In „Cum-Ex, Milliarden und Moral“ schreibt die Kölner Ex-Oberstaatsanwältin über Täter in teuren Anzügen und ineffektive Behörden. Ein Interview.
Anne BrorhilkerKölner Ex-Staatsanwältin über die Jagd auf Steuersünder

Die ehemalige Oberstaatsanwältin Anne Brorhilker hat jetzt ein Buch über ihre Cum-Ex-Ermittlungen geschrieben.
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Anne Brorhilker war als Kölner Oberstaatsanwältin bundesweit federführend bei der Aufarbeitung des größten Steuerskandals in der deutschen Geschichte: Cum-Ex- und Cum-Cum-Geschäften. 2024 bat sie um ihre Entlassung aus dem Beamten-Verhältnis, um Vorständin der NGO „Bürgerbewegung Finanzwende“ zu werden. Über ihre Zeit als Cum-Ex-Chefermittlerin hat sie jetzt das Buch „Cum-Ex, Milliarden und Moral“ veröffentlicht. Ein Gespräch.
(Die deutlich längere Fassung des Gesprächs können Sie auch als Podcast „Talk mit mit K“ hier im Player oder auf allen gängigen Podcast-Plattformen hören.)
Frau Brorhilker, wann sind Sie zum ersten Mal auf die Verbrechermasche Cum-Ex gestoßen und haben sich gedacht: Hier ist etwas richtig faul?
Die Steuerbehörde hatte meiner Staatsanwaltschaft im Jahr 2013 einen Fall überreicht, in dem es um 460 Millionen Euro Steuererstattung ging. Sie hielten die Auszahlung zurück, weil das Bundesfinanzministerium zu diesem Zeitpunkt Hinweise auf betrügerische Steuererstattungsanträge durch US-Pensionsfonds hatte. Die Akteure auf der Gegenseite waren sehr aggressiv. Sie hatten bereits Dienstaufsichtsbeschwerden und Strafanzeigen gestellt, das ganze Amt und sogar die Sachbearbeiterin persönlich verklagt. Das war sehr ungewöhnlich. Der Fall wurde mir zugeteilt und ich habe mir anhand der Unterlagen abends zuhause eine Skizze mit den einzelnen Schritten gezeichnet. Plötzlich ging mir wie im Comic ein Licht auf.
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Ihre Erkenntnis?
Ich dachte: Das funktioniert ja wie ein Umsatzsteuer-Karussell, nur mit Aktien. Damit kannte ich mich nämlich schon gut aus: Warenkreisgeschäfte, bei denen der Profit allein darauf basiert, dass man sich Umsatzsteuer erstatten lässt, die zuvor gar nicht abgeführt worden war. Dazu gab es auch bereits eine klare Rechtsprechung. Da war mir klar: Das muss bei Aktienkreisgeschäften genauso strafbar und kriminell sein.
Wie sind Sie weiter vorgegangen?
Angesichts der aggressiven Akteure war mir klar, dass wir nicht auf Kooperation hoffen können, sondern klassisch ermitteln müssen, inklusive Durchsuchungen. Das Dumme war nur, dass die Akteure nicht in Deutschland saßen, hier war nur der Schaden eingetreten. Alle Beweisunterlagen waren über den Globus verteilt. Nach Auswertung der Dokumente stellte sich raus: Wir müssen in 14 Ländern durchsuchen – und zwar zeitgleich, damit niemand gewarnt wird.

Oberstaatsanwältin Anne Brorhilker (r.) 2019 im Bonner Landgericht
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Ein irrer Aufwand. Haben Ihre Kollegen Sie nicht für verrückt erklärt?
