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Ruhestand und dann?Warum sich immer mehr Menschen zum Rentner ausbilden lassen

Lesezeit 9 Minuten
Eine Ilustration zeigt einen Senior mit einem Fragezeichen auf der Stirn.

Im Durchschnitt leben Menschen in Deutschland 20 Jahre als Rentner. Eine lange Zeit, in der man nicht nur auf „Füße-Hochlegen“ setzen kann.

Jedes Jahr gehen fast 60.000 Menschen in Nordrhein-Westfalen in den Ruhestand. Meist völlig unvorbereitet. In einem Kurs kann man lernen, wie Rentner oder Rentnerin richtig geht. Ein Besuch.

Als erstes hat Alan die Gardinen gewaschen. Als nächstes hievte er rund hundert Waschbetonplatten aus der Erde vor dem Haus. Er hat seine Mopeds repariert. Schließlich goss er Beton in Getränkedosen und bastelte daraus Tischleuchten. Es ist nicht so, dass der 63 Jahre alte Mann nicht genügend Ideen im Kopf hätte, wie die neu gewonnene Freizeit gefüllt werden könne. Da lassen sich die unglaublichsten Sachen in den gut verdrahteten Arealen seines Gehirns finden: Einen VW-Bus ausbauen - das könnte doch Spaß machen. Kanufahren auch. Psychologie könnte er noch studieren, das wäre nicht das Schlechteste nach einem Leben in der Technikbranche. Aber: Es ist, als würde man eine ganz bestimmte Hose im Schrank suchen. Und am Ende sitzt man da in einem Haufen von Klamotten und denkt frustriert: „Schon wieder nichts anzuziehen.“

Seit zwei Monaten ist Alan im Ruhestand. Er hat das nicht gelernt, er hat keinerlei Anleitung bekommen, seine Freunde warnten lediglich: „Leg bloß nicht einfach die Füße hoch. Sonst stirbst du schneller als du denkst!“ Und deshalb sitzt er jetzt vorsorglich hier in diesem Kurs in einem Haus für Erwachsenenbildung in Bielefeld und lässt sich zum Rentner ausbilden.

Handwerkszeug für einen gelingenden Übergang lernen - klappt das?

„Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne. Vorbereitung auf den Ruhestand“ heißt das dreitägige Seminar, das es auch im Wochenformat gibt. Es soll „Handwerkszeug für einen gelingenden Übergang in den Ruhestand“ vermitteln. Es geht um „Säulen der Identität“, um die Kunst des „Loslassens“, um Geschlechterrollen, Selbstbestimmung, aber auch Ethik, Patientenverfügungen und das Vererben. Mehr als 57.000 Anträge auf Altersrente wurden in NRW im Jahr 2023 bei der Deutschen Rentenversicherung gestellt. Das entspricht einem Anstieg von mehr als 50 Prozent im Vergleich zu 2013.

Wäre Rentner ein Ausbildungsberuf, stünde er damit mit weitem Abstand auf Platz eins der Jobliste. Dahinter käme der Bürokaufmann mit gerade einmal 5500 Neuabschlüssen im Jahr. Schon heute leben Schätzungen zu Folge etwa 3,6 Millionen Rentner in Nordrhein-Westfalen, in den kommenden Jahren wird die Zahl auf 3,9 Millionen steigen. Grund sind die geburtenstarken Jahrgänge der sogenannten Babyboomer, die alle in den kommenden zehn Jahren in den Ruhestand gehen.

Ein Mann im dunkelgrauen Hemd guckt in die Kamera.

