Polizeigewerkschafts-Chef„Hier ist vieles in der Vergangenheit schief gelaufen“

Polizisten am Rande einer Demonstration in Dortmund nach den Todesschüssen.
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- Nach dem Tod eines Geflüchteten infolge eines Polizeieinsatzes steht die Behörde in der Kritik.
- Torsten Seiler von der Gewerkschaft der Polizei äußert sich zur Situation in der Dortmunder Nordstadt.
- Im Interview nimmt er Stellung und berichtet darüber, was ihm für die Zukunft große Sorgen bereitet.
Dortmund – Herr Seiler, nach den tödlichen Schüssen durch einen Ihrer Kollegen auf einen 16 Jahre alten senegalesischen Flüchtling in einer Jugendhilfeeinrichtung der Dortmunder Nordstadt ist erneut von brutaler Polizeigewalt die Rede, ist der Vorwurf berechtigt?Torsten Seiler: Nein, gewiss nicht. Ich kenne die Abläufe des Einsatzes in der Jugendhilfe-Einrichtung nicht, das Geschehen wird gerade durch die Staatsanwaltschaft und die polizeiliche Partnerbehörde in Recklinghausen aufgeklärt.
Generell sei gesagt, dass die Einsatzkräfte sich stets an die Lage angepasst verhalten. Das heißt etwa, wenn man zu einer Schlägerei gerufen wird, und ein Mann prügelt auf einen anderen ein, dann müssen die Kollegen sicherlich lauter und deutlicher allein schon bei der Ansprache auftreten, als wenn sie einen Ladendieb in einem Kaufhaus übernehmen müssen.

Dortmunder Chef der Gewerkschaft der Polizei, Torsten Seiler
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Nun kritisierten etwa manche Kriminologen, dass die Polizei nicht entsprechend ausgebildet ist, um mit der sich stark häufenden Zahl psychisch auffälliger Tatverdächtiger umzugehen.
Der Umgang mit psychisch kranken Delinquenten ist nicht neu, aber wir haben auch kein psychologisches Studium absolviert. Die Polizei wird im Rahmen eines dualen Studiums drei Jahre lang professionell ausgebildet. So werden die Kommissar-Anwärter entsprechend auf den Schusswaffengebrauch vorbereitet. Zugleich absolvieren sie ein Training sozialer Kompetenzen, in denen die Studentinnen und Studenten Strategien erlernen, um in Bedrohungslagen zu deeskalieren. Aber eines ist auch klar: Der Schusswaffengebrauch im realen Gefahrenmoment sieht ganz anders aus. Da muss man meist in Sekundenschnelle reagieren. Im Training geht es nie um Leben und Tod. Das ist ein gewaltiger Unterschied.
60.000 Menschen auf 14.000 Quadratmeter
Kurdisch-libanesische Clans, Drogenhandel, Straßenkriminalität - obschon die Polizei in der Dortmunder Nordstadt seit 2016 mit einer eigenen Ermittlungskommission (EK) gegen das Phänomen vorgeht und die Fallzahlen sinken, liegt die Quote etwa bei Gewaltdelikten mit 616 immer noch hoch, der zweit bevölkerungsreichste Stadtteil der Ruhrmetropole weist einen Migrationsanteil von 55,4 Prozent auf, die Grüne Jugend hat gerade beklagt, die Polizei hätte dort insbesondere die Zuwanderer auf dem Kieker, wie ist Ihr Eindruck?
Zeitweilig habe ich selbst in der Nordstadt meinen Dienst versehen. Hier muss man ganz klar sagen, dass die Kolleginnen und Kollegen nicht zwischen Herkunft, Hautfarbe oder sexueller Orientierung unterscheiden. Vielmehr hängt es stets vom Einzelfall ab, wie die Beamten reagieren. In der Nordstadt haben wir eine sehr dichte Bebauung, die Mieten sind günstig. Auf 14.000 Quadratmetern leben fast 60.000 Menschen zusammen, meist mit einem vergleichsmäßig geringen Einkommen. Da ist vieles in der Vergangenheit schief gelaufen.
Was heißt das?
Das ist ein Ortsteil mit vielen Baustellen. Die Stadt hat zwar durch ihr Quartiersmanagement bereits Erfolge erzielt, auch die Polizei hat durch den Kampf gegen die kriminellen Auswüchse in dem Viertel durch einen eigens eingerichteten Schwerpunktdienst Nord und die EK gegen Clans binnen fünf Jahren die Fallquote insgesamt um ein Viertel auf knapp 11.000 Taten gesenkt. Dennoch sind die Zahlen immer noch äußerst hoch.
Was kommt da auf einen zu, wenn man als Polizist in der Dortmunder Nordstadt arbeitet?
Das erste Problem sind die kulturellen Unterschiede. Häufig genug führen Sprachbarrieren dazu, dass die Leute die Beamten gar nicht verstehen. Das sorgt oft für Missverständnissen bei Einsätzen, die dann eskalieren können. Da helfen auch die Kolleginnen und Kollegen mit eigenem Migrationshintergrund und ihren Fremdsprachenkenntnissen vor Ort nicht immer weiter. Es reicht mitunter ja schon, einen Verkehrsunfall aufzunehmen, dass die Lage zu einem Tumult ausufert. Die Menschen solidarisieren sich gegen die Polizei, weil sie nicht immer erkennen, worum es eigentlich geht. Oft wird es schwierig, wenn die Kolleginnen und Kollegen zu Konflikten zwischen Protagonisten unterschiedlicher Herkunft gerufen werden. Dabei spielen auch Stichwaffen eine Rolle. Jeden Tag im Jahr wurden in Dortmund und Lünen 2019 und 2020 mehr als eine Messerattacke aktenkundig. Im vorigen Jahr sankt die Rat. Allerdings geht dieser Effekt wohl auch auf die Lockdowns in der Pandemie-Hochphase zurück. Fazit: Die Gefahrenlage auf den Straßen bleibt unverändert hoch.
Amulett verwandelt sich zur Stichwaffe
Was heißt das konkret?
Des Öfteren sichern wir bei Durchsuchungen von Personen versteckt getragene Messer oder andere Waffen. Zum Beispiel ein harmlos wirkendes Hals-Amulett, das sich auf Knopfdruck zu einer Stichwaffe verwandelt und so für einen neuen Gefahrenmoment bei den Einsatzkräften sorgt.
Seit fast 20 Jahren sind Sie Polizeibeamter, was hat sich im Umgang mit dem einstigen Freund und Helfer verändert?
Der Respekt vor Polizei, Feuerwehr oder Rettungskräften hat enorm abgenommen. Die Hemmschwelle für Gewalt gegen Beamtinnen und Beamte ist erheblich gesunken. Das bereitet mir für die Zukunft große Sorge.
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Nach den tödlichen Schüssen auf den 16-jährigen Flüchtling vor gut zwei Wochen spekulierten manche Medien und Teile der sozialen Netzwerke über eine rassistisch motivierte Tat, wie fühlt man sich angesichts solcher Vorwürfe?
Das bedrückt die Kolleginnen und Kollegen in Dortmund sehr. Zumal gerade das Polizeipräsidium Dortmund seit Jahren gegen die bundesweit einflussreiche rechtsextreme Szene im Stadtteil Dorstfeld einen Null-Toleranz-Kurs fährt. Deshalb ist der Vorwurf völlig unbegründet, dass man aus fremdenfeindlichen Motiven den Jugendlichen erschossen hat. Dieser unhaltbare Verdacht macht die Leute hier äußerst betroffen. Gerade die Dortmunder Polizei ist wahrlich nicht auf dem rechten Auge blind.



