Fußball-Liga der Übergewichtigen in NRW„Sonst heißt es höchstens: Der Dicke geht aber ins Tor“

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Sven Posberg vom SC Buschhausen am Ball.

Sven Posberg am Ball. „Wir Dicken“, sagt er, „wir sind ja nicht gesellschaftsfähig“.

Laut WHO gelten die „Big Boys“ in Oberhausen sie als fettleibig, bei der „1. Übergewichtigen Fußball Liga NRW“ stürmen sie Richtung Meisterschaft.

Possi wämst die Ecke rein. Als der Ball hart an Ronnys Oberschenkel abprallt, seufzt er wie eine aufplatzende Wassermelone. Ronny stöhnt, guckt sich dann aber stolz um. „Schön Ronny, ganz stark, Ronny“, ruft ein Mannschaftskollege. Ronny grinst breit, holt aus zum Abschlag, der Ball saust pfeifend in die gegnerische Hälfte. Es ist Montagabend, 19.30 Uhr, die Sonne senkt sich über dem Platz des SC Buschhausen und tränkt den Himmel wie eine ausgelaufene Orangensaftflasche in warmes Gelb. Die Glocken vom nahen Kirchturm schlagen. Ronnys Null steht.

Man muss richtig dick sein. Fett ist ideal

Laufstark, ein Kämpfer, agil – so beschreibt sich Ronny als Fußballer selbst. Defensives Mittelfeld. Durchaus mit dem Drang nach vorne. Zumindest innerlich. Äußerlich bremsten den 44 Jahre alten Verwaltungsangestellten irgendwann 116 Kilogramm Gewicht verteilt auf 178 Zentimeter Höhe von einst schnell auf gemächlich runter. Statt mit dem Ball verbrachte der Verwaltungsangestellte seine Abende plötzlich lieber mit Nudeln und Pommes, „Berge“, gibt er als Mengenangabe an. „Um ehrlich zu sein: Mir fehlte alles, was mich als Fußballer mal ausmachte“, erzählt er. Die Anfrage der Big Boys vor etwa einem Jahr kam da gerade zur rechten Zeit. Denn um bei den Big Boys Oberhausen groß rauszukommen, muss man nicht nur passabel Fußball spielen. Man muss auch dick sein. Richtig dick am besten. Fett ist ideal.

Die Big Boys entstanden vor einem Jahr, als Ingo Wolters und Sven „Possi“ Posberg bei ihrem Heimatverein aufeinandertrafen und aussprachen, was jeder sehen konnte: „Komm Possi, ich bin dick, du bist dick, wir beide sind dick. Hast du nicht Lust, dass wir uns noch andere Dicke suchen und gemeinsam Fußball spielen?“

Man verteilte Flyer, man sprach Väter von Fußball spielenden Kindern an, die ähnliche Karrieren vorweisen konnten. Einst in Fußball vernarrte Jungs, jahrelang erfolgreich im Verein, dann Beruf, dann Sitzen, dann Kinder, irgendwann nur noch Couch, sagt Posberg. „Wir fragten: Du siehst aus wie ich, hast du nicht Bock?“ An Big Boys mit Bock mangelte es nicht. Schnell hatte man eine Fußballmannschaft zusammen. Allein, es fanden sich keine geeigneten Gegnern. Erst spielte man gegen die Damen des SC Buschhausen. „Da waren wir überlegen, weil wir technisch schon sehr gut sind“, sagt der 40 Jahre alte Posberg stolz. Gegen die Altherren traute man sich hingegen nicht so richtig. Denn: „Da können wir gar nicht mithalten.“ Zu wenig Kondition, viel zu langsam.

Die Gegner: Schwere Schwerter, Pfundskerle, Heavy Kickers

Während die dicke Frau sich seit einigen Jahren vorsichtig zumindest in einer Curvy-Plus-Size-Nische vom Makel emanzipiert und durchaus wahlweise zu Superstar (Lizzo) oder Sexsymbol (Ashley Graham) avancieren kann, gilt der dicke Mann immer noch nur als eines: Eben dick. Auch auf dem Fußballplatz ist zwischen eher immer durchtrainierten Körpern eigentlich kein Platz für ihn. Nicht einmal in der Kreisliga. „Wir sind als Fußballer ja nicht gesellschaftsfähig. Da heißt es höchstens: Der Dicke, der geht aber ins Tor“, sagt Posberg. Mit der gesellschaftlichen Realität geht die Diskriminierung von dicken Männern dabei gar nicht zusammen. Denn laut Robert-Koch-Institut sind 60 Prozent aller erwachsenen Männer in Deutschland von Übergewicht oder Adipositas betroffen. Der Dicke, so der Gedanke in Buschhausen, muss deshalb raus aus dem Tor. Er muss sichtbar werden. Er muss auf den Platz.

