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Analyse nach einem Jahr Ukraine-KriegDie fünf Irrtümer des Wladimir Putin

Lesezeit 9 Minuten
Das Konterfeit des russischen Präsidenten Wladimir Putin auf einer Hauswand im russischen Kashira, südlich von Moskau.

Das Konterfeit des russischen Präsidenten Wladimir Putin auf einer Hauswand im russischen Kashira, südlich von Moskau.

Der russische Staatschef wurde als Stratege stets überschätzt. Im ersten Kriegsjahr erlag der Kremlherr immer neuen frappierenden Irrtümern – in zentralen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Fragen. „Wladimir Putin“, sagt einer der besten Russland-Kenner in Berlin, „hätte seine Karten intelligenter spielen können.“

Als Wladimir Putin am 24. Februar 2022 befahl, die russischen Panzer in die Ukraine rollen zu lassen, folgte er nicht etwa einer spontanen Eingebung. Es ging um das Projekt seines Lebens. Ukraine-Krieg plus Rohstoffkrieg: In Putins Kopf war beides längst zusammengebracht und zusammen gedacht worden.

Schon seit Jahrzehnten kreisten die Gedanken des gelernten Geheimdienstoffiziers um das immer Gleiche: Wie kann Moskau nach dem Zerfall der Sowjetunion sein Herrschaftsgebiet wieder größer machen? Und wie lassen sich zu diesem Ziel Gas und Öl als Waffe gegen den Westen einsetzen?

  • Den Mauerfall 1989 und das Ende der Sowjetunion empfand Putin, damals KGB-Agent in Dresden, nach eigenem Bekunden nicht als befreiend, sondern als demütigend. Schon in dieser Zeit wuchs bei Putin der düstere Wille, die Geschichte eines Tages zurückzudrehen.
  • Putins Doktorarbeit, Ende der Neunzigerjahre unter obskuren Umständen verfasst, nahm bereits die politische Bedeutung von Öl und Gas in den Blick. 1999 beschrieb Putin in der Zeitschrift des Petersburger Bergbau-Instituts in einem geopolitischen Fachartikel Russlands Rohstoffe als „Grundlage für die militärische Macht des Landes“.
  • Lange vor dem Einmarsch hatte Putin die Ukraine offen zum Feind erklärt. Im Juli 2021 veröffentlichte Putin seinen Aufsatz „Zur historischen Einheit von Russen und Ukrainern“, in dem er die Existenz eines eigenständigen ukrainischen Staats infrage stellte.

Doch trotz dieses zwei Jahrzehnte langen Anlaufs machte Putin, als er im vorigen Jahr zur Tat schritt, Fehler über Fehler. In fünf zentralen Fragen unterlag der russische Präsident gravierenden Irrtümern.

1. Putins Gas-Irrtum

Im Sommer 2022 drehte Putin den Westeuropäern den Gashahn ab. Er glaubte, dies werde Unruhe und Panik in den EU-Staaten schaffen – und am Ende die politische und militärische Unterstützung für die Ukraine kollabieren lassen.

Die EU-Staaten behielten aber die Nerven. Und die Märkte zeigten, wie viel sich in kurzer Zeit verändern kann, wenn hohe Preise den Anstoß dazu geben. Plötzlich floss mehr Gas aus anderen Gegenden, Speicher wurden gefüllt, LNG-Terminals entstanden, wo vorher keine waren, Privatleute und Wirtschaftsführer entdeckten ungeahnte Einsparmöglichkeiten.

Ergebnis: Die Gaspreiskurve flachte sich wieder ab – und lag am Ende des Jahres, mitten im Winter, auf Vorkriegsniveau.

„Putin hat uns bewiesen, dass etwas möglich ist, was wir selbst zuvor nicht für möglich gehalten haben“, sagt Janis Kluge, Russland-Experte der Stiftung Wissenschaft und Politik.

Seinen eigenen Interessen dagegen habe Putin mit dem Zudrehen des Gashahns massiv geschadet. „Der russische Staatschef hätte seine Karten intelligenter spielen können“, sagt Kluge dem RedaktionsNetzwerk Deutschland. „Bei fortgesetzten Gaslieferungen, etwa nach Deutschland, wäre nach und nach die Uneinigkeit in EU und Nato gewachsen. So aber, mit dem Zwang zum Komplettausstieg, entstand das für den Westen ideale Bild einer beeindruckenden Gemeinschaftsleistung.“

2. Putins Deutschland-Irrtum

Jahrelang arbeitete Putin auf eine Sonderbeziehung zwischen Moskau und Berlin hin. Die Nordstream-Pipelines durch die Ostsee, vorbeigeführt an der Ukraine und an Polen, sollten Ausdruck dieser Politik sein. Putins Kalkül war: In einem Konflikt um die Ukraine würde Deutschland ausbrechen aus einer gegen Russland gerichteten politischen und militärischen Koalition – und sich weiter mit russischem Gas versorgen lassen.

