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„Die Leute wachen auf“Massendemonstrationen gegen US-Präsidenten nehmen neue Dimensionen an

7 min
In den USA hat es erneut Massenproteste gegen Präsident Donald Trump und dessen Politik gegeben. /Mehmet Eser

In den USA hat es erneut Massenproteste gegen Präsident Donald Trump und dessen Politik gegeben.

Eine Rekordzahl geht gegen Donald Trumps autokratische Machtanmaßung auf die Straße. Der Präsident fantasiert über ein Bombardement der Demonstranten.

Die Stimmung ist gut, für eine „Hass-Kundgebung“ bemerkenswert gut. Gerade ist ein zwei Meter großes aufblasbares Huhn vorbeigehüpft, dessen Gesichtszüge denen des amerikanischen Präsidenten ähneln. Am Straßenrand steht eine Frau, die mit türkisgrünem Umhang und Styroporkrone die Freiheitsstatue mimt. Da ertönt Musik. Eine Blaskapelle marschiert, angeführt von drei Frauen in Kostümen aus der Zeit des Unabhängigkeitskrieges, in Richtung Kapitol.

Was ist das hier? Ein Karneval der Kulturen? Ein fröhliches Volksfest? Wenn man dem republikanischen Repräsentantenhaus-Chef Mike Johnson glauben darf, läuft da gerade eine gefährliche Veranstaltung. „Am Samstag wird es einen Hass-auf-Amerika-Protest geben“, hat der stets unschuldig dreinblickende Exekutor des Präsidenten im Kongress gewarnt: „Da wird es von Hamas-Unterstützern, Antifa-Typen und Marxisten wimmeln.“ Sein Parteifreund Roger Marshall, der den Bundesstaat Kansas im Senat vertritt, sagte Straßenschlachten vorher: „Wir müssen die Nationalgarde einsetzen.“

200.000 Demonstranten in Washington

Und nun das: Friedliche, gut gelaunte Demonstrantinnen und Demonstranten. Nicht nur auf der Pennsylvania Avenue in Washington, 13 Blocks vom Weißen Haus entfernt, sondern überall in den USA. In insgesamt 2600 Orten gehen sie an diesem Samstag unter dem Motto „No Kings“ (Keine Könige!) gewaltfrei gegen die autokratische Machtanmaßung von Donald Trump auf die Straße. Rund 200.000 sind es in der Hauptstadt, in der von der sonst omnipräsenten Nationalgarde erstaunlich wenig zu sehen ist und stattdessen die Polizei in leichter Montur und ohne Helme das Geschehen beobachtet. Mindestens 300.000 Menschen fluten zur gleichen Zeit den Times Square in New York. Im ganzen Land protestieren nach Schätzungen der Veranstalter fast sieben Millionen – eine Rekordzahl.

Trump lag also daneben, als er vorige Woche sagte: „Ich höre, dass nur sehr wenige Leute kommen werden.“ Wahrscheinlich hatte er das wie so vieles einfach erfunden, um das Ereignis vorsorglich kleinzureden. Gleichwohl ließ er das Weiße Haus weiträumig mit einem drei Meter hohen Zaun absperren, als erwarte er eine Invasion. Der Mann, gegen den sich einer der größten Massenproteste der amerikanischen Geschichte richtet, hat seinen Amtssitz am Freitag mit dem Hubschrauber verlassen. Das Wochenende verbringt er auf dem Golfplatz seines Anwesens in Florida.

„Sie dämonisieren uns, weil sie Angst haben“

„Ich bin weder Terrorist, noch bin ich von George Soros bezahlt“, stellt sich John Majercak ironisch vor, um ernsthaft fortzufahren: „Das sind alles Lügen. Sie dämonisieren uns, weil sie Angst haben.“ Der Unternehmensberater ist mit seiner vierköpfigen Familie eigens aus Massachusetts nach Washington angereist. Jeder hält ein Plakat in die Höhe. Auf seinem steht: „Ohne König seit 91.083 Tagen“ – ein Hinweis auf das Geburtsjahr der USA, deren Gründerväter sich von der britischen Krone losgesagt hatten. Eine seiner Töchter macht sich mit dem Slang-Ausdruck „Small dictator energy“ auf ihrem Schild über Trump lustig.

