Freispruch trotz sexuellen Übergriffs„Zehn-Sekunden-Grapsch-Urteil“ empört Italien

Lesezeit 3 Minuten
Die Corte Suprema di Cassazione ist das höchste Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit Italiens. (Symbolbild)

Die Corte Suprema di Cassazione ist das höchste Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit Italiens. (Symbolbild)

Ein 66-Jähriger gibt zu, einer Schülerin in die Hose gefasst zu haben. Für das Gericht jedoch nicht lange genug. Die Aufregung ist riesig.

Gilt es als sexuelle Belästigung, wenn ein Übergriff weniger als 10 Sekunden dauert? Diese Frage hat ein Gericht in Italien in einem nun heftig diskutierten Urteil mit „Nein“ beantwortet. Die Aktion eines Hausmeisters, der einer 17-jährigen Schülerin in die Hose gegriffen und dies auch zugegeben hat, bleibt ungesühnt. Eben weil der Vorgang nach Auffassung des Gerichts ja nur sehr kurz, „unter zehn Sekunden“ gedauert habe, handle es sich nicht um eine Straftat.

Die abenteuerliche Begründung eines römischen Gerichts im Falle der verhandelten sexuellen Belästigung hat in Italien eine Welle des Protests und der Solidarisierung mit dem Opfer ausgelöst. Viele, vor allem junge Menschen, wollen die Entscheidung nicht hinnehmen.

Umstrittenes Urteil in Italien: Hausmeister fasst Schülerin in die Hose – und wird freigesprochen

Der nun verhandelte Fall der 17-jährigen Gymnasiastin ereignete sich im April 2022 an einer Schule in Rom. Laut der Klägerin sei sie zusammen mit einer Freundin auf dem Weg zum Unterricht eine Treppe hinausgegangen, als eine Hand spürte, die unter der Hose an den Hintern fasste. Der Mann habe sie dann hochgezogen, wodurch sie eine Verletzung im Intimbereich erlitten habe. Der Vorfall habe nach Angaben der Schülerin „zwischen fünf und zehn Sekunden“ gedauert.

Der Mann habe auf ihr Entsetzen hin versucht, die Sache herunterzuspielen. „Du weißt doch, dass das ein Scherz war“, habe er gesagt, als sie sich umdrehte. Der Hausmeister hatte im Verfahren die Version des Opfers als wahr bestätigt. Die 17-Jährige hatte gegen ihn Anzeige erstattet.

Zehn Sekunden: Dauer der sexuellen Belästigung für Urteil ausschlaggebend

Der 66-Jährige räumte in der Verhandlung ein, die Schülerin ohne deren Zustimmung angefasst zu haben – verklärte die Aktion allerdings erneut als Scherz. Das Gericht folgte dieser für das Opfer nur sehr schwer erträglichen Argumentation.

Die dreieinhalbjährige Haftstrafe, die die Staatsanwaltschaft wegen sexueller Nötigung gefordert hatte, war vom Tisch, der Hausmeister ging ohne Strafe aus dem Gerichtssaal. Nach Ansicht der Richter handelte es sich bei dem Vorfall „nicht um ein Verbrechen“, da er weniger als 10 Sekunden dauerte.

Umstrittenes Urteil empört Italien: Junge Menschen machen ihrem Ärger in TikTok-Trend Luft

Die Frage, wie es sein kann, dass die Dauer einer Handlung über den Tatbestand der sexuellen Belästigung entscheidet, beschäftigt seither das ganze Land. Seit dem Urteil ist „palpata breve“ – ein kurzes Befummeln – in Italien zu einem Trend auf Instagram und TikTok geworden, ebenso der Hashtag #10secondi.

Italienerinnen und Italiener, darunter bekannte Persönlichkeiten, haben in den sozialen Medien Stellung bezogen. Viele von ihnen posten Videos, sie schauen schweigend in die Kamera und berühren sich oder lassen sich berühren – in intimen Bereichen. Für zehn lange Sekunden.

Schwer erträgliche Videos verdeutlichen, wie lange zehn Sekunden sind

Initiiert wurde der Trend vom italienischen Schauspieler Paolo Camilli.  Tausende, vor allem junge Menschen, folgten seinem Video. Auch Chiara Ferragni, mit knapp 30 Millionen Followern auf Instagram Italiens berühmteste Influencerin, machte mit. Sie alle simulieren eine sexuelle Belästigung. „Sind zehn Sekunden zu kurz, wenn sie deinen Körper gegen deinen Willen berühren?“, fragen sie.

Die Antwort geben sie selbst. „Wer entscheidet, dass 10 Sekunden keine lange Zeit sind? Wer zählt die Sekunden, während man belästigt wird?“, schrieb Francesco Cicconetti, schreibt der Influencer auf TikTok. „Männer haben nicht das Recht, den Körper von Frauen zu berühren, nicht einmal für eine Sekunde - geschweige denn 5 oder 10.“

Das Gericht in Rom sah das anders. Der Hausmeister habe den Teenager nur kurz betatscht und ein „unbeholfenes Manöver ohne Lust“ durchgeführt, hieß es in der Urteilsbegründung. „Die Richter fassen das als Scherz auf? Für mich war das kein Scherz“, sagte die Schülerin der Zeitung „Corriere della Sera“. Sie fühlt sich vom Staat im Stich gelassen. (pst)

KStA abonnieren