Alan ist Neurentner, sucht aber noch nach dem passenden Inhalt für seine neu gewonnene Freiheit. Ideen hat er viele, aber auch Zweifel. Sein Hoffnungen ruhen auf der Gegenwart. „Im Grunde muss man als Rentner leben wie ein Hund.“

Die große Zahl der Neulinge erhöht die Anfragen nach einer Orientierung, sagt Angela Hanswillemenke, Fachbereichsleiterin Politische Erwachsenenbildung beim Haus Neuland in Bielefeld. Dort bietet man neben klassischem Bildungsurlaub seit geraumer Zeit deshalb den Einführungskurs in die Rente ein, fast immer sei man ausgebucht, die Wartelisten sind lang. Etwa zweihundertfünfzig Menschen schult man so pro Jahr. Auch Gewerkschaften und die Volkshochschulen haben den Markt der orientierungslosen Ruheständler entdeckt. Das große Interesse führt Hanswillemenke auch auf die gestiegene Lebenserwartung zurück. „Früher durften die Leute mit etwa zehn Jahren Rente rechnen, heute sind es im Durchschnitt fast doppelt so viele. Es gibt Senioren, die haben gar 30 Jahre vor sich. Da stellt sich einfach die Frage: Was mache ich mit dieser langen Zeit? Welches Potenzial steckt noch in mir? Und: Was bin ich überhaupt noch wert, wenn ich nicht mehr arbeite?“

Was bin ich überhaupt noch wert, wenn ich nicht mehr arbeite?

Keine Chefansagen mehr. Keine Fragen mehr nach dem Budget. Niemand mehr da, der nach der eigenen Expertise dürstet, erst nach Absprache Entscheidungen trifft. Dirk aus Köln wird das fehlen, da macht er sich nichts vor. „So ein Renteneintritt ist für mich wie eine Scheidung“, wiederholt der 60 Jahre alte Mann an diesem Nachmittag in Bielefeld mehrfach. Natürlich, vielleicht ist es am Ende auch eine Befreiung, das sei ja auch bei Partnerschaften manchmal so. Aber erst einmal fallen viele Gewohnheiten weg, viel Struktur, dafür müsse es ja nun nicht einmal Liebe gewesen sein.

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Was tun im Ruhestand? Wenn der Wecker nicht mehr klingelt und die Bürozeiten die Zeit nicht mehr in Wochenpäckchen einteilt? Sport und Reisen fällt da vielen als erstes ein.

Und auch Alan kennt den Moment der Melancholie, obwohl er eigentlich einige Jahre durchaus freudvoll auf den Moment des Abschieds hingearbeitet habe. „Eines Tages als ich im Parkhaus meiner Firma aus meinem Wagen gestiegen bin, guckte ich mich um und wurde richtig traurig. Ich merkte plötzlich, wie sehr ich mich mit dem Unternehmen identifiziere, mit der Tätigkeit, mit den Kolleginnen und Kollegen.“ Ganz Abschiednehmen konnte Alan deshalb am Ende doch nicht. Zwei Tage arbeitet er vorerst als Externer bei seiner Firma weiter. Langsame Ablösung.

Da wabert viel Schmerz durch die Tagungsräume in Bielefeld. Es ist viel die Rede vom „Ende eines prägenden Lebensabschnitts“, von einem Loch, in das man zu fallen fürchte, von dem Verlust von Sinn, von Wertlosigkeit. Die gegenwärtige Bundesregierung befeuere das. Deutsche Rentner, so sagte der CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann unlängst in einer TV-Diskussion, arbeiteten zu wenig. Zumindest rund 30 Prozent weniger als dänische Senioren. Wie soll man so ein Menschenleben beziffern, das jahrzehntelang gewohnt war, nach dem Bruttosozialprodukt oder wenigstens der abgeleisteten Arbeitsstunden berechnet zu werden? Was bleibt, wenn die Effektivität ins Minus rutscht?

Manchmal löse diese Rechnung nicht weniger als einen Schock aus. „Gerade bei den Menschen, die heute in Rente gehen, sehen wir häufig, dass sie ihr Leben lang auf diesen Tag hingeschuftet haben. Die haben all ihre Energie in die Erwerbsarbeit gesteckt. Und dann soll das mit dem Ruhestand aus dem Nichts heraus klappen. Das ist aber gar nicht so leicht“, sagt Hanswillemenke. Sie empfiehlt daher einen „sanften Übergang“. Oder zumindest die Auseinandersetzung damit, dass auch Rentnern gelernt sein will.