Die Vorfahren der Majercaks kamen aus der Slowakei. „Unsere Familie hat vom amerikanischen Traum profitiert“, sagt der Vater. Als selbstständiger Weißer sei er weder von den aktuellen Massenabschiebungen noch vom Shutdown betroffen, der viele Beamte um ihre Gehälter bringt. „Aber was hier passiert, ist längst viel größer als unser persönliches Leben“, ist Majercak überzeugt: „Erst greifen sich kleinere Gruppen wie trans Menschen oder Migranten an. Wenn wir uns nicht wehren, sind wir die nächsten.“

Menschen gehen gegen die Politik von Donald Trump auf die Straße.

Menschen gehen gegen die Politik von Donald Trump auf die Straße.

Es hat ziemlich lange gedauert, bis diese Erkenntnis breiten Widerhall in der amerikanischen Gesellschaft gefunden hat. Die ersten Anti-Trump-Proteste im Frühjahr in Washington glichen mit ein paar Tausend Teilnehmerinnen und Teilnehmern eher verzweifelten Mutmachaktionen von Sektierern. „Viele waren überwältigt oder wollten nicht glauben, dass Trump sein Programm tatsächlich durchziehen würde“, glaubt Majercak. Inzwischen hat der Präsident zentrale Säulen der öffentlichen Verwaltung zerschlagen. Er lässt seine Kritiker von der Justiz verfolgen, gibt vermummten Polizisten freie Hand bei der Jagd nach Ausländerinnen und Ausländern und schickt das Militär in die Städte. Als Nächstes drohen ein kriegerischer Konflikt mit Venezuela und die Streichung der Zuschüsse zur Krankenversicherung Obamacare. „Die Leute erleben jetzt Tag für Tag, wie es immer schlimmer wird“, glaubt Majercak: „Sie wachen auf.“

Die Kraft aus der Graswurzel

Für diese These spricht, dass am Samstag aller Angstmache der Republikaner zum Trotz tatsächlich zwei Millionen Menschen mehr auf die Straße gehen als bei der ersten „No Kings“-Demonstration im Juni. Und das, obwohl keine Partei, keine Gewerkschaft und keine Kirche zu dem Protest aufgerufen hat. Hinter den Protesten steht eine Graswurzelbewegung aus 250 verschiedenen Gruppen wie die progressive Organisation „Indivisible“, die während der ersten Trump-Amtszeit von den ehemaligen Kongressmitarbeitern Ezra Levin und Leah Greenberg gegründet worden war.

„Autoritäre Herrscher möchten uns glauben machen, dass Widerstand zwecklos ist“, zeigen sich die beiden Aktivisten am Samstagabend zufrieden: „Aber jeder einzelne, der heute erschienen ist, beweist das Gegenteil.“ Seit Wochen haben die Veranstalter tausende Helfer akquiriert und einem Deeskalations-Training für den Fall von externen oder internen Störungen unterzogen. Dass die Demonstrationen friedlich und gewaltfrei bleiben müssten und Trump auf keinen Fall einen Vorwand für eine weitere militärische Eskalation bieten dürften, war oberstes Prinzip.

Also formiert sich am Samstag ein bunter, fantasievoller Protest. Reden gibt es auch, aber die spielen – anders, als es nachher im Fernsehen erscheinen wird – keinesfalls die Hauptrolle. Die Bühnen sind klein, die Technik eher improvisiert. Ein großer Teil der Menschen auf der Pennsylvania Avenue kann gar nicht hören, was vorne gesprochen wird. Dort tritt unter anderem Chris Murphy, der Senator von Connecticut, ans Mikrofon. „Wir sind nicht am Rande einer autoritären Machtübernahme“, warnt der Demokrat eindringlich: „Wir befinden uns mittendrin.“ Der Präsident sei fest entschlossen, die Demokratie zu zerstören.

