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Zerstrittene OppositionExil-Russen kämpfen trotz fehlender Unterstützung gegen Putin

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Vereint im Widerstand gegen Putin: Ilja Jaschin (links), Andrej Piwowarow (Mitte) und Wladimir Kara-Mursa (rechts) im August 2024.

Vereint im Widerstand gegen Putin: Ilja Jaschin (links), Andrej Piwowarow (Mitte) und Wladimir Kara-Mursa (rechts) im August 2024.

Russische Demokraten wie Wladimir Kara-Mursa, Marija Aljochina oder Michail Chodorkowski leben im Exil in großer Gefahr – und werden dennoch oft zu wenig wertgeschätzt. Das erinnert an den Umgang mit sowjetischen Dissidenten. Der Europapolitiker Sergey Lagodinsky hält das für strategisch falsch.

Wladimir Kara-Mursa (44) ist ein mutiger Mann. Seit 26 Jahren – also so lange, wie Wladimir Putin mit einer vierjährigen Unterbrechung jetzt russischer Präsident ist – kämpft der gebürtige Moskauer für Demokratie, Vielfalt und Meinungsfreiheit. Anfangs gehörte noch kein allzu großer Mut dazu. Viele in Russland taten das, innerhalb und außerhalb des Parlaments. Irgendwann war das jedoch keine Selbstverständlichkeit mehr, und es gehörte wirklich Mut dazu. Und manchmal regelrechte Todesverachtung, spätestens seitdem Kara-Mursas politischer Mentor und Freund Boris Nemzow 2015 an der Kremlmauer hinterrücks erschossen wurde.

Nach Giftanschlag eine Woche im Koma

Im selben Jahr überlebte Kara-Mursa einen ersten Giftanschlag, lag mit Nierenversagen eine Woche im Koma, überlebte wie durch ein Wunder, verbrachte für die medizinische Rehabilitation einige Monate in den USA. Nach seiner Rückkehr wurde der damals 36-Jährige Anfang 2017 erneut vergiftet, wie Ärzte bei der nötig gewordenen intensivmedizinischen Behandlung feststellten. Recherchen von „Bellingcat“ und „The Insider“ ergaben später, dass wohl Agenten des Geheimdienstes FSB im Umfeld des Demokraten aktiv geworden waren. Vermutlich aufgrund der Vergiftungen leidet Kara-Mursa bis heute an Polyneuropathie, einem Nervenleiden.

Eineinhalb Monate nach dem Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine kam Kara-Mursa in Haft. Zunächst wurde in einem Eilverfahren zu 15 Tagen Freiheitsentzug verurteilt, ein Jahr später wegen Hochverrats zu 25 Jahren Lagerkolonie. Im Mai 2024 verlegte man ihn – bereits von Krankheit schwer gezeichnet – nach Sibirien. Am 1. August 2024 endete die Leidenszeit, Kara-Mursa konnte nach einem umfangreichen Gefangenenaustausch zu seiner Familie in die USA ausreisen – im Austausch unter anderem gegen den berüchtigten „Tiergarten-Mörder” Wadim Krassikow.

Kara-Mursa ist nicht nur ein mutiger, sondern auch ein höflicher Mann. Als er in der vergangenen Woche als Gast in der ZDF-Talkshow „Markus Lanz“ saß und über die Gefährlichkeit des russischen Präsidenten sprach, musste er sich von einem deutschen Politiker belehren lassen: „Mir hat er (Putin) nichts getan.“ Mehr noch: Tino Chrupalla, Chef der in Teilen rechtsextremen AfD, verglich sein Schicksal als „Dissident“ mit jenem der Regimegegner in Russland: „Wir sehen ja, wie in Deutschland mit der AfD umgegangen wird.“

Niemand weiß, was Kara-Mursa in diesem Moment dachte. Ob er an die Schmerzen dachte, die das Nervengift Nowitschok bei ihm verursachte, an die Todesangst in den Lagern oder an den kalten Zynismus eines ihm bisher unbekannten Politikers. Jedenfalls blieb er bemerkenswert gelassen.

