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„Arschbohrer“Tiktok-Phänomen an NRW-Schulen – Expertin spricht von „sexueller Gewalt“

Lesezeit 7 Minuten
Illustration TikTok-Phänomen Arschbohrer an NRW-Schulen

Wenn Jugendliche anderen Jugendlichen die Finger zwischen die Pobacken rammen, ist das kein harmloser Streich, warnt der Verein Zartbitter.

Jugendliche rammen ihre Finger zwischen die Pobacken ihrer Mitschüler und laden ein Video der Reaktion auf Tiktok hoch. Das sei kein Streich, sondern sexuelle Belästigung, warnt Zartbitter.

Auf den ersten Blick sieht es völlig absurd aus: Ein Jugendlicher starrt auf das Hinterteil seines Kumpels. Dann formt er seine Hände zu einer Pistole und stößt sie ihm zwischen die Pobacken. Der Kumpel zuckt erschrocken zusammen und dreht sich dann grinsend um, eine Hand am Hintern. Beide lachen, als hätte jemand einen guten Witz gemacht. Dann ist das Tiktok-Video zu Ende. „Der Ultimate Arschbohrer prank am besten Freund von Eliasnp97!!!“ heißt es. 10.300 Menschen gefällt das. „Das war sehr saftig“, kommentiert ein User, ein anderer: „Arschbohrer kriegt jeder.“

Der „Arschbohrer“ ist ein Phänomen, das sich derzeit besonders stark verbreitet – auch und vor allem an nordrhein-westfälischen Schulen. Zartbitter Köln, die Kontakt- und Informationsstelle gegen sexuellen Missbrauch, schlägt deshalb Alarm. Bei den weiterführenden Schulen könne man „von einer regelrechten Epidemie“ vor allem unter Jungen sprechen, auch in den Grundschulen komme das Thema mittlerweile vereinzelt an, sagt Zartbitter-Vorständin Ursula Enders. Im Internet werden derartige Aktionen als „Prank“ bezeichnet, als Streich, der gefilmt und dann auf sozialen Plattformen wie Tiktok hochgeladen wird.

Tiktok-Trend Arschbohrer sorgt an NRW-Schulen für Probleme

Ob die Betroffenen den „Arschbohrer“ als unangenehm oder spaßig wahrnehmen, sei unterschiedlich, meint Medien-Pädagogin Iren Schulz. „Manche finden den ‚Arschbohrer‘ auch selbst lustig. Die revanchieren sich dann einfach bei Gelegenheit. Aber eben nicht alle.“ Durch das Filmen und Verbreiten vervielfacht sich die Wirkung des Pranks für die Betroffenen. „Wer hat das Video gesehen? Wissen jetzt alle, wie peinlich ich reagiert habe? Das sind Fragen, die viele umtreiben. Für die Opfer entsteht da eine ganz große Hilflosigkeit durch den Kontroll­verlust“, so Schulz. Denn anders als bei „Verstehen Sie Spaß?“ werden die Betroffenen eben nicht immer gefragt, bevor die Videos veröffentlicht werden.

Nachdem Zartbitter auf das Problem aufmerksam gemacht hat, warnt jetzt auch die Initiative Klicksafe vor dem „Arschbohrer“-Prank, weil er „übergriffiges Verhalten als Humor oder Satire“ verharmlose. „Die Handlung ist eindeutig als sexuelle Gewalt einzuschätzen, da gibt es kein Vertun“, betont Diplompädagogin Enders. „Sie ist oft schmerzhaft und da sie für die betroffenen Kinder oder Jugendlichen meist hinterrücks und unerwartet geschieht, erschrecken sich die massiv.“ Es gehöre meist dazu, dass Umstehende die Betroffenen auslachen. Diese erlebten die Handlung dann oft „als Demütigung und tiefgreifende Ohnmachtserfahrung“, die in Einzelfällen „extremst eskalieren kann, sodass man dann schon von einer Vergewaltigung sprechen muss“.

Zartbitter betreut Kölner Schüler, der vergewaltigt wurde

Vor einigen Monaten jedenfalls habe Zartbitter einen Kölner Schüler betreut, der von Klassenkameraden gewaltsam festgehalten und entkleidet wurde, um ihm einen Gegenstand einzuführen. In einem anderen Fall sei die Attacke so heftig gewesen, dass sich der übergriffige Jugendliche einen Finger gebrochen habe. Seit kurzem würden die Pädagogen der Missbrauchs-Informationsstelle das Problem deshalb auch bei Workshops in Schulen ansprechen, berichtet Enders. „Ja, und dann erlebst du ganze Gruppen, die geschlossen erklären, davor hätten sie eine permanente Angst.“

Von Ausnahmen jedenfalls könne man schon längst nicht mehr sprechen. „Das ist die Regel“, betont Zartbitter-Geschäftsführer Philipp Büscher. Ein Schüler habe bei diesen Workshops berichtet, er würde in der Pause meist auf einem Stuhl sitzen bleiben, „um keinen Bohrer zu bekommen“. Bei den übergriffigen Kindern und Jugendlichen gebe es viele, „die das vielleicht gar nicht wollen, aber glauben, es tun zu müssen, um weiter zu ihrer Clique gehören zu können“. Wenn sich innerhalb der Gruppe die gegenseitigen Übergriffe „sowohl in der Schule als auch in der Freizeit über einen langen Zeitraum als Ritual etabliert hätten“, sei oft davon auszugehen, „dass sich hier bereits gewalttätige Gruppenstrukturen herausgebildet haben“

