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„Gesellschaftlich hochrelevant“Texte von Haftbefehl sollen Goethe in NRW-Schulen ergänzen

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Der Rapper Haftbefehl bei einem Aufritt. Der 39-Jährige ist für viele Jugendliche ein Vorbild.

Der Rapper Haftbefehl bei einem Aufritt. Der 39-Jährige ist für viele Jugendliche ein Vorbild. 

NRW-Grünenchef Tim Achtermeyer will Haftbefehls Leben und Texte im Unterricht behandeln. Er sieht darin eine Chance für kritische Bildung.

Mit bürgerlichem Namen heißt er Aykut Anhan, aber seit 2006 nennt sich der Rapper Haftbefehl. Nach dem Suizid seines Vaters wurde er kriminell, mit 15 Jahren erstmals zu einem Jugendarrest verurteilt. Haftbefehl behauptet, schon in seiner Kindheit mit dem Kokain-Konsum begonnen zu haben. In seinen Texten geht es oft um Drogen, den Ärger mit der Polizei, um Frauen und Statussymbole. Zahlreiche Vokabeln sind aus dem Türkischen, Arabischen und Kurdischen entnommen.

Viele Jugendliche, die sich selbst in prekären Lebenslagen befinden, fühlen sich von der Musik des Gangster-Rappers in ihrer Realität abgeholt. Ein Phänomen, das Tim Achtermeyer, Landeschef der NRW-Grünen, jetzt nutzen will. Er schlägt vor, das Leben von Haftbefehl und seine Songs im Schulunterricht zu besprechen. „Ich bin froh, wenn junge Menschen ihren Unterricht mitgestalten wollen und dafür gesellschaftlich relevante Themen vorschlagen“, sagte der Politiker aus Bonn dem „Kölner Stadt-Anzeiger“.

Das Leben des Rappers soll kritