„Kessel von Mariupol“Wie Putin Krieg gegen die ukrainische Bevölkerung führt

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9. März: Eine Ukrainerin nach dem russischen Beschuss eines Krankenhauses in Mariupol.

Kiew/Mariupol – Belagerung, Bombenhagel und kein rettender Ausweg: Die Hilferufe aus der ukrainischen Hafenstadt Mariupol - Heimat von mehr als 400.000 Menschen - werden dramatischer. Mit Besorgnis wird international beobachtet, wie Russland nach seinem stockend begonnenen Angriffskrieg nun die Kämpfe umso brutaler in bewohnte Gebiete trägt. Der Kriegsberichterstatter des russischen Staatssenders RT, Semjon Pegow, bezeichnet die Einschließung als „Mariupoler Kessel“.

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Auch im Westen der Ukraine wurden Angriffe am Wochenende verschärft. Ein Ziel war der Militärübungsplatz Jaworiw rund 15 Kilometer von der polnischen Grenze entfernt, wo es Tote und Verletzte gab. Auf der Militärbasis arbeiteten vor dem Krieg Nato-Ausbilder. Vor dem Raketenangriff hat Russland bereits gedroht, westliche Waffenlieferungen an die Ukraine angreifen zu wollen.

Der Krieg näherte sich damit am Sonntag der vermeintlich sicheren westukrainische Metropole Lwiw (Lemberg), und auch die Hauptstadt Kiew wird von russischen Truppen verstärkt in die Zange genommen.

Menschenrechtler zunehmend besorgter

„Wie weit werden russische Truppen in der Ukraine gehen“, fragte schon vor Tagen der Chef der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch, Kenneth Roth, besorgt. „Das russische Militär hat in der Vergangenheit auf solchen Widerstand mit schweren Verstößen gegen das Kriegsvölkerrecht reagiert, darunter auch vorsätzliches Vorgehen gegen Zivilisten, die Ziel von willkürlichen und unverhältnismäßigen Angriffen waren.“

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Eine Explosion ist in einem Wohnhaus zu sehen, nachdem ein Panzer der russischen Armee in Mariupol geschossen hat.

Russland hat die Ukraine am 24. Februar angegriffen. Mehrere Metropolen sind jetzt von russischen Truppen eingekreist - Lebensmittel, Heizwärme und Elektrizität werden knapp. Zerstörungen durch Granatangriffe und einschlagende Raketen nehmen zu, die Zahl der Toten wächst.

„Der Plan Putins und seiner Generäle ist nicht aufgegangen. Das heißt, sie müssen jetzt anders agieren, um zum militärischen Erfolg zu gelangen“, sagt der Militärexperte Michael Karl, der sich als Forscher der Bundeswehr-Denkfabrik GIDS mit Russland und Osteuropa befasst.

Er verweist auf die russische Kriegsführung in Syrien und sieht Ähnlichkeiten, wie die Auswahl der Ziele. „Mariupol wird wahrscheinlich als Fanal dienen. Wir gehen davon aus, dass diese Stadt eine Art Exempel sein wird, wo mit Bombardements und Raketen- und Artilleriefeuer sowie einer Einkesselung die Zivilbevölkerung terrorisiert und die Stadt vernichtet werden“, warnt er.

Werden ukrainische Städte zu einem zweiten Aleppo oder Grosny?

Nicht nur auf das syrische Aleppo, auch auf die tschetschenische Hauptstadt Grosny kann man verweisen. Sie galt als eine der am schwersten zerstörten Städte weltweit, war aber auch Schauplatz von heftigsten Verlusten einer russischen Panzertruppe, die unzureichend vorbereitet und mit Wehrpflichtigen eingesetzt wurde.

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Ein ukrainischer Soldat in Mariupol

„Wenn Sie einen Infanteristen fragen: Das Schlimmste, was es für ihn gibt, dann ist es der Orts- und Häuserkampf. Hinter jeder Tür, hinter jeder Mauer lauert der Feind. Versteckte Ladungen und Hinterhalte. Wer da rein will, der muss hervorragend ausgebildet sein“, sagt Karl. „Aber der, der es verteidigt, der muss es nicht. Ihm reicht oftmals der Wille, die entsprechende Bewaffnung und nicht zuletzt die Ortskenntnis.“ Wenn es Plan der Russen sei, im Orts- und Häuserkampf die Großstädte zu erobern, „dann werden sie hohe Verluste erleiden“.