Doch es kam anders. Bundeskanzler Olaf Scholz und seine Ampelkoalition verabschiedeten sich von diesem deutsch-russischen Sonderweg.

Doch damit nicht genug. Putin hatte, wie sich zeigt, nicht nur die neue Linie Deutschlands in der Energiepolitik falsch eingeschätzt. Er lag auch daneben, was die militärischen Reaktionen Berlins auf seinen Angriffskrieg angeht. Deutschland zeigte dem Kreml klare Kante – und überraschte Moskau mittlerweile gleich mehrfach.

  • Im Zuge der Nothilfe für die Ukraine, ethisch geboten und völkerrechtlich zulässig, lieferte die Bundesregierung erstmals schwere Waffen in ein Kriegsgebiet.
  • Bei den Anhängern und Anhängerinnen von Union, SPD, Grünen und FDP gibt es breite Mehrheiten für diesen Kurs, auch im Fall der wochenlang besonders kontrovers diskutierten Lieferung des Kampfpanzers Leopard 2.
  • Bei den Anhängerinnen und Anhängern der einst pazifistischen Grünen ist heute der Anteil derer, die die Leopard-2-Lieferung befürworten, höher als in allen anderen Parteien.
  • Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD), der an einem europäischen Panzerbündnis für die Ukraine arbeitet, wurde zum neuen Star im deutschen Politikbetrieb: Einen Monat nach Amtsantritt ist er laut Politbarometer Deutschlands beliebtester Politiker.

Diese Punkte zeigen: Putin täuschte sich mit Blick auf Deutschland nicht nur in irgendeinem Detail. Er verkannte die grundlegende Wehrhaftigkeit der deutschen Gesellschaft.

Hatten ihm prorussische Aktivistinnen und Aktivisten von AfD und Linkspartei den Blick auf die deutsche Mehrheitsgesellschaft verstellt? Blickte er zu sehr auf Ostdeutschland? So oder so ist diese Fülle von Fehleinschätzungen kein Ruhmesblatt für einen langjährigen Geheimdienstmann.

Nicht nur in Deutschland geht für Putin gerade vieles schief. Im Norden Europas verschieben sich durch den im Sommer bevorstehenden Nato-Beitritt Finnlands und Schwedens auf Dauer die Gewichte zulasten Moskaus. In Italien hoffte Putin auf mehr Macht für den moskautreuen Milliardär Silvio Berlusconi – doch Premierministerin Giorgia Meloni setzt derzeit in der neuen Rechtsregierung einen harten Pro-Kiew-Kurs durch. In Tschechien forderten Pro-Putin-Populisten auf den Straßen, die Sanktionen gegen Russland ebenso zu beenden wie die Hilfen für die Ukraine – die Präsidentschaftswahl Ende Januar gewann jedoch der EU-freundliche Petr Pavel, ein früherer Nato-Offizier und dezidierter Kritiker Putins.

3. Putins Irrtum über das eigene Militär

Putin schickte eine Truppe an die Front, der es an allem fehlte. Die russischen Soldaten hatten weder die hinreichende Motivation noch die nötige Ausstattung und Ausbildung für diesen Krieg. Der Einmarsch in die Ukraine führte zu immer neuen Peinlichkeiten für die jahrzehntelang als ruhmreich beschriebene russische Armee.

  • Der russische Aufmarsch Richtung Kiew im März 2022 endete in einem bizarren 60 Kilometer langen Stau. Irgendwann gab es für den Konvoi kein Vor und kein Zurück mehr. Zu den Stauursachen zählten, wie es später inoffiziell hieß, Geld und freies Geleit, das ukrainische „Psychological Operations“-Einheiten russischen Soldaten versprachen, die ihre Fahrzeuge fahruntüchtig zurückließen: Bedingung war ein per Handyvideo nachgewiesener Sabotageakt.
  • Zur niedrigen Kampfmoral kamen technische Schwachstellen. So nutzten russische Panzerkommandanten zur Kommunikation allzu oft zivile Mobiltelefone oder Billigfunkgeräte, die erst abgehört wurden – und dann auch noch als Hilfe bei der digitalen Zielerkundung der Ukrainerinnen und Ukrainer dienten.
  • Als eine ukrainische Gegenoffensive bei Charkiw im September anrollte, ließen russische Soldaten reihenweise ihre Gewehre fallen und wandten sich auf chaotische Weise der Flucht zu, teils in gestohlenen zivilen Autos, teils gar auf Fahrrädern.
  • Ein russischer Panzervorstoß bei Wuhledar im Februar 2023 endete in einem Minenfeld, das im laufenden Geschehen von der ukrainischen Armee ferngelenkt verlegt wurde. Das dabei eingesetzte „Remote Anti-Armor Mine“-System (RAAM) riegelte den russischen Panzern auch den Rückweg ab und führte zu ungewöhnlich hohen Verlusten auf russischer Seite. Westliche Geheimdienste deuteten den Vorgang als einen weiteren Hinweis auf „schlechte Ausbildung“ und „Unerfahrenheit“ der russischen Truppen.

