Nach Militärparade in MoskauWas nun, Wladimir Putin?

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raketen

Militärparade am Montag in Moskau.

Kriegserklärung? Generalmobilmachung? Nichts von alledem verkündete der russische Staatschef in seiner Rede am 9. Mai. Der Auftritt fiel defensiver aus als erwartet - und wirft ein Licht auf die neuen Schwächen des angeblich so starken Mannes in Moskau: Für Wladimir Putin gibt es keine ruhmreichen Optionen mehr.

So begann der mit Spannung erwartete Tag in Moskau mit einer Seltsamkeit. Die Schauflüge der russischen Luftwaffe über dem Roten Platz, stets ein Höhepunkt der Siegesfeiern zum 9. Mai, wurden eine Stunde vor dem geplanten Beginn abgesagt - „wegen schlechten Wetters“.

Schlechtes Wetter? Es war heiter bis wolkig, bei 11 Grad und einer leichten Brise.

Noch am Vortag waren die Flüge geprobt worden. Erstmals formierten sich Kampfflieger sogar zu einem großen „Z“ am Himmel. Warum nun die hektische Absage? Gab es Hinweise auf einen Anschlag aus der Luft? Oder Zweifel am konkreten Effekt der Z-Show? Kreml-Astrologen scherzten, ein fliegendes „Z“ lasse sich, je nach Betrachtungsweise, auch als „N“ lesen: „N“ wie Nawalny.

Putin signalisiert keine unheilvolle Eskalation

Putin jedenfalls verzichtete nicht nur auf die Schauflüge. Auch inhaltlich hielt er den Ball flach: Das im Westen von vielen Fachleuten bis zuletzt befürchtete Signal einer unheilvollen Eskalation blieb aus.

Ein Teil der Moskau-Deuter hatte erwartet, Putin werde den 9. Mai nutzen, um der Ukraine offiziell den Krieg zu erklären. Tatsächlich aber nahm Putin in Fortsetzung seiner eigentümlichen Wahrheitsverachtung das Wort Krieg gar nicht erst in den Mund.

Ein anderer Teil fürchtete gar, Putin werde die Generalmobilmachung verkünden. Damit könnte Moskau alle volljährigen, gesunden und nicht zu alten Männer in Russland zu den Waffen rufen, theoretisch bis zu 20 Millionen Mann. Extreme Maßnahmen wie diese würden aber kaum Rückhalt finden in der dann erstmals komplett betroffenen russischen Bevölkerung. Zudem würde dies schlecht zu Putins Rhetorik passen, in der Ukraine gehe es nur um eine „militärische Spezialoperation“, bei der „alles nach Plan“ verläuft.

Eine Motivationsrede für Russen

Das große Signal an die Welt also blieb aus, zum Glück. Die Rede hatte vor allem eine innenpolitische Funktion: „Das war alles Pep Talk für die Russen“, urteilt Georgetown-Professorin Jill Dougherty, die früher zehn Jahre lang als Journalistin in Moskau gearbeitet hat. Pep Talk: Das sind aufmunternde Worte, Motivationsreden, Durchhalteparolen, mehr nicht.

Tatsächlich servierte Putin nur Aufgewärmtes. In freier, knapper Übersetzung lauten seine Botschaften: Wir haben zwar als erste losgeschlagen, aber das musste sein, es war ein notwendiger Präventivschlag. Russland musste etwas tun, um sich „gegen die vollkommen inakzeptable Bedrohung aus dem Westen zu wehren“.

Putin nutzte die traumatische Erinnerung von Millionen seiner Landsleute an den Zweiten Weltkrieg, um Unterstützung für seinen aktuellen Völkerrechtsbruch zu gewinnen. „Die Donbass-Miliz und die russische Armee“, hob er an, „kämpfen auf ihrem eigenen Land, das die Helden des Großen Vaterländischen Krieges bis zum Tod verteidigt haben“.

Von einer „Geiselnahme der Geschichte“ sprechen westliche Experten. Auch sind sich alle einig, dass der frühere KGB-Chef Land und Leuten wieder mal eine große Dosis Lügen injiziert hat. Beides sei beklemmend

Zugleich aber gibt es zwei Fünkchen Hoffnung. Erstens fiel auf, dass Putin zwar den Griff nach dem Donbass betonte, aber nicht mehr den Regimewechsel in Kiew in den Mittelpunkt stellte. Zweitens ließ Putin neue nukleare „Doomsday“-Drohungen stecken.

