Aufnahmen aus der FlutnachtPolizeivideos bringen Landesregierung in Bedrängnis

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Ahrtal Juli 2021 100722

Altenahr am 19. Juli 2021 

Mainz – Lange Zeit galt Roger Lewentz als wichtigste Stütze im rheinland-pfälzischen Kabinett von Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD). Auf den Landesinnenminister konnte sich die Regierungschefin verlassen. Zudem hielt er als Landesparteichef die Genossen in der Mainzer Politarena im Zaum. Doch nun wackelt Dreyers mächtiger Paladin. Gut ein Jahr nach der Flutwelle an der Ahr vom 14. auf den 15. Juli mit 134 Toten verwickelt sich Lewentz zunehmend in Widersprüche.

Bei seinem zweiten Auftritt im parlamentarischen Untersuchungsausschuss vor einer Woche hatte Lewentz beteuert, dass man erst am Morgen des 15. Juli über ein erstes, belastbares Lagebild vom Ausmaß der Hochwasserströme verfügte. Mit dieser Verteidigungsstrategie versuchte die Landesregierung die Vorwürfe der Opposition abzuwehren. Vor allem die CDU und die AfD halten der Landesregierung ein Komplettversagen in der Flutnacht vor.

Menschen leuchten von Hausdächern

Zunehmend erhält die Verteidigungslinie der Landesregierung Risse. So bringen Videos von Polizeihubschraubern zwischen 22.15 und 22.42 Uhr am 14. Juli Innenminister Lewentz in Erklärungsnöte. Angesichts erster alarmierender Meldungen hatte ein Mitarbeiter seines Lagezentrums die Helikopter der Koblenzer Polizei losgeschickt.

Die Piloten sollten Videos aus dem Flutgebiet fertigen und damit zu einem umfassenden Lagebild beitragen. Die Aufnahmen zeigen dramatische Szenen. Menschen leuchten auf Hausdächern mit Taschenlampen hilfesuchend den Hubschrauber an, die Ahrfluten reißen Autos und Häuser mit sich. Der Pilot erklärt später, man sei wieder abgedreht, weil man keine Seilwinden an Bord hatte.

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Roger Lewentz vor dem Untersuchungsausschuss

Die Videos über die dramatische Lage erreichten allerdings nie das Lagezentrum im IM. Laut Darstellung eines Mitarbeiters im Untersuchungssauschuss habe man sich die Aufnahmen deshalb auch nicht ansehen können. Wo die Videos gelandet sind, wusste der Zeuge nicht zu sagen. Einzig einige verwackelte Luftbilder aus dem Eifelort Schuld liefen im Lagezentrum ein. Die Fotos zeigten zwar ein „starkes Hochwasser“, allerdings deutete seiner Aussage zufolge nichts auf eine katastrophale Sturzflut hin.

Dabei hatte ein Pilot dem Lagezentrum berichtet, dass es schlimm aussähe, viele Häuser stünden bis zum Dach im Wasser. Doch die Aussage reichte den IM-Mitarbeitern nicht aus, um einzugreifen. Die Videos wurden nicht angefordert. Und so will der Innenminister nach eigenen Angaben nur per Mail aus seinem Büro von eingestürzten Häusern in Schuld erfahren haben. Erst kurz vor Mitternacht erreichten ihn erste Informationen über mögliche Todesopfer.

Roger  Lewentz in der Flutnacht: „Liebe Malu, die Lage eskaliert.“

Dann dauerte es noch eine weitere Stunde, ehe der SPD-Politiker erfolglos versucht, die Ministerpräsidentin anzurufen. Per SMS teilt Lewentz ihr nachts mit: „Liebe Malu, die Lage eskaliert.“ In Schuld seien sechs Häuser eingestürzt. „Es kann Tote geben/gegeben haben. Unsere Hubschrauber flogen drüber, bekamen Lichtzeichen mit Taschenlampen, konnten aber nicht runtergehen.“

Dreyer reagierte allerdings erst am nächsten Morgen auf die Info, und auch Lewentz ging offenbar um zwei Uhr ins Bett. Derweil rauschte die Flut von der Oberahr den Fluss bis nach Sinzig hinunter. Die meisten Opfer starben in der Nacht.