Warum hat Putin all diese Schwächen verkannt? Manche sagen, der russische Staatschef habe sich in den vergangen Jahren einfach nur berauscht an seinen neuen Waffen, etwa seinen „unaufhaltsamen“ Hyperschallraketen oder monströsen nuklearen Riesen-Torpedos. So sei der Blick auf jene Realitäten verloren gegangen, die heute wie zu allen Zeiten einen Landkrieg prägen.

Hinzu kommt, dass Putin mit den russischen Gas- und Ölmilliarden einen militärisch-industriellen Komplex entstehen ließ, den er am Ende selbst nicht mehr durchschaute. Korrupte Generäle und Manager haben offenbar über Jahre hinweg große Summen für sich selbst abgezweigt – und einen guten Ausrüstungsstand einfach nur behauptet.

In Nato-Kreisen ist von einer „Kultur der Unehrlichkeit“ die Rede, die das gesamte russische Militär umschlungen halte: „Die Oberen tun so, als würden sie die Soldaten gut ausbilden und gut behandeln, und die untere Dienstgrade tun so, als würden sie kämpfen.“ Dem Staatschef, selbst ein Meister der Lügen, blieb dieser Missstand verschlossen.

4. Putins Irrtum über die USA

Als im Sommer 2022 kriegsbedingt auch die Benzinpreise und die Lebensmittelpreise auf Rekordniveau kletterten, rieb Putin sich die Hände: US-Präsident Joe Biden, sein wichtigster globaler Gegenspieler, geriet damit wie erhofft innenpolitisch enorm unter Druck.

Tagein, tagaus erinnerte Donald Trump seine Landsleute hämisch an die gute alte Zeit, als in den USA das Benzin noch billig war und in Europa noch Frieden herrschte. Biden, lautete Trumps Vorwurf, habe beides verspielt.

Zugleich gerieten jetzt in den USA, für Putin war das wie gemalt, die Hilfen für die Ukraine ins Gerede. Der republikanische Spitzenpolitiker Kevin McCarthy sagte, man wolle der ukrainischen Regierung „keine Blankoschecks mehr ausstellen“. Politische Beobachterinnen und Beobachter sagten bereits einen Erdrutschsieg der Republikaner bei den Zwischenwahlen zum Kongress am 8. November 2022 voraus.

Der politische Pendelschlag blieb dann aber doch sehr begrenzt: Das Repräsentantenhaus ging bei den Zwischenwahlen zwar knapp an die Republikaner, der Senat jedoch blieb in der Hand der Demokraten. Und noch im Dezember 2022 lotste Biden, nicht faul, den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj nach Washington, zu einer umjubelten Rede vor beiden Kammern des Kongresses.

Der Versuch Putins, durch Inflation und hohe Benzinpreise zu einer politischen Wende in den USA beizutragen, ist – vorerst jedenfalls – gescheitert. Putin verkannte, mit welcher Leidenschaft viele Amerikanerinnen und Amerikaner sich mittlerweile gegen eine Wiederkehr Trumps verwahren: Ihn zu verhindern war vielen wichtiger als der Wunsch, Biden wegen der Preissteigerungen abzustrafen.

Pech für Putin ist auch die inzwischen offiziell erklärte Präsidentschaftskandidatur der Republikanerin Nikki Haley. Die frühere amerikanische Botschafterin bei den Vereinten Nationen macht Trumps Moskaufreundlichkeit nicht mit, sondern senkt mit Blick auf Russland die Hörner wie einst Ronald Reagan.