Zusammen mit Mike Kraus vom PSV Bork aus Selm bei Unna, ebenfalls Fußballer, ebenfalls in die Jahre gekommen, ebenfalls dick, entstand also die Idee, all die schweren Ballfreunde zusammenzubringen: Heavy Kickers aus Selm, Big Boys aus Oberhausen, Schwere Schwerter aus Schwerte, Pfundskerle aus Menden und so weiter. Eine Gewichtsklasse, eine Liga, Hin- und Rückrunde, am Ende gibt es einen Pokal. Und so ging im April 2023 die „1. Übergewichtigen Fußball Liga NRW“ an den Start. Sie hat eigene Regeln: Kleineres Feld, kürzere Spielzeit, wer nicht mehr kann, wechselt sich selbst aus. Die Übergewichtigen-Liga umfasst bislang sechs Teams und ist bundesweit einzigartig.

Auf dem Platz stehen mittlerweile sicher zwei Tonnen im Kreis. Witze übers Gewicht sind hier in Buschhausen ausdrücklich erlaubt. Warum sie Big Boys hießen, ruft ein Jugendlicher vom Spielfeldrand. „Weil wir fett sind“, antwortet die Nummer sieben gut gelaunt. Zum Aufwärmen gibt es „Schweinchen in der Mitte“. „Ihr wisst, was das heißt? Wer den Ball verliert, macht zehn Liegestützen“, ruft Haydar Karadag, 39, der in die Rolle des Trainers geschlüpft ist, aber auch selbst spielt. Rechter Verteidiger. Der Ball läuft, die Pässe sitzen, Karadag nickt zufrieden.

Wer in der Liga mitspielen will, braucht einen Body-Mass-Index (BMI) von um die 30 – mindestens. Übergewicht beginnt laut WHO ab einem BMI von 25, ab 30 spricht man von Adipositas oder Fettleibigkeit. Hungert sich einer durch das Training runter, darf er weiter mitspielen, der Gemeinschaft wegen. Bei Pflichtspielen sind dann aber nur zwei Dünne pro Team erlaubt, der Fairness wegen.

Große Sorge, die Mindestgrenze nach unten zu durchbrechen, haben hier allerdings die wenigsten. Ja, die sportliche Betätigung habe ihn fitter gemacht, sagt Karadag, der oft zehn Stunden am Tag als Berufskraftfahrer unterwegs ist. Die Gemeinschaft sporne ihn an, wenn er mal wieder faul auf dem Sofa liege. „Ich weiß dann schon, was ich für Sprüche von den Kameraden gedrückt kriege. Da hast du dann gar keine andere Möglichkeit, als dich doch aufzuraffen.“ Manchmal packe ihn auch der Ehrgeiz. „Wenn ich schon hinter dem Ball herrenne, dann denke ich oft: Das muss doch schneller gehen. Und dann sag ich mir nach dem Training: Ach, die Cola oder die Süßigkeit, die brauch ich gar nicht.“

Auch bei Posberg, der als kaufmännischer Angestellter bei einer Sanitär- und Heizungsfirma arbeitet, hat sich mit dem Training eine gewisse Ernährungsdisziplin eingeschlichen. „Ich esse schon weniger, viel Obst, nach 18 Uhr gar nichts mehr“, sagt der Stürmer. Aber Normalgewicht? Das läge noch in weiter Ferne. Posberg lacht: „Ich hab einen BMI von 39.“ Gemäß einer Tabelle der Deutschen Adipositas-Gesellschaft firmiert Posberg damit gerade noch unter Adipositas Grad II. Ab einem Wert von 40 beginnt die letzte Stufe. Bedeutet: Ernsthafte Erkrankung, stark erhöhtes Risiko für Folgeerkrankungen, so umreißen es die Adipositas-Spezialisten der Uniklinik Mannheim.

Eine Waage am Spielfeldrand brauchen die Big Boys übrigens nicht. „Man sieht ja gleich, wer einen Bauch vor sich hat“, sagt Karadag. Man setze auf Vertrauen. Geht es um die gegnerischen Mannschaften, mischt der Ehrgeiz aber dann doch etwas Misstrauen in die Gelassenheit. „Bei den Vikings Waltrop, da haben wir schon gesagt: Hey, die drei da wirken aber verdächtig dünn. Aber vielleicht machen das auch nur die schwarzen Trikots“, sagt Sven Posberg lachend.

Der Traum der Big Boys? Dass sie dicke Nachahmer in ganz Deutschland finden. Irgendwann, da wollen sie eine Deutsche Meisterschaft ausspielen. Aber erstmal geht es um den Titel in NRW. Zwei Spiele haben die Big Boys schon gewonnen. Gegen die Borussia-Fans im Training (13 : 2) sowie gegen die Pfundskerle aus Menden (5 : 1). Das nährt das Selbstbewusstsein. „Wir waren schon klar besser“, sagt Posberg. Am Montag geht es als Tabellenführer gegen die „Heavy Kickers“. Die Big Boys, sie schielen nach dem Pokal.

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