Angela Hanswillemenke vom Haus Neuland in Bielefeld

Angela Hanswillemenke von der Politischen Erwachsenenbildung im Haus Neuland in Bielefeld. Sie sagt: „Es gibt Senioren, die haben  30 Jahre Rente vor sich. Da stellt sich einfach die Frage: Was mache ich mit dieser langen Zeit? Welches Potenzial steckt noch in mir? Und: Was bin ich überhaupt noch wert, wenn ich nicht mehr arbeite?“

Besonders anspruchsvoll: Jeden Morgen den Knopf zum Anschalten des Motors finden, wenn Geldverdienen als Antrieb wegfällt. „Wer im Leben kein Ziel hat, verläuft sich“, mahnte der Philosoph Immanuel Kant. Und deshalb sucht auch Doris fieberhaft. Grundsätzlich ist sie ganz guter Dinge, was den Ruhestand betrifft. Seit Januar schlägt sie sich ziemlich gut unausgebildet durch. „Das Seminar im vergangenen November, das ich gerne vor Renteneintritt besucht hätte, war leider ausgebucht“, sagt die 64-Jährige, die aus Hamburg angereist ist. Einmal die Woche betreut sie den Hund ihres Cousins. Mittelpudel, karamellfarben, „ein Blick, der in die Knie zwingt“. Aber trotzdem stöbert sie noch nach etwas Wichtigem. „Mir fehlt das Thema Sinn“, sagt sie. 44 Jahre lang habe sie sehr leistungsorientiert gelebt, Dauerstress, oft 55 Stunden in der Woche, jetzt vermisst sie die Struktur. „Ich leide zum ersten Mal in meinem Leben unter Aufschieberitis. Es fällt mit schwer, die Dinge zeitnah abzuarbeiten.“ Man habe ihr zum Ehrenamt geraten, die Tafeln, natürlich, die bräuchten jede helfende Hand. „Aber irgendwie ist mir diese Lösung zu einfach. Ich will schon meinen Kopf weiter nutzen.“ Doris‘ neuste Idee: Sich psychologisch schulen lassen und vielleicht bei der Telefonseelsorge anheuern.

Die Sorge vor der Einsamkeit

Kontakt zu Menschen ist jedenfalls ein Bedürfnis, das die meisten Teilnehmer hier auf jeder Mindmap dick unterstreichen würden. Denn bei diesem Stichwort lauert auch eine Angst vieler Neurentner, sagt Hanswillemenke: „Die Sorge vor Einsamkeit ist ein riesiges Thema. Schließlich fallen mit der Erwerbstätigkeit auch viele soziale Kontakte weg. Das ist häufig gerade für Männer eine Bedrohung, denn viele haben gar kein richtiges zweites Standbein wie die Familienarbeit, Hobbies oder einen privaten Freundeskreis, das sie dann noch trägt.“ Auch Doris kennt die Gefahr: „Ich merke schon jetzt, dass ich mich aktiv um Kontakte bemühen muss. Früher kam ich ins Büro und alle waren da. Heute gehe ich aus der Tür und da steht niemand, der auf mich gewartet hat.“

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Nicht selten sind an den Ruhestand hohe Erwartungen verknüpft - von Seiten der Kinder, die die Großeltern als Kinderbetreuer eingeplant haben.