An manchen Schulen in NRW wird das „Arschbohrer“-Problem noch verharmlost

Nachdem es zu einigen Vorfällen gekommen war, entschied sich eine Grundschule in Paderborn vor kurzem für einen Elternbrief. „Wer von anderen gegen den eigenen Willen am Geschlechtsteil oder am Po angefasst wird, darf und sollte sich einer erwachsenen Person anvertrauen“, heißt es in dem Papier: „Lehrkräfte achten verstärkt auf solche Vorkommnisse im Treppenhaus und in der Pause und schreiten sehr stringent ein.“ Aber nicht alle Lehrer hätten das Problem bereits erkannt, sagt Zartbitter-Sprecher Büscher. „Auf manchen Schulhöfen läuft das eher noch unter der Rubrik Raufen und Toben, wird nicht unbedingt als sexuelle Handlung wahrgenommen“, so Büscher. Natürlich fänden die Übergriffe häufig auch „im privaten Bereich“ statt. „Auf dem Schulweg beispielsweise, oder in den Randzeiten, in denen Kinder ohne direkte Aufsicht von Erwachsenen sind.“

Nicht immer lässt sich im Nachhinein zweifelsfrei feststellen, wer die Idee für einen Internet-Prank zuerst hatte. Der „Arschbohrer“ könnte durch eine Szene in der Anime-Serie „Naruto“ inspiriert worden sein. Dort wird er als witzig gemeinte Spezial­attacke verwendet. Maßgeblich verantwortlich für die Verbreitung ist aber wohl ein anderer: Twitchfluencer Montana Black, Spitzname „Monte“ (4,8 Millionen Follower). Er etablierte den Ausdruck „Arschbohrer kriegt jeder“, der mittlerweile als Meme gilt und als Hashtag bei Tiktok 774.000 Aufrufe hat.

„Arschbohrer“-Pranks gehen viral

Pranks sind äußerst beliebt. Manche Videos werden milliardenfach angeklickt, es gibt Kanäle, die ausschließlich Prankcontent produzieren. Die Bandbreite reicht von harmlos über geschmacklos bis hin zu richtig gefährlich. Je drastischer, desto höher die Klickzahlen. Die ersten echten Internetpranks gingen Ende der 2000er-Jahre viral. Seitdem sind Pranks aus dem Internet nicht mehr wegzudenken. Spätestens seit Joko und Klaas 2017 ein Ryan-Gosling-Double zur „Goldenen Kamera“ eingeschleust haben, kennt auch die breite Öffentlichkeit den Begriff.

Der Bundeszentrale für Kinder- und Jugendmedienschutz (BzKJ) sind die sogenannten „Arschbohrer“-Videos bekannt und werden dort als „problematischer Trend“ eingestuft. „Selbst- und fremdverletzendes Verhalten sowie sexuelle Grenzüberschreitungen werden damit animiert und verstärkt“, heißt es auf Anfrage des „Kölner Stadt-Anzeiger.“ Der Konsum der Videos könne „zu einer Werte- und Normverschiebung hinsichtlich gesellschaftlich akzeptierter Verhaltensweisen führen, Hemmschwellen herabsetzen sowie eine Verherrlichung und Verharmlosung gezeigter Handlungen begünstigen“. Der „Trend der Veröffentlichung“ derartiger Filme müsse deshalb „unterbrochen werden“, wobei die Anbieter der Social-Media-Plattformen in der Pflicht seien, betont eine Sprecherin der Bundeszentrale: „Sie müssen ein funktionierendes Melde- und Abhilfesystem bereithalten: Das heißt, Meldungen problematischer Inhalte zügig bearbeiten, rechtswidrige Videos schnell löschen, einschlägige Hashtags sperren und Hilfesysteme für Betroffene anbieten.“

„Schulen sollen Orte sein, an denen ein respektvolles Miteinander herrscht – für übergriffiges Verhalten darf es keinen Raum geben“, heißt es auch aus dem nordrhein-westfälischen Schulministerium. Das „Phänomen“ sei im Ministerium bekannt. Auf das grenzverletzende Verhalten könnten die Einrichtungen „einzelfallbezogen und in angemessener Form mit den ihr zur Verfügung stehenden erzieherischen Maßnahmen oder bei Bedarf auch mit Ordnungsmaßnahmen reagieren“. Um den Schülerinnen und Schülern zu verdeutlichen, dass ihr Verhalten nicht in Ordnung sei, „bieten sich vor allem Beratungsgespräche oder auch eine Thematisierung im Unterricht an“.

Schulministerium mahnt, Elternvertreter sind besorgt

Ähnlich besorgt äußerte sich die Landeselternschaft der Gymnasien in NRW. Was als Streich daherkommen soll, könne für die Betroffenen „durchaus eine echte Grenzverletzung sein und als Demütigung empfunden werden“. Wenn der Prank dann auch noch mit dem Handy gefilmt und auf Plattformen wie TikTok und YouTube hochgeladen werde, sei „endgültig Schluss mit lustig“, mahnt Oliver Ziehm, Vorsitzender des Vereins. „Bei eben nicht lustigen ‚Arschbohrern‘ müssen wir als Eltern wachsam sein und mit den eigenen Kindern sprechen – als Opfer und als Täter.“ Es müsse klar sein, wo die Grenze zwischen Spaß und Übergriff überschritten wird. „Denn schnell werden körperliche und psychische Grenzen bei dem ‚Prank‘ missachtet, was zu langfristigen Folgen bei den Opfern führen kann. Erst recht das heimliche Filmen und vor allem das Veröffentlichen dieser Aufnahmen sind nicht erlaubt und können ernste rechtlichen Konsequenzen haben“, so Ziehm: „Wir müssen unsere Kinder stark machen, zu so etwas ‚Nein‘ zu sagen.“ (mit rnd)


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