„Nicht sein letztes Statement zu diesem Krieg“

Fängt der Kremlherr an, kleine Brötchen zu backen? Moskau-Kennerin Dougherty warnte im Sender CNN vor voreiligen Schlüssen. Fürs erste habe Putin nur entschieden, jedenfalls nicht an diesem 9. Mai neue Kriegsziele auszurufen oder den Westen auf andere Art zu erschrecken. „Dies ist noch nicht sein letztes Statement zu diesem Krieg.“

Welche Optionen aber bleiben ihm eigentlich? Im Brüsseler Nato-Hauptquartier kursiert die Einschätzung, Putin habe sich inzwischen selbst in eine Sackgasse manövriert. Militärisch stoße er weiterhin auf Widerstände, aber auch eine diplomatische Lösung sei nicht in Sicht - und für beides trage er selbst die Verantwortung.

Anfangs hantierten westlich Diplomaten noch mit Modellen für irgendeine schnelle „Offramp“-Lösung: erst Waffenstillstand, dann internationale Gesprächsrunden, dann ein Übergang zum „eingefrorenen Konflikt“, der vielleicht niemanden glücklich machen werde, aber zumindest keine Menschenleben mehr koste.

Doch inzwischen ist der Ukraine wie im gesamten Westen die Neigung gleich null, sich noch einmal mit Putin zusammenzusetzen und auf irgendwelche Zusagen zu vertrauen, die der russische Staatschef unterschreibt. Für Putin ist damit eine grimmige neue Realität entstanden, die er erst nach und nach zu begreifen scheint. Anders als etwa in Syrien kann er jetzt nicht mehr an den Reglern drehen, wie er will. Im Gegenteil. Der von ihm begonnene Krieg, mit der das politische Ende der Ukraine herbeiführen wollte, könnte auch sein eigenes politisches Ende bringen.

Putin will mehr für Hinterbliebene tun

Nie stand der russische Staatschef so unter Druck; militärisch, wirtschaftlich und weltpolitisch. Tag für Tag gehen immer mehr russische Panzer in Flammen auf, als Opfer von Drohnen oder frisch gelieferter westlicher Präzisionsartillerie. In Russland wächst, langsam zwar, aber doch stetig, die Unruhe unter Familien der Getöteten. Dass Putin jetzt in seiner Rede versprach, Russland werde sich künftig besser um die Hinterbliebenen kümmern, ist ein interessantes Zeichen. Russische Oppositionelle sagen, ein erster Schritte müsse darin liegen, wenigstens die Leichen zu bergen - oft werden sie unter unwürdigen Bedingungen zurückgelassen.

Auch in hohen russischen Militärkreisen, sagen westliche Beobachter, rumort es. Neun Generäle verloren die Russen seit dem 24. Februar, zuletzt starb der für elektronische Kriegsführung eingeteilte russische General Andrej Simjonow. Die USA hätten keinen einzigen vergleichbaren Verlust bei ihren Feldzügen im Irak oder in Afghanistan.

Auch die Versenkung der „Moskwa“ ist ein noch immer unaufgeklärtes Desaster. Das 750 Millionen Dollar teure Flaggschiff der russischen Schwarzmeerflotte hätte mit seinen modernen Fernlenkwaffen, Radar- und Abwehrsystemen auch andere russische Schiffe schützen sollen – stattdessen fuhr es, von einer Drohne trickreich abgelenkt und dann von zwei ukrainischen Neptun-Raketen getroffen, Mitte April zum Meeresgrund.

Die Zeit arbeitet gegen Putin. Woche für Woche kommen gigantische Waffenlieferungen aus dem Westen in der Ukraine. Schon jetzt verschafft die weltraumgestützte Gefechtsfeldaufklärung der USA den Ukrainern erhebliche Vorteile. Spätestens ab Juni werden sich in der Ukraine Schwärme westlicher Kampfdrohnen erheben, die alle bisherigen Strategien der russischen Landstreitkräfte über den Haufen werfen.

Switchblade-Drohnen als potenzielle Bedrohung

Bislang konnten Putins Truppen zum Beispiel mobile Mehrfachraketenwerfer in Richtung russischer Städte rolle und dann aus sicherer Entfernung deren Wohnviertel nach und nach zerstören. Künftig müsste ein russischer Raketenwerfertrupp fürchten, dass eine amerikanische Switchblade-Drohne seinem Treiben ein Ende bereitet – ferngesteuert oder sogar autonom, ohne Risiko für die ukrainischen Soldaten.

Gegen eine solche technologische Übermacht hilft auch keine spätere Generalmobilmachung. Ohnehin scheint Putin dies schon zu ahnen. Dass russische Bevölkerung den Krieg bislang angeblich mit breiter Mehrheit akzeptierte, hat auch damit zu tun, dass die meisten Soldaten, die in der Ukraine sterben, aus den Provinzen stammen, aus Sibirien etwa.

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