Als Haley dieser Tage bei einer Wahlveranstaltung in New Hampshire gefragt wurde, warum sie bereit sei, Geld des hart arbeitenden amerikanischen Steuerzahlers zur Unterstützung der Ukraine auszugeben, geriet die 51-Jährige in Schwung: „Es ist kein Krieg um die Ukraine – hier geht es um einen Krieg gegen die Freiheit.“ Und weiter: „Wenn Russland die Ukraine erobert, sind Polen und das Baltikum die nächsten, und dann sehen wir einem Weltkrieg entgegen. Wenn Russland gewinnt, können Sie auch darauf wetten, dass China Taiwan erobert und der Iran die Bombe bekommt.“

Biden sieht es genauso: In der Ukraine wird ganz generell das Prinzip einer regelbasierten Welt verteidigt. Solange fast alle Demokaten und zumindest viele Republikaner darin einig sind, hat Putin schlechte Karten.

5. Putins Irrtum über das Menschliche

Im Winter 2022/23 sollte Westeuropa nach den Plänen Putins eigentlich die Nerven verlieren: Mit völkerrechtswidrigen militärischen Attacken auf zivile Ziele in der Ukraine wollte der Kremlherr eine neue Flüchtlingswelle anschieben. Diese wiederum sollte die EU-Länder an die Grenzen ihrer Hilfsbereitschaft führen, Unmut und Radikalisierung steigern – und ein Ende der Solidarität mit dem angegriffenen Land bewirken.

„Putin testet Europa“, warnte im Herbst 2022 der renommierte Flüchtlingsexperte Gerald Knaus. „Er testet unsere Werte, er testet unsere Solidarität, er testet unsere Institutionen.“ Bis jetzt habe die EU die Herausforderungen bravourös gemeistert. „Aber die wirklich schwierige Runde kommt jetzt im Winter“, sagte Knaus in der ARD-Dokumentation „Vertreibung als Waffe?“.

Inzwischen darf man wohl die Deutung wagen: Der Test wurde bestanden.

Erneut gerät nun eine strategische Fehleinschätzung durch Putin in den Blick. Der russische Präsident hatte nicht auf dem Zettel, dass ein so großer Teil des von ihm gezielt angerichteten Leids von Zivilistinnen und Zivilisten so schnell und so effizient abgefangen und gelindert wird: von anderen Zivilisten.

Alles beginnt damit, dass bereits in der Ukraine selbst die Menschen einander auf oft wunderbare Weise helfen. Aber auch jene, die entnervt sind und vorübergehend im Ausland Schutz suchen, in Polen oder in Deutschland etwa, können hier immer noch auf Verständnis hoffen.

Der Tschekist kennt keine Moral

Die Hilfsbereitschaft hat naturgemäß allerorten etwas nachgelassen nach einem Jahr Krieg. Nur wenige Deutsche aber würden in letzter Konsequenz Mütter und Kinder abweisen, denen russische Truppen gerade die Wohnung weggesprengt haben.

Putin unterschätzt das Gute im Menschen. Auch hier schlägt der alte Geheimdienstmann wieder durch. Putin ist Tschekist: Das erklärt, warum er so trickreich ist – und zugleich so arm, wenn es ans Emotionale geht.

Tscheka ist die Bezeichnung für die russische Geheimpolizei, die seit der Revolution 1917 in Moskau ihr Eigenleben führt. Die Tschekisten schufen ihre eigene Welt und entwickelten ihre eigene Philosophie. „Ihnen ging es niemals um Moral oder Menschlichkeit, sondern allein um Machtausübung“, sagt Militärexperte Nico Lange, bis Ende 2021 Chef des Leitungsstabs im Bundesverteidigungsministerium. Putin habe dieses Denken übernommen und sei zum Beispiel der Meinung, dass man Menschen nur auf zwei Arten motivieren könne, etwas zu tun: indem man ihnen entweder Geld gibt oder ihnen ein Übel androht, im Extremfall den Tod.

Dass aber jemand freiwillig etwas unternimmt, etwa um anderen zu helfen, kommt in Putins Weltbild nicht vor. Deshalb unterschätzte er die menschliche Hilfsbereitschaft.

Auch dass ganze Staaten einen gewissen Nachteil für sich selbst hinnehmen, um etwas zum Gelingen eines guten Ganzen beizutragen, ist Putin fremd. Deshalb unterschätzte er die europäische Solidarität.

Zu allen Zeiten übrigens stützten die Tschekisten ihre Macht auf Angst. In diesem Punkt wird Putins Weltsicht derzeit von niemandem so eindrucksvoll infrage gestellt wie von dem unerschrockenen Selenskyj und dessen auffallend furchtlosem Volk.

Die Liste von Putins Fehleinschätzungen jedenfalls wird immer länger. In Moskau sagt es niemand laut, aber es ist inzwischen offenkundig: Russlands oberster Tschekist hat einen Knick in der Optik. Der Kriegsherr im Kreml nimmt die Welt nicht wahr, wie sie ist.

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