Dramatische Aufnahmen hinter verschlossener Tür

Mehr als ein Jahr sollte vergehen, ehe die brisanten Hubschrauber-Videos der Polizei Koblenz völlig überraschend im Mainzer Untersuchungsschuss auftauchten. Hinter verschlossenen Türen sahen sich die Parlamentarier des Gremiums vergangenen Freitag die dramatischen Aufnahmen an. Mit dem Hinweis auf den Persönlichkeitsschutz der abgebildeten Flutopfer schloss der Vorsitzende Martin Haller (SPD) die Öffentlichkeit aus.

Innenminister Lewentz zeigte sich bei seiner erneuten Befragung überrascht. Bisher habe er die Clips noch nicht gesehen. Auf die Frage des CDU-Obmannes Dirk Herber, ob er an jenem Abend des 14. Juli Kenntnis von den Inhalten der Videos gehabt habe, wich der Minister aus: „Ich habe ja diese SMS an die Ministerpräsidentin geschrieben. (…) habe darauf hingewiesen.“

Seinerzeit habe er lediglich die Fotos gesehen. Auch habe man ihn über die Schilderungen der Piloten aus der Hubschrauberstaffel informiert, über die „ganz schlimmen Bilder“, insofern habe er das „was ich wusste zusammengefasst und wiedergegeben“. Allerdings geschah in jener Flutnacht nichts weiter, der Minister fragte auch nicht bei den Piloten nach. Das Land richtete keinen Krisenstab ein.

Opposition wittert falsches Spiel der Landesregierung

Im Ausschuss beharrt Lewentz darauf, dass eine Übernahme der Einsatzleitung nicht „ohne Verluste und Abstriche“ möglich gewesen wäre. Zumal kein vollständiges Lagebild vorgelegen habe.

Die Opposition zumindest wittert ein falsches Spiel der Regierungsparteien im Untersuchungsausschuss. Schließlich standen die brisanten Videos aus dem Polizeihubschrauber bereits im Oktober 2021 auf der Liste der Beweismittel. Doch die Bewegt-Bilder leiteten weder das Polizeipräsidium in Koblenz noch das Innenministerium weiter. Begründung: Angeblich habe man sie als für „nicht wesentlich“ für die parlamentarischen Nachforschungen gehalten.

Der AfD-Obmann Michael Frisch hatte allerdings weitere Akten für den Ausschuss angefordert. In den neuen Konvoluten stießen die Abgeordnete auf einen USB-Stick mit Hubschraubervideos. Frisch sprach von einer Behinderung der parlamentarischen Aufklärungsarbeit.

Baldauf findet Lewentz' Rücktritt „unausweichlich“

In einer Mitteilung erklärte das Ministerium hingegen: Dem Innenministerium sei das Vorhandensein der Videoaufzeichnungen erst seit dem 29. August 2022 bekannt. Damit bleibt weiterhin unbeantwortet, warum der Minister auch noch fast einen Monat später nichts über die bewegten Bilder wusste.

Für CDU-Fraktionschef im Landtag, Christian Baldauf, ist der Rücktritt des Innenministers „unausweichlich“. Es sei klar gewesen, dass Lewentz vom Ernst der Lage gewusst habe. „Er wusste also, dass sich eine Katastrophe abspielt und hätte entsprechend handeln müssen.“

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Die Staatsanwaltschaft Koblenz, die seit gut einem Jahr gegen den damaligen Landrat Jürgen Pföhler (CDU) von Ahrweiler und dessen Chef des Krisentabs wegen fahrlässiger Tötung durch Unterlassen ermittelt, wurde ebenfalls nicht über die Existenz der Hubschrauber-Aufnahmen informiert.

Anfang der Woche forderte man die Clips an. Oberstaatsanwalt Dietmar Moll bekundete, dass man nun klären müsse, warum das Innenministerium erst jetzt seiner Behörde die Aufnahmen übersandt habe. Die Strafverfolger wollen nun prüfen, ob man die Ermittlungen ausweiten müsse.

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