Ähnliches hatte eine Woche zuvor Marija Aljochina erlebt, politische Aktivistin und Performancekünstlerin, besser bekannt als Ex-Mitglied von Pussy Riot. Die 37-Jährige hat knapp zwei Jahre in russischen Straflagern gesessen und würde das für mindestens 13 Jahre auch heute noch, hätte sie ihre Heimat nicht kurz nach dem Überfall auf die Ukraine auf verschlungenen Wegen verlassen.

Ebenfalls bei Lanz saß Aljochina der BSW-Gründerin Sahra Wagenknecht gegenüber, die es – anders als der Sachse Chrupalla – zwar unterließ, ihr Schicksal demjenigen russischer Dissidenten gleichzusetzen. Wagenknecht begann aber mit einem langen Monolog über den angeblichen Boykott ihrer Person durch die staatstragenden Medien – um im zweiten Teil der Sendung teils buchstabengetreu Putin-Propaganda abzuspulen. Das zumindest stellte Aljochina fest: „Sie (Wagenknecht) ist eine sehr gefährliche Frau für die Ukraine, weil sie die Propaganda Russlands verbreitet.“

Einer, der russische Oppositionspolitiker im Westen gut kennt, sie oft traf und unterstützt, ist Sergey Lagodinsky, grüner Europaabgeordneter mit Wurzeln in Russland. „Ich glaube, solche Bemerkungen verdienen es nicht einmal, kommentiert zu werden“, sagt er zu Chrupallas Gleichsetzung mit russischen Dissidenten.

Zwar werden russische Exil-Oppositionelle im Westen überwiegend mit großem Respekt behandelt, Politiker der extremistischen Ränder ausgenommen. Doch den freundlichen Bekenntnissen folgen kaum Taten. „So halte ich die Entscheidung der Bundesregierung, humanitäre Visa für Menschen de facto abzuschaffen, die gegen Putin und/oder den Krieg sind, für einen großen Fehler“, sagte Lagodinsky dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). Hier sei man einem Reflex erlegen – dem Reflex, „Migration unter allen Umständen drosseln zu wollen“. Die Bundesregierung verbaue sich damit „eine strategische politische Weichenstellung in die Zukunft“.

Parallelen zu den 1970er- und 1980er-Jahren

Denn auch wenn es nicht danach aussieht, dass sich in Kürze die politische Situation in Russland ändern könnte: 1989/90 hatte das im Ostblock auch niemand erwartet – und de facto über Nacht wurden ehemalige „Staatsfeinde“ wie der polnische Gewerkschaftsgründer Lech Wałęsa oder der tschechische Dissident Václav Havel Präsidenten ihrer Länder.

Lagodinsky sieht gewisse Parallelen zu den 1970er- und 1980er-Jahren, als die politischen Parteien im Westen bis auf Ausnahmen große Berührungsängste zu sowjetischen Dissidenten hatten. „Damals war es ein Einknicken vor der sogenannten Entspannungspolitik, Stichwort ‚Wandel durch Annäherung‘, soweit ich das als Nachgeborener beurteilen kann“, sagt Lagodinsky, der seit 1993 in der Bundesrepublik lebt. „Heute liegt es vermutlich daran, dass die exilrussische Oppositionsszene so unübersichtlich ist.“

Fest steht: Der Tod Alexej Nawalnys in russischer Haft am 16. Februar 2024 hat eine Lücke hinterlassen, die nur schwer zu füllen ist. „Nawalny hatte eine große Glaubwürdigkeit, er war nahbarer, sprach die Sprache der Jungen, war digitalaffin – und vertrat nicht immer klassisch liberale Positionen”, findet Lagodinsky, der jüngst bei einem Treffen der russischen Exilopposition in Brüssel war. „Nawalny hatte mitunter einen Hang zu populärer bis hin zu populistischer Kommunikation, was besonders bei jungen Menschen in Russland verfing”, erklärt der Grünen-Politiker. Den heutigen Vertretern der Exilopposition fehle das.