Definitiv. Man musste ja sämtliche Länder bitten, für uns die Durchsuchungen durchzuführen, erzwingen kann man das nicht. Und so musste ich 280 Durchsuchungsbeschlüsse beantragen, jeweils etwa 25 Seiten lang. Ich war zu der Zeit einfache Staatsanwältin mit einem kleinen Drucker auf dem Tisch, der mit dieser Masse von Papier schlicht überfordert war. Zum Glück hatte das Landeskriminalamt ein Profigerät. Das durfte ich nutzen, stand dann 14 Tage in der Abstellkammer und habe gedruckt, was das Zeug hält. 7.000 Seiten waren es ungefähr, die dann in die Akten geheftet und in mehreren Kartons zum Ermittlungsrichter transportiert werden mussten.
Sie haben eine Ermittlungslawine ausgelöst.
Das stimmt. Allerdings hat es teilweise bis zu zehn Jahre gedauert, bis wir die Beweismittel bekommen haben. Währenddessen haben wir aber Anhaltspunkte für weitere Fälle gefunden, auch weil das Land NRW Datenträger mit weiteren Cum-Ex-Fällen angekauft hatte. Wir haben festgestellt, dass diese Fälle fast alle miteinander verbunden waren. Es waren häufig die gleichen Menschen im Hintergrund, die das alles organisiert haben. Mit wachsendem Ermittlungsdruck kamen die ersten Kronzeugen auf uns zu, mit denen wir sprechen konnten. Sie haben uns genau erklärt, wie die Geschäfte in der Praxis abgelaufen sind. Gestützt auf deren Aussage ist dann die erste Anklage entstanden.
Hausdurchsuchungen bei Drogenhändlern kennt man aus Filmen, wo die schwer bewaffnete Polizei ohne Rücksicht auf den Eigentümer durchsucht. Wie läuft das bei einer Bank?
Für Banken gelten auf dem Papier die gleichen Regeln wie für alle. In der Praxis war das aber meist nicht so, wie ich sehr verblüfft feststellen musste. Bei meiner ersten Bankdurchsuchung war ich nur als Unterstützung dabei. Da haben wir Kaffee mit dem Vorstand getrunken, höflich darum gebeten nachzugucken, ob sie für uns interessantes Material finden und sind wieder gegangen. Mir hat das überhaupt nicht eingeleuchtet, dass man Banken so viel vorsichtiger anfasst als Unternehmen.
Was haben Sie bei Ihren Bankdurchsuchungen dann geändert?
Ich habe gesagt: gleiches Recht für alle. Ich habe genügend Ermittler eingesetzt, um das Gebäude gründlich zu durchsuchen und wirklich jede Schublade aufzumachen, nach jedem Datensatz zu suchen. Das ist bei Banken sehr schwierig, weil sie technisch extrem abgesichert sind. Man stand teilweise vor komplett abgeschotteten Systemen, in die man ohne die Hilfe der Banken einfach nicht reinkam. Außerdem haben die Banken meist behauptet, ihre Daten lägen auf ausländischen Servern und haben und auf den langwierigen Rechtshilfeweg verwiesen.
Ich fand das grenzwertig und habe dann IT-Sachverständige mit spezieller Expertise für Bankentechnik engagiert. Das hat uns viel schlagkräftiger gemacht. Es hat sich dann nämlich herausgestellt, dass diese Angaben der Banken in vielen Fällen nicht stimmten, sondern die Daten sich auch im Inland befanden oder entgegen der Behauptung auch noch nicht gelöscht waren. Die vorangegangenen Angaben der Banken waren dann natürlich immer ein bedauerliches Versehen im Einzelfall.

Sarah Brasack und Anne Brorhilker (r.) beim Interview in der Redaktion des Kölner Stadt-Anzeiger
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Ist es nicht nachvollziehbar, dass Banken ihre Daten gut schützen?
Vor Kriminellen unbedingt. Aber der Staat muss in der Lage sein, Recht durchzusetzen. Insoweit darf es keine faktischen Ausnahmen für Banken geben.
Die Staatsanwaltschaft in Köln hat unter ihrer Leitung rund 120 Cum-Ex-Ermittlungsverfahren eingeleitet und gegen 1700 Beschuldigte ermittelt. Andere hätten vielleicht gesagt: 1200 Beschuldigte tun es auch. Was hat Sie angetrieben?
