines Erachtens so eine Sache: Im einen Jahr den Stern gegeben, im nächsten gleich wieder gestrichen. Aber du wirst in jedem Bewertungssystem eine Ungerechtigkeit finden. Das bleibt nicht aus. Ich würde nicht einmal sagen, dass unsere Entscheidungen besonders konservativ oder progressiv gewesen wären. Solche Ausschläge gab es in beide Richtungen. Letztlich spiegelten die Bewertungen eine redaktionelle Meinung wider – und entweder du vertraust dieser Meinung oder nicht.

Ralf Flinkenflügel, der ehemalige Chefredakteur des Guide Michelin, hat in Interviews oft erwähnt, dass alle Entscheidungen im Team getroffen wurden – ist das so?

Zu meiner Zeit war das so, ja. Die Sternekonferenzen waren in Teilen auch wirklich emotional. Da flogen die Fetzen. Inspektoren sind eben irgendwann sehr starke Charaktere. Warum? Weil sie ganze Zeit alleine unterwegs sind. Die müssen irgendwann ihrem eigenen Urteil vertrauen können und zu ihrer Meinung stehen – könnten sie das nicht, wären sie im falschen Beruf.

Suchten Azubis auf dem Parkplatz nach „KA“-Kennzeichen?

Aber manchmal sind die Übergänge doch fließend. Kann man so sauber zwischen ein, zwei und drei Sternen trennen?

Das sind die Knackpunkte, über die am meisten diskutiert wurde. Wenn man etwa einen dritten Stern gegeben hat, der auf der Kippe stand. Man kann sich auch von den ganzen äußeren Einflüssen nicht freimachen. Aber das Schöne war ja, dass es nicht an einer einzelnen Person gelegen hat, ob das Restaurant jetzt den zweiten oder dritten Stern bekam, das war immer ein Zusammenspiel von ganz vielen Meinungen.

Welche Relevanz hatten für Sie die Ergebnisse anderer Restaurantführer?

Kam der neue „Gault&Millau“ raus, haben wir darin geblättert und nach Lokalen gesucht, die wir nicht auf dem Schirm hatten. Die haben wir dann in unsere Datenbank aufgenommen. Aber ob der „Gault&Millau“ ein Lokal hoch- oder runtergestuft hat, das war uns wurst. Wir haben unser Ding durchgezogen.

Bis vor einigen Jahren war die Guide-Michelin-Redaktion in Karlsruhe, jetzt ist sie in Frankfurt. Bis zum Umzug hielt sich hartnäckig das Gerücht, dass alle Inspektoren ein „KA“-Kennzeichen hätten. In Verdachtsfällen wurden die Azubis von ihren Küchenchefs sogar über den Parkplatz gejagt – eine sinnvolle Strategie?

Es wäre besser gewesen, nach der Reifenmarke zu schauen …

Die Gerüchteküche brodelt seit Jahren auch wegen anderer Details: Es heißt, Frankreich würde in den Bewertungen künstlich hochgehalten, in Deutschland sei die Anzahl an Drei-Sterne-Restaurants auf zehn gedeckelt oder es dürfte nie mehr als ein neues Drei-Sterne-Restaurant pro Jahr hinzukommen – ist was dran?

Solche Regeln sind mir während meiner Zeit nie untergekommen. Franzosen haben ein ganz anderes Verhältnis zum Essen, die haben ganz andere Produktqualitäten. Die Leute sind auch bereit, für gute Qualität mehr Geld auszugeben. Das alleine reicht ja schon aus, dass in Frankreich die Qualität in den Restaurants per se ein Stück höher ist als in Deutschland. Und letzteres Gerücht lässt sich mit einem simplen Fakt aushebeln: Ende 2007 bekamen bei der Michelin-Gala drei Restaurants auf einen Schlag drei Sterne, das „Restaurant Bareiss“, „Gästehaus Klaus Erfort“ und „Restaurant Amador“.