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Interview

Michel Friedman
„Einleitung eines AfD-Verbotsverfahren ist eine ernstzunehmende Option“

8 min
Der Publizist Michel Friedman fordert eine gesellschaftliche Debatte über ein AfD-Verbotsverfahren, statt sich nur auf juristische Aspekte zu verlassen. /

Der Publizist Michel Friedman fordert eine gesellschaftliche Debatte über ein AfD-Verbotsverfahren, statt sich nur auf juristische Aspekte zu verlassen. /

Im Interview spricht Michel Friedman über Sorgen um die Demokratie, Krieg in Gaza, Verantwortung für Israel und Antisemitismus.

Herr Friedman, Sie bezeichnen sich in Ihrem neuen Buch als „verzweifelten Demokraten“. Was lässt Sie verzweifeln?

Ich finde das Wort Verzweiflung ganz wunderbar, denn darin steckt „Zweifel“. Das menschliche Leben ist voller Überraschungen und Kontrollverlust. Ich habe gelernt, dass das Zweifeln die einzige Möglichkeit ist, mit dem Leben umzugehen. Meine Eltern haben den Holocaust überlebt, 50 Menschen aus meiner Familie sind umgebracht worden. Ich bin auf einem Friedhof geboren, auf dem der Zweifel sich im Wort „Warum?“ wiederfand. Ich glaube, dass man aus diesem Zweifel etwas schöpfen kann. Der Zweifel ist die unverzichtbare Voraussetzung der Wissenschaft, der Aufklärung, der Menschenrechte und der Demokratie. Wenn ich mich als verzweifelten Demokraten bezeichne, hat das also auch etwas Optimistisches.

Trotz Ihrer Verzweiflung nennen Sie Ihr Buch auch eine Liebeserklärung. In wen oder was sind Sie verliebt?

Am Anfang, mittendrin und am Ende meines Lebens steht die Liebe zum Menschen. Als ich in der Pubertät war, war ich sehr wütend auf die Situation, die ich in Deutschland erlebt habe. Ich wurde in Paris geboren und war wütend, dass wir nach Deutschland gegangen sind. Der Judenhass ist keine deutsche Erfindung, aber Auschwitz ist eine deutsche Erfindung. Jüdisches Leben ist und war nach der Shoah nirgendwo so herausfordernd wie in Deutschland. Ich habe mir damals die Frage gestellt: Vertraust du dem Menschen oder misstraust du ihm?

Michel Friedman, Publizist, spricht während einer Demonstration unter dem Motto „Aufstand der Anständigen - Demo für die Brandmauer“. (Archivbild)

Michel Friedman, Publizist, spricht während einer Demonstration unter dem Motto „Aufstand der Anständigen - Demo für die Brandmauer“. (Archivbild)

Wofür haben Sie sich entschieden?

Meine Mutter hat mir damals gesagt: ‚Der Hassende ist vergifteter als der Gehasste, denn der Hassende muss 24 Stunden am Tag mit seinem Hass leben.‘ Damals habe ich den Satz nicht richtig verstanden, aber ich habe gefühlt, dass sie recht hatte. Irgendwann war für mich klar, dass ein zynisches Leben ein verdorbenes Leben ist. Darum habe ich mich entschieden, dem Menschen zu trauen. Schließlich sind meine Eltern auch von einem Menschen gerettet worden. Einem deutschen Menschen, Oskar Schindler, einem Menschen, den ich gekannt habe und der mich in meiner Haltung geprägt hat. Es ist diese Liebeserklärung an den Menschen, die mich bis heute am Leben hält.

Sind Freiheit und Demokratie heute in Deutschland wieder in Gefahr?

In Deutschland werden Freiheit und Demokratie von Linksextremismus, Islamismus und Rechtsextremismus infrage gestellt. Der Rechtsextremismus stellt dabei die größte Gefahr dar, weil er in Form der AfD im parlamentarischen System angekommen ist. So ist aus dem Rechtsextremismus eine strukturelle, eine institutionelle Gefahr geworden. Über 60 Prozent der Deutschen nehmen an, dass es im nächsten Jahr einen ersten AfD-Ministerpräsidenten geben wird. Das wäre ein Offenbarungseid. Denn das wäre ein Angriff auf den Rechtsstaat, die Freiheit der Presse, die Freiheit der Kultur, die Menschenrechte.

Sind Sie für die Einleitung eines AfD-Verbotsverfahrens?