Kiew weiterhin im russischen Fokus

Für die russischen Truppen sei Kiew weiter der eigentliche Schwerpunkt, sagt der Militärexperte. Wenn Kiew fallen sollte, werde der Strom Dnipro - der aus Belarus kommend durch die Ukraine ins Schwarze Meer fließt - als eine Art natürliche Grenze einen ganz wichtigen und nicht nur symbolischen, sondern auch geostrategischen Wert für die weitere Verteidigung der Ukraine haben.

Charkiw Wohnhaus

Ein Wohnhaus in der umkämpften ukrainischen Charkiw wurde durch russische Angriffe zerstört.

Eine Frage ist, wie lange das sanktionierte Russland diesen Krieg moralisch und auch wirtschaftlich durchhalten kann. Die GIDS-Wissenschaftler gehen davon aus, dass Moskau zumindest das Geld ausgeht. In einer konservativen Gesamtrechnung koste der Krieg Russland ungefähr 15 Milliarden US-Dollar (knapp 14 Mrd. Euro) pro Tag. Je nach Rechnung habe Moskau noch ein finanzielles Polster für rund einen Monat. Droht nun ein Versuch, mit einem Kurswechsel eine schnelle Entscheidung zu erzwingen?

„Wir erinnern die russischen Behörden daran, dass gezielte Angriffe auf Zivilisten und zivile Objekte sowie das sogenannte Flächenbombardement in Städten und Dörfern und andere Formen wahlloser Angriffe nach dem Völkerrecht verboten sind und Kriegsverbrechen darstellen können“, mahnte eine Sprecherin des Hochkommissariats für Menschenrechte. Sie bekräftigte, dass ein in Mariupol angegriffenes Gebäude eine funktionierende Geburtsklinik gewesen sei.

Russischer Konvoi in Wälder und befestigte Stellungen verlagert

Der Blick richtet sich nun auf die Lage um die Hauptstadt Kiew. In der dritten Kriegswoche hat die russische Armee begonnen, sich auf den erreichten Positionen festzusetzen. Die über Tage als Kolonne gestauten Panzer, Waffensysteme und Truppentransporter haben teils die Straßen verlassen und gedeckte Warteposition in Wäldern bezogen.

Das Verteidigungsministerium in Kiew geht dabei von Umgruppierungen und dem Heranführen von Reserven und Nachschub aus. Östlich von Kiew gab es Versuche, die Verteidigung der Dreimillionenstadt auszutesten. Der russische Kräfteeinsatz reicht dabei bisher - wie schon vor dem Krieg von Beobachtern gemutmaßt - nicht aus, umentschiedene Angriffe an allen Frontabschnitten zu führen.

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12. März: Satellitenbilder zeigen Zerstörung, Feuer und Rauchwolken in Mariupol.

Im Nordosten und Osten bleibt die Lage der Städte Tschernhihiw, Sumy, Ochtyrka und der Millionenstadt Charkiw prekär. Sie sind ständigem Beschuss teils mit Grad-Raketenwerfern und Bombardements aus der Luft ausgesetzt. Nach russischen Angaben werden nur militärische Ziele angegriffen, doch werden täglich zivile Opfer und die Zerstörung von Wohnhäusern gemeldet. Ursache dafür könnte auch die Verteidigung der Städte durch die ukrainische Artillerie aus Wohngegenden heraus sein.

Der Kampf um die Lufthoheit

Landesweit versucht die russische Luftwaffe, die relative Luftüberlegenheit auszunutzen und den ukrainischen Gegner zu zermürben. Zusätzlich dazu werden vor allem in den Nächten weiter militärische Ziele auch im tiefen ukrainischen Hinterland, wie die Militärflugplätze Luzk und Iwano-Frankiwsk, mit Raketen angegriffen.

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Der Hauptkriegsschauplatz bleiben dabei die ostukrainischen Gebiete Luhansk und Donezk. Täglich werden in den Berichten der Separatisten und des russischen Verteidigungsministeriums neue eroberte Ortschaften gemeldet. Entscheidende Erfolge konnten jedoch auch hier nicht erzielt werden.

Dem Anschein nach ist im übrigen Teil des Donbass das Ziel, den Hauptteil der ukrainischen Truppen durch eine Umfassungsbewegung von Isjum im Gebiet Charkiw bis ins Gebiet Saporischschja einzukesseln. Doch sind beide Stoßgruppen noch rund 250 Straßenkilometer voneinander entfernt. Die bisher eingesetzten russischen Kräfte scheinen nicht ausreichend, um das Vorhaben zu verwirklichen. (dpa)

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