„Zustand alarmierend“In NRW fehlen 6000 Anfängerkurse für Schwimmunterricht

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Schwimmunterricht

Kinder bei einem Aktionstag zum Schwimmunterricht für Viertklässler

Düsseldorf/Duisburg – Ohne Warteliste geht für Schwimmanfänger bei nahezu allen Vereinen in Nordrhein-Westfalen schon lange nichts mehr. Schon vor der Corona-Pandemie mussten Eltern viel Geduld aufbringen, um einen Platz für ihr Kind zu ergattern. Doch jetzt sei der Zustand „alarmierend“, sagt Marc Sandmann, Referent beim Schwimmverband NRW in Duisburg.

Fast 18 Monate ohne Schwimmunterricht in Schulen und Vereinen haben das System zusammenbrechen lassen. Der Deutsche Schwimmverband schätzt den bundesweiten Bedarf auf 30 000 Anfängerkurse. Die werden in 95 Prozent der Fälle werden für Kinder gebucht. Für NRW dürften das nach vorsichtigen Schätzungen 6000 Kurse sein. Über genaue Daten verfügt der Landes-Schwimmverband nicht, weil nicht alle Vereine die Abfragen zuverlässig beantworten.

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„Wir wollen nicht groß rumjammern, aber das können wir in den nächsten drei bis fünf Jahren gar nicht aufholen“, so Sandmann. Die Pandemie habe ein Problem verschärft, das seit fast zwei Jahrzehnten schwele und nie strukturell angegangen worden sei. „Der Zustand der Ausbildung ist alarmierend. Dafür gibt es ein ganzes Bündel an Ursachen.“

Es fehlt an allem. An Schwimmbädern und anderen geeigneten Wasserflächen, an qualifiziertem Personal „gerade im Fach Sport an den Schulen, an Schwimmvereinen, die ihren Schwerpunkt nicht nur auf den Leistungssport legen, an Politikern, die endlich eine Lobby für das Schwimmen schaffen müssen“, sagt Sandmann. „Natürlich müssen wir auch die Eltern wieder mehr in die Pflicht nehmen.“

Seepferdchen reicht nicht

Das alles könne nur Schritt für Schritt erfolgen und auf diesem Weg dürfe man bestehende Strukturen nicht auseinanderreißen, sagt Sandmann. Ein paar hoffnungsvolle Ansätze gebe es bereits. „Immer mehr Kommunen versuchen, mit den Vereinen zu kooperieren, damit die Lehrer zusätzliche Unterstützung im Schwimmunterricht bekommen und man so die Schwächeren gesondert betreuen kann.“ Solche Modelle seien in Großstädten wie Köln, Duisburg und Essen erprobt, auf dem Land aber kaum umzusetzen, weil es dort zu wenige Vereine gibt.

Wie es um die Schwimmfähigkeit von Grundschulkindern in NRW bestellt, weiß auch im Schulministerium keiner genau. Im Juni 2019 hatte Schulministerin Yvonne Gebauer (FDP) deshalb einen auf drei Jahre angelegten Aktionsplan „Schwimmen lernen 2019 bis 2022“ vorgestellt.

Am Ende der Grundschulzeit sicher schwimmen

Sein Ziel: Jedes Kind soll am Ende der Grundschulzeit, spätestens aber nach Ablauf der sechsten Klasse, sicher schwimmen können. Mindestens eine Schulstunde Schwimmen mit 30 Minuten Wasserzeit pro Woche sah der Plan vor. In der Sekundarstufe I sollte Schwimmen weiterhin zum Pflichtprogramm des Sportunterrichts gehören. Ende 2021 war eine erste Erhebung über die Fortschritte vorgesehen.

Die Pandemie hat das alles über den Haufen geworfen. Immerhin hat sich das Programm „NRW kann schwimmen“ nach Angaben des Ministeriums im ersten Jahr bewährt. Immer mehr Kinder hätten daran teilgenommen. „Die steigenden Teilnehmerzahlen sprechen dafür, dass wir auf einem guten Weg sind“, sagt Staatssekretär Mathias Richter. Von den Beschränkungen zur Eindämmung der Corona-Pandemie waren und sind auch Schwimmkurse betroffen. Deshalb setzen wir uns jetzt umso mehr dafür ein, dass die Schwimmfähigkeit der Kinder wieder verbessert und so viel Schwimmunterricht angeboten werden kann wie möglich.“ Die Erhebung solle nun im Schuljahr 2021/22 nachgeholt werden.

So lange müssen sich die Experten mit den Ergebnisse einer Forsa-Umfrage zufriedengeben, die im Juni 2017 von der Deutschen Lebens-Rettungs-Gesellschaft (DLRG) in Auftrag gegeben wurde. Danach sind 59 Prozent der Zehnjährigen keine sicheren Schwimmer, erfüllen also nicht die Disziplinen des Jugendschwimmabzeichens in Bronze, die früher „Freischwimmer“ hieß.