Nach dem Gesetz haben Staatsanwaltschaften gar nicht die Möglichkeit, selektiv vorzugehen. Nach dem geltenden Legalitätsprinzip müssen bei Vorliegen eines Anfangsverdachts Ermittlungen eingeleitet werden. Nur so viele Verfahren einzuleiten, wie man bequem bearbeiten kann, wäre schlicht unzulässig. Ich habe mich daher geweigert, davor die Augen zu verschließen und wegzusehen. Gleichzeitig war es teilweise sehr mühsam, ausreichende Strukturen aufzubauen, um die Verfahren vernünftig bearbeiten zu können. Und die Gegenseite hat häufig auch viel Wirbel verursacht. Denn im Bereich der Wirtschaftskriminalität hat man es häufig mit anderen Tätern zu tun als in anderen Bereichen.
Was sind das für Menschen?
In der Regel sehr gut ausgebildete, sehr gut in die Gesellschaft integrierte Menschen. Sie werden meist erst im mittleren Alter überhaupt auffällig und haben überwiegend viele Ressourcen, um sich mit allen Mitteln zu wehren. Sie können sich große, teure Anwaltsteams leisten, oft auch noch PR-Berater. Da wird der Gegenwind schnell riesig.
Warum werden solche Männer kriminell?
Viele der Wertpapierhändler, mit denen wir gesprochen haben, waren ursprünglich Mathematiker oder Physiker und sind nach dem Studium von Banken angeworben worden. Sie haben dort oft erst in anderen Bereichen gearbeitet, wollten dann aber in den Trading-Bereich, weil sie den als junge Männer irgendwie cool fanden. Als sie dort auf Cum-Ex-Geschäfte trafen und ein Störgefühl bekamen, entgegneten Kollegen sinngemäß: „Stell dich nicht so an, das machen wir immer schon so, hier verdienst du ein Schweinegeld.“
Und dann wurden die Zweifel beiseitegeschoben?
Genau. Es war einfach verführerisch, so viel Geld zu verdienen und zu den coolen Jungs zu gehören. Sie haben sich gegenseitig schöngeredet, was sie da tun und es oft noch dahingehend umgedeutet, dass sie besonders clever und abgezockt sind. Das war fast wie in einer Subkultur, in der spezielle Regeln gelten. Als sie dann später doch erwischt wurden, war der Aufschlag in der Realität umso härter.
Die Täter waren männlich, die Bankvorstände und die Rechtsanwälte der Täter auch. Hat man Sie überhaupt ernst genommen?
Anfangs sehr oft nicht. Ich bin nicht besonders groß, sah jünger aus, als ich war und bin auch kein lauter Typ. Bei meiner ersten Bankdurchsuchung wurden nur meine männlichen Kollegen mit Handschlag begrüßt. Die dachten wohl, ich bin die Praktikantin. Dazu kommt, dass Beamte in den Augen von Verteidigern ohnehin oft als ein bisschen gemütlich und nicht so fleißig gelten. „Mit denen werden wir schon fertig“ wird dann gedacht. Es wurde immer wieder bewusst darauf angespielt, dass die Fälle doch viel zu komplex und langwierig sind für Behörden.
Sie haben vor einem Jahr Ihre Entlassung als Oberstaatsanwältin beantragt, um bei der Nichtregierungs-Organisation Bürgerbewegung Finanzwende zu arbeiten. Ein radikaler Schritt. Warum sind Sie Ihn gegangen?
Über die Teile, die nicht öffentlich bekannt sind, darf ich nicht sprechen, weil sie der dienstlichen Schweigepflicht unterliegen. Worüber ich aber sprechen kann, ist meine Motivation: Ich habe gemerkt, was es für ein Kraftakt für Behörden ist, derartig komplexe und umfangreiche Wirtschaftsstraftaten zu verfolgen. Eigentlich sollten wir als Staat in der Lage sein, das Recht gleichmäßig durchzusetzen, unabhängig davon, ob sich die Gegenseite teure Anwälte leisten kann oder nicht. Mit den derzeitigen Strukturen in Behörden ist das aber kaum möglich: Wir hatten immer zu wenig Personal, die technische Ausstattung war veraltet, die Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Behörden war in der Praxis schwierig und die Fallbearbeitung dauerte nach Maßgabe der für Behörden geltenden Statistiken viel zu lange.