Die Demokraten-Spitze ist kaum sichtbar

Das sind drastische Worte für den Angehörigen einer Partei, deren wichtigste Vertreter in Washington immer noch versuchen, Politik nach den traditionellen parlamentarischen Regeln über Geschäftsordnungsanträge im längst kaltgestellten Kongress zu machen. Entsprechend unsichtbar sind Hakeem Jeffries und Chuck Schumer, immerhin die Minderheitsführer im Repräsentantenhaus und im Senat, in der öffentlichen Wahrnehmung.

Nicht zufällig hält die Hauptrede bei der Washingtoner Kundgebung kein Vertreter der Demokraten, sondern der linke Senator Bernie Sanders, der seit Monaten durch das Land reist, um den Widerstand gegen Trump zu mobilisieren. Die Warnungen des 84-Jährigen vor dem „gefährlichen Moment in der amerikanischen Geschichte“ wirken eindringlich, seine Angriffe gegen die Oligarchen und das gesellschaftliche Establishment sind keineswegs neu, klingen aber ungemein aktuell.

Trump kübelt auf die Demonstranten

„Wir sind nicht hier, weil wir Amerika hassen, sondern weil wir es lieben“, ruft Sanders kämpferisch ins Mikrofon. Bei Trump, der auf Fotos gerne demonstrativ die US-Flagge umarmt, kann man da nicht so sicher sein. Jedenfalls kennen seine Aggressionen gegen jenen Teil des Landes, der ihm nicht bedingungslos huldigt, inzwischen kaum noch Grenzen. Als Reaktion auf die Proteste wird er später ein mit künstlicher Intelligenz generiertes Video posten, das ihn (mit Krone) als Kampfpiloten eines Bombers mit dem Namen „King Trump“ zeigt. Das Flugzeug wirft über den Demonstranten kübelweise Geröll und Schlamm ab.

Das sind Gewaltfantasien, wie der Präsident sie sonst dem „Feind im Inneren“ unterstellt, gegen den er in immer mehr Städten mit dem Militär vorgehen will. Dazu hat er die Antifa, die dort angeblich ein Schreckensregime führt, zur terroristischen Vereinigung erklärt, obwohl der Begriff in den USA eher eine Geisteshaltung als eine Organisation mit festen Strukturen beschreibt.

Kathy Brown findet das empörend. Ihre jüdische Familie ist vor mehr als hundert Jahren aus der Nähe von Hannover in die USA ausgewandert. Nach Hitlers Machtergreifung unterstützte sie Freunde und Verwandte in Deutschland bei der Flucht über den Ozean. Der Vater meldete sich im Zweiten Weltkrieges bei der US-Armee. „Das war für ihn etwas ganz Persönliches“, berichtet Brown: „Er wollte gegen die Nazis kämpfen.“

Bei der Demonstration in Washington hält Brown ein schwarz-weißes Foto ihres Vaters in der Marineuniform hoch. Darüber steht: „Mein Vater war Antifa“. Es ärgert die Frau, dass Trump immer hemmungsloser Täter und Opfer vertauscht. „Der Präsident macht das Gegenteil von dem, für das mein Vater gekämpft hat“, empört sie sich. Auch sie selber sieht sich als Antifaschistin.

Gemeinsam mit ihrem Ehemann Wayde Sovonik, einem pensionierten Polizisten, war Brown von Anfang an bei den Anti-Trump-Protesten in der Hauptstadt dabei. Doch heute, sagt die Rentnerin, sei sie angesichts der Stimmung und der kräftigen Beteiligung regelrecht glücklich: „Etwas ändert sich.“

Kann ein einzelner Protesttag tatsächlich einen Wendepunkt markieren? Der Kampf gegen den Autokraten im Weißen Haus sei „ein Marathon, kein Sprint“, hat Senator Chris Murphy in seiner Rede gemahnt. Das weiß auch Brown. Trotzdem glaubt sie, dass der Protest im Land einen wichtigen psychologischen Multiplikatoreneffekt hat: „Je mehr Leute sehen, dass wir keine Angst haben und wachsen, desto mehr von ihnen werden sich auch auf die Straße trauen.“