Und dann gibt es aber natürlich auch das Gegenteil. Da lauern Wegelagerer mit großen Erwartungen und einem Haufen Aufgaben am Rentnereingangstor: Hanswillemenke erzählt zum Beispiel von einem Paar, das sich vorgenommen hatte, nach Ende der Erwerbsarbeit ein Wohnmobil zu kaufen und erstmal ein Jahr durch die Welt zu reisen. „Und dann schwappte eine riesige Empörungswelle der Tochter über ihnen zusammen. Die wohnte in der Stadt, hatte einen anstrengend Job und Kinder und eigentlich erwartet, dass Oma und Opa mindestens zweimal wöchentlich als Babysitter zur Verfügung stehen.“ Was zu tun sei? Auf jeden Fall Abgrenzung, ein Kompromiss, sagt Hanswillemenke. „Natürlich kann man als Großeltern auch Aufgaben übernehmen, aber niemand sollte einen zwingen, Lebensträume aufzugeben.“ Doris erheitert das Beispiel. Sie hat durchaus Freundinnen, die in derlei Zwängen alt würden. Für sie wäre das keine Option. „Wenn ich ein Kind hätte, dürfte mich das sehr gerne anrufen und fragen, ob ich Zeit habe. Aber bitte drei Tage vorher und immer wissend, dass ich vielleicht Nein sage.“

Die Freuden: Kein Wecker mehr, endlich durchatmen

Natürlich bietet so ein Seminar auch eine Bühne für die Freude. „Erleichterung, dass der Druck weg ist“, steht da zuweilen an den Pfeilenden der Mindmaps, die die Gruppe gemeinsam erarbeitet. „Durchatmen“. „Kein Wecker mehr“. „Nicht mehr funktionieren müssen“. Bernhard, 61, freut sich vor allem darauf, dass er sich nicht mehr über seine Chefs ärgern muss. „Dass ich dann selbst darüber bestimmen kann, worüber ich mich ärgere“, sagt er und lacht. Fahrrad will er fahren, seine Fotos sortieren, sich mehr um seinen pflegebedürftigen Vater kümmern. Deutschland entdecken. „Es gibt so viele Ortsnamen, von denen habe ich noch nie gehört. Die könnte man dann alle erkunden.“ Als wäre das Seminar hier ein Obstgarten und Bienen trügen fleißig Befruchtendes hin und her. Denn was Bernhard überlegt, könnte vielleicht auch für Dirk passend sein. Ein Pool an Möglichkeiten, aus dem jeder schöpfen kann, was ihm hübsch erscheint.

Reginas Augen leuchten sehr hellblau, wenn sie über das baldige Ende ihres Leitungsjobs in einer Kindertagesstätte redet. Die Ideen stolpern aus ihrem Mund wie Erstklässler am Tag vor den Ferien aus dem Schulgebäude. Unkoordiniert, übermütig, in freudiger Erwartung auf das, was da kommt: Tanzen, Kunst, Theater. Rezeption, aber auch eigenes Schaffen. „Ich habe extrem viele Ideen, mich zu verwirklichen.“

Bleibt noch der Faktor Zeit. Denn was den Lebensabschnitt Ruhestand für viele zu einem zwiespältigen macht, ist seine Positionierung. Das Ende ist sichtbar, es ist der letzte Akt, der nun beginnt, bevor der Vorhang fällt. Und hier wird es kniffelig. Denn einerseits hat man so viel frei einzuteilende Zeit wie seit frühester Kindheit nicht mehr. Andererseits wird der Sand im Stundenglas auch knapp. Und dabei müsse man nicht einmal ans Ableben denken. „Wir wissen doch, dass die Welt ab 70 etwa einfach kleiner wird. Dann tritt bei vielen Lustlosigkeit ein, Krankheiten häufen sich, aber auch wer gesund ist, bleibt plötzlich einfach gern zu Hause“, sagt Alan. Es ginge ihm deshalb als Rentner mehr denn je um die Gegenwart. Um diesen Tag. Denn nur im Jetzt finde das Leben statt, wie lange es noch währt, sei aus dieser Perspektive irrelevant. Alan will seine Kraft deshalb gar nicht mehr so sehr in die Suche nach dem nächsten Projekt  investieren. Es ist eher eine Metamorphose des Geistes, die er anstrebt: „Im Grunde muss man als Rentner lernen zu leben wie ein Hund. Spielen, weil man jetzt spielen will. Nach einer Wurst schnappen, auf die man in diesem Moment Appetit hat. Was nützt es, dauernd an Morgen zu denken? Viel besser sei doch, sagen zu können: Heute ist ein schöner Tag.“