Klingt nach einem wahnsinnigen Kampf.
Total. Als Staatsanwältin konnte ich das nicht beeinflussen, das war gar nicht meine Rolle. Außerhalb des Beamtenapparats unterliege ich keinen Loyalitätspflichten mehr, kann klar Missstände benennen und Lösungsvorschläge machen in der Hoffnung, dass wir die Bevölkerung mobilisieren und so den erforderlichen Druck erzeugen können, dass die Verwaltung anders aufgestellt wird. Denn wie die Vergangenheit zeigt: von alleine ändert sie sich nicht.
In Deutschland ist Wirtschaftskriminalität besonders einfach, sagen Sie. Woran liegt das?
Erstens am föderalistischen Behördengeflecht. Wir haben zwar viele engagierte Personen mit viel Wissen an vielen Stellen in den Behörden - aber die kennen sich alle gar nicht. Ein systematisches Wissensmanagement existiert derzeit nicht. Und selbst wenn Behörden im Einzelfall einmal zusammenarbeiten, ist der Austausch schon wegen technischer Hürden schwer: Datenschutzbeauftragte an den verschiedensten Stellen treffen völlig konträre Entscheidungen, so dass es keine einheitliche IT-Infrastruktur gibt. Mir war es zum Beispiel nicht möglich, mit meinen vielen Ermittlungsgruppen in verschiedenen Bundesländern auch nur eine E-Mail an alle zu schreiben, insbesondere keine mit Anhängen. Videokonferenzen waren wegen völlig unterschiedlicher Vorgaben häufig nicht möglich. So kann man der hochprofessionell aufgestellten Gegenseite kaum etwas entgegensetzen.
Und zweitens?
Das in vielen Personalentwicklungskonzepten vorgeschriebene Rotationsprinzip ist absolut kontraproduktiv für den Aufbau von Fachkompetenz. Wir bilden typischerweise Generalisten aus, aber keine Spezialisten, den es für einen Bereich wie Wirtschaftskriminalität aber dringend braucht. Solange das nicht geändert wird, müssen Beamte sogar Nachteile für ihre Karriere hinnehmen, wenn sie länger in diesem Bereich bleiben, um genügend Fachkompetenz aufzubauen. Und drittens wäre da noch die in Deutschland besonders starke Finanzlobby, die ganz massiv Lobbyarbeit betreibt.
Sie warnen die Justiz davor, sich ausnehmen zu lassen wie eine Weihnachtsgans. Was meinen Sie damit?
Wegen des fatalen Ungleichgewichts der Ressourcen auf Seiten der Behörden und auf Seiten der Finanzbranche geht uns wahnsinnig viel Geld durch die Lappen. Dem Staat ist bei Cum-Ex und Cum-Cum ein geschätzter Schaden von etwa 40 Milliarden Euro entstanden. Und der durch Steuerhinterziehung insgesamt verursachte Schäden beträgt geschätzt 100 Milliarden Euro – jedes Jahr!
In Baden-Württemberg ermittelt seit zwölf Jahren ein einzelner Staatsanwalt einen Cum-Ex-Fall mit einem Volumen von 166 Millionen Euro. Ist das so verrückt, wie es klingt?
Absolut. Ich kann mir kaum vorstellen, dass die Staatsanwaltschaft Stuttgart viele Fälle hat, in denen es um einen dreistelligen Millionenbetrag als Schaden geht. Dass ausgerechnet in einem Fall, bei dem solche massiven Schäden entstehen und wo die Sachlage so kompliziert ist, nur so wenig Ressourcen eingesetzt werden, kann ich nicht nachvollziehen. Und die übrigen ehrlichen Steuerzahler sicher auch nicht.