Die Moderne lebt von den Menschenrechten, der Aufklärung und den demokratischen Prinzipien, die wir in Artikel 1 des Grundgesetzes zusammengefasst haben: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Die AfD aber sagt ganz offen, dass die Würde von Menschen bestimmter Gruppen für sie antastbar ist. Alleine das reicht mir, um zu sagen, dass sie nicht mehr auf dem Boden der Verfassung steht.

Also sind Sie für die Einleitung eines Verbotsverfahrens?

Wir haben uns mit der Aufklärung darauf geeinigt, dass niemals ein Mensch bestimmt, ob ein anderer Mensch ein Mensch ist. Das ist der Kern des demokratischen Menschenbildes. Aber genau diesen Kern greift die AfD an. Dass Diktaturen die Würde des Menschen angreifen, liegt in der Natur der Diktatur. Die Diktatur hat kein Verständnis für den Menschen an sich. Diktatoren sind die eigenen Bürger gleichgültig, die anderer Staaten sowieso. Aber in der Demokratie steht der Mensch im Zentrum. Der Mensch ist eine Art kategorischer Imperativ. Nicht nur kognitiv. Seine emotionale Intelligenz zu unterschätzen und nicht auszubauen, ist ein großer Fehler. Wir können über alles verhandeln, nur nicht darüber, ob ein Mensch ein Mensch ist.

Verbotsverfahren – ja oder nein?

Ich halte die Einleitung eines AfD-Verbotsverfahren für eine ernstzunehmende Option. Aber ich ärgere mich immer über Entweder-oder-Diskussionen. Die Einleitung des Verbotsverfahrens ist nur dann sinnvoll, wenn sie von einer ernsthaft geführten politischen und gesellschaftlichen Debatte begleitet wird. Sich nur hinter dem Juristischen zu verstecken und abzuwarten, ist keine Lösung. Wir haben nicht mehr viel Zeit. Als wir noch Zeit hatten, haben wir uns im Schlaraffenland ausgeruht. Aber jetzt geht es um Krieg oder Frieden, Freiheit oder Unfreiheit, Konfrontation oder Kooperation. Ich bin sehr skeptisch, ob die Menschen sich bewusst sind, wie ernst die Lage ist. Aber es ergibt auch keinen Sinn, sich auf die Stufe der Populisten zu stellen und ihnen Angst zu machen. Wir müssen zur Erkenntnis gelangen, dass unser Leben schlechter wird, wenn wir die Freiheit verlieren.

Im Jahr 2024 wurden in Deutschland 5177 antisemitische Delikte polizeilich erfasst, 2023 waren es 5164. Warum ist diese Zahl in den letzten Jahren so stark gestiegen?

Es liegt unter anderem an fehlendem Wissen. Die jungen Generationen wissen viel weniger über den Holocaust, als wir unterstellen. Die Hälfte der Jugendlichen in Deutschland weiß nicht, dass sechs Millionen Juden umgebracht wurden, 40 Prozent der Jugendlichen wissen nicht, was Auschwitz ist. Ohne Wissen gibt es kein Denken, ohne Denken gibt es kein Reflektieren, ohne Reflektieren gibt es keine Erkenntnis. Unwissende sind leichter von Lügen und Propaganda zu manipulieren als Wissende. Kritische Nachfrage: Gibt es noch Geschichtsunterricht an deutschen Schulen?

Welche weiteren Gründe gibt es?

Die Enthemmung und die Scham sind weg. Es gibt eine wachsende Gewaltbereitschaft. Eine Facette, die den Judenhass salonfähig macht, ist der Israelhass. Schon am 7. Oktober 2023, noch bevor Israels Armee auf den brutalen Überfall der Hamas reagiert hatte, wurde in Berlin geschrien: „Tod den Juden!“ Wohlgemerkt: Nicht Tod den Israelis, Tod den Juden! Jüdisches Leben in Deutschland ist wieder schutzloser und vulnerabler geworden. Das verändert die jüdische Gemeinschaft und jeden einzelnen jüdischen Menschen. Das gilt auch für mich, das geht an die Substanz meines Menschseins. Es ist nicht hinzunehmen, dass meine und andere jüdische Kinder auf deutschen Straßen wieder Angst haben müssen.

Es ist klar, dass das brutale Vorgehen der israelischen Armee in Gaza keinerlei Rechtfertigung für Antisemitismus sein darf. Glauben Sie dennoch, dass es eine Ursache ist?