Beispielsweise sei Kara-Mursa ein sehr kluger und mutiger Mann – aber eher ein Feingeist, der wie ein Außenminister oder Diplomat agiere. Dagegen sei Ilja Jaschin jemand – der heute 42-Jährige wurde am 1. August 2024 nach über zwei Jahren Haft freigetauscht –, „der sich in die Richtung Nawalnys entwickeln kann, der also durchaus Führungsqualitäten hat“, ist Lagodinsky überzeugt. Aber ihm fehle die Struktur, der politische Unterbau. „Etwas, was vor allem Michail Chodorkowski mitbringt: Ressourcen, also das Netzwerk und die finanziellen Möglichkeiten, dazu eine strategische Vision und auch eine gewisse Glaubwürdigkeit.“ Doch genau der letzte Punkt, seine Glaubwürdigkeit, sei gleichzeitig die Achillesferse Chodorkowskis, dem als Ehemaligem immer wieder auch aus oppositionellen Kreisen vorgeworfen wird, das System Putin ermöglicht zu haben oder gar ein Teil von ihm gewesen zu sein.

Dennoch sei der 62-jährige Chodorkowski, der von seiner Verhaftung 2003 bis zu seiner überraschenden Freilassung 2013 zehn Jahre in sibirischen Straflagern eingesperrt war, nach der Zerschlagung von Nawalnys Stiftung für Korruptionsbekämpfung (FBK) der am besten aufgestellte Putin-Kritiker im Ausland.

Erfolg für Exilopposition im Europarat

Gut zwei Dutzend Oppositionelle sind im „russischen Antikriegskomitee“ organisiert, das kurz nach dem Beginn des Krieges gegen die Ukraine im Februar 2022 von prominenten Persönlichkeiten aus Wissenschaft, Wirtschaft und Kultur gegründet wurde. Mit einem ersten außenpolitischen Erfolg: Erstmals soll die demokratische Exilopposition Russlands bei der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (PACE) vertreten sein. Was Moskau umgehend mit der Einleitung von Verfahren „wegen Organisation oder Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung“ gegen führende Vertreter beantwortete.

Neben den oben genannten Köpfen gehört auch der ehemalige Schachweltmeister Garri Kasparow (62) dazu. Auch er war ein enger Verbündeter von Nemzow, verließ allerdings aus Angst um sein eigenes Leben bereits 2013 Russland und lebt heute überwiegend in New York. Kasparow ist der vielleicht kompromissloseste Kritiker des Putin-Regimes, hat aber durch seine lange Abwesenheit und privilegierte Stellung wegen seiner globalen Prominenz nur noch wenig Bezug zur Alltagsrealität der russischen Gesellschaft.

Alle vereint, dass sie das System Putin und den Krieg ablehnen. Doch immer wieder werden auch Unstimmigkeiten und Zerwürfnisse bekannt. „Was sie trennt, ist nicht politisch oder ideologisch fundiert“, sagt Lagodinsky. „Es geht vor allem um die Vorgeschichte einiger Vertreter wie eben Chodorkowski.“ Es gebe jedoch auch unterschiedliche Wertungen, was die russische Perspektive, die russische Mitverantwortung für die derzeitige Katastrophe betrifft. Lagodinsky: „Ein Teil dieser Oppositionspolitiker betont, Russland sei de facto ein in einer Art Staatsstreich übernommenes Land, also mehr oder weniger auch Opfer.“

Das wiederum stoße bei anderen Oppositionellen auf Kritik und werde auch in den baltischen und anderen osteuropäischen Ländern anders gesehen. „Da gibt es keine Zweifel an der Mitschuld der russischen Gesellschaft an Krieg und Kriegsverbrechen“, unterstreicht Lagodinsky.

In aktuellen Umfragen – stets unter großem Vorbehalt zu betrachten – sprechen sich noch immer 74 Prozent der Russinnen und Russen für den Krieg (der im Land nicht so genannt werden darf) gegen die Ukraine aus. „Ich habe vergangene Woche Menschen aus Russland getroffen, die unter höchster Gefahr oppositionelle Arbeit leisten und sich gegen den Krieg engagieren. Es gibt sie also noch“, sagt der Europaabgeordnete. „Es ist der Rest von Russlands Gewissen, der Hoffnung macht.“ Lagodinskys Appell: „Unsere geringste Aufgabe wäre es, sie zu unterstützen – und sie nicht ihrem Schicksal zu überlassen.“