77 Prozent der Grundschüler hatten zwar das „Seepferdchen“ erworben, doch unter Experten, Sportwissenschaftlern und Ausbildern ist unumstritten, dass die Prüfungsanforderungen zu gering sind, um von einem sicheren Schwimmer zu sprechen. Das sei lediglich um eine Bescheinigung dafür, dass sich das Kind auf einer Strecke von 25 Metern über Wasser halten kann, so DLRG-Präsident Achim Haag.

Gestützt werden diese Zahlen durch eine Untersuchung der Universität Bielefeld, die zwar schon 15 Jahre alt ist, aber nach Auffassung von DLRG-Sprecher Marc Sandmann an Aktualität nicht eingebüßt hat. Für die Studie stellten die Bielefelder Sportwissenschaftler 1700 Fünftklässlern in NRW fünf Aufgaben: vom Startblock springen, 25 Meter in Bauch- und Rückenlage schwimmen, an der Oberfläche schweben und dann unter Wasser kontrolliert ausatmen, im Wassergleiten sowie tauchen und sich dabei orientieren.

Nur 30 Prozent der Fünftklässler schafften alle Aufgaben. Neun Prozent konnten keine Aufgabe, 19 Prozent nur eine oder zwei Aufgaben bewältigen, zusammen also fast 30 Prozent. Für diese Schüler sei „ein besonderer Förderbedarf“ anzunehmen, heißt es in der Studie. Sie lägen mit ihrer Schwimmfähigkeit weit unter dem, was in dem Alter als selbstverständlich vorausgesetzt werde.

Suche nach Schwimmflächen

Der Schwimmverband NRW ist fest entschlossen, nicht länger an den Symptomen herumzudoktern, sondern die Strukturen zu verändern. Ein wichtiger Schritt beim Management von Wasserflächen ist das Projekt „Bäderleben“ der Hochschule Koblenz und des Bundesinstituts für Sportwissenschaft, das im November 2020 mit einer Online-Datenbank an den Start gegangen ist. „Da wird alles erfasst, was größer als ein Planschbecken und für die Schwimmausbildung von Kindern geeignet ist“, sagt Sandmann. „Therapiebecken in Kliniken, Hotelpools, die klassischen Schwimmbäder, Spaßbäder, Freibäder, Naturbäder.“ Die Datenbank werde von der Community, den sogenannten Badpaten, sorgfältig gepflegt. Im zweiten Schritt müsse es dann gelingen, die verschiedenen Betreiber und Träger unter einen Hut zu kriegen, um die Bäderversorgung für Grundschulkindern sicherzustellen und die Schwimmausbildung auf allen Ebenen langfristig zu fördern.

Kurzfristig, und damit meint Marc Sandmann den Beginn des neuen Schuljahres, müssten sich alle irgendwie darauf einstellen, die wenigen Ressourcen möglichst effizient einzusetzen. Es sei fraglich, ob überhaupt alle Bäder wieder sofort öffnen werden und unter welchen Hygieneauflagen die Kurse stattfinden können. „Volle Gruppenstärken wird es wohl nicht geben“, so Sandmann.

Und was wird aus dem Schwimmunterricht an den Schulen, der im Corona-Jahr ausfallen musste? Ob der noch nachgeholt werden können, „wenn bereits zeitgleich ein neuer Jahrgang Schwimmunterricht planmäßig erhalten soll, wird davon abhängen, ob die Schulträger mehr bzw. ausreichend Wasserflächen und Unterrichtszeiten in Schwimmstätten zur Verfügung stellen können“, teilt das NRW-Schulministerium mit.

Vermisste Mädchen wohl ertrunken

Am Wochenende wurden in der Waal, so heißt der Mündungsarm des Rheins in den Niederlanden, zwei Leichen angespült. Ein DNA-Test soll letzte Gewissheit darüber bringen, ob es sich dabei um zwei junge Mädchen (13, 14) handelt, die in Duisburg beim Baden im Rhein von der Strömung mitgerissen wurden. Wenige Tage zuvor hatte eine 17-Jährige das gleiche Schicksal ereilt. Am Fühlinger See in Köln mussten in den vergangenen Tagen zwei Kinder (6 und 8) und am Samstag ein 24-Jähriger reanimiert werden.

Am Sonntag hat die DLRG am Fühlinger See gemeinsam mit der Feuerwehr den Medien bei einer Übung gezeigt, wie man einen Ertrinkenden aus dem Wasser rettet. Im vergangenen Jahr zählte die Kölner Feuerwehr 47 Einsätze, bei denen drei Menschen starben. In diesem Jahr musste sie bereits elf Menschen retten.

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