Nein. Ich halte hier jede Kausalität für falsch. Das wäre so, als würde man sagen: Es hat sich herausgestellt, der Jude A ist einer der schlimmsten Verbrecher der Welt. Daraus folgern wir, dass alle Juden so sind. Es handelt sich um Pseudokausalitäten. Pseudokausalitäten gibt es in allen rassistischen Narrativen. Aber sie sind und bleiben falsch.

Was halten Sie vom Vorgehen der israelischen Armee in Gaza?

Je mehr ich darüber rede, desto mehr bediene ich das Narrativ, dass ein jüdischer Mensch mehr mit Israel verknüpft wird als Nicht-Juden. Warum eigentlich? In Israel haben gerade 350.000 Menschen gegen ihre Regierung demonstriert. Das ist so, als ob in Deutschland 3,5 Millionen Menschen gegen ihre Regierung auf die Straße gingen. Ihrer Position schließe ich mich an. Aber ich wehre mich dagegen, dass ein jüdischer Mensch einen a priori Rechtfertigungszwang hat für das, was eine israelische Regierung tut.

Papst Leo XIV hat Israel gerade an die Pflicht zum Schutz der Zivilbevölkerung sowie an das Verbot von Kollektivbestrafung, willkürlicher Gewalt und Zwangsumsiedlung erinnert. Nach Angaben der Vereinten Nationen sind mittlerweile mehr als eine halbe Million Menschen im Gazastreifen akut von Hunger und Tod bedroht. Bis Ende September könnte diese Zahl laut UN auf 640.000 steigen. Begeht Israel Ihrer Meinung nach in Gaza einen Genozid?

Es ist eine menschliche Katastrophe, dass Menschen in Gaza hungern. Den Begriff des Genozids halte ich in diesem Zusammenhang aber für außerordentlich schwierig – juristisch, völkerrechtlich und politisch. Unabhängig davon, dass viel zu viele Zivilisten sterben. Zugleich halte ich es für Heuchelei und Doppelmoral, wie Israel jetzt mit großer Vehemenz angeklagt wird, während die Hamas nicht mehr erwähnt wird, und während das Sterben und Töten in anderen Teilen der Welt seit Jahrzehnten weitgehend stillschweigend hingenommen wird.

Wollen Sie Tote gegeneinander aufwiegen und das Leid der Zivilbevölkerung in Gaza relativieren?

Keinesfalls. Es geht mir lediglich um die unterschiedlichen Standards. Warum demonstrieren wir nicht jede Woche vor der russischen Botschaft? Warum demonstrieren wir nicht bei anderen Konflikten, in denen ebenfalls tausende Zivilisten verhungern und getötet werden, weil Kriegsparteien sich nicht an das Völkerrecht halten? Und eines will ich betonen: Es sind noch immer Geiseln in der Hand der Hamas, deren Charta die Auslöschung aller israelischen Juden fordert. Auch die Hamas verweigert Gespräche über einen Waffenstillstand.

Sind Sie der Meinung, dass Deutschland aufgrund seiner Geschichte bedingungslos an der Seite Israels stehen muss?

An der Seite Israels: ja. An der Seite der israelischen Regierung: nein.

Haben Sie persönlich Angst?

Auf mich hat es zwei Attentatsversuche gegeben. In meinem Leben waren Bedrohungen und Beleidigungen immer ein Bestandteil meines Alltags. Ich habe nicht nur Angst, ich habe Furcht. Konkrete Furcht ist das, was aus abstrakter Angst entsteht. Aber schüchtert mich das ein? Nein! Kostet es mich Kraft, mich nicht einschüchtern zu lassen? Ja!

Haben Sie jemals darüber nachgedacht, Deutschland zu verlassen?

Ich habe in meinem Buch „Fremd“ geschrieben: „Ich lebe irgendwo und nirgendwo.“ Aber ich lebe physisch in Deutschland. Ich war staatenlos und habe mich in Deutschland einbürgern lassen. Es ist das Land, in dem mein Leben stattfindet. Und ich habe nicht vor, mich vertreiben zu lassen. Ich habe allerdings auch nicht vor, in einem Land zu leben, in dem es eine Regierung geben könnte, für die die Würde des Menschen antastbar ist. Damit das nicht passiert, bringe ich mich ein und gebe nicht auf.

Sind Sie mit sich selbst im Reinen?

Nein, natürlich nicht. Ich bitte Sie! Wenn ein Mensch sagt: „Ich bin mit mir im Reinen“, kriege ich Angst.

Michel Friedman: „Mensch! – Liebeserklärung eines verzweifelten Demokraten“, 144 Seiten, 25 Euro, erschien am 29. August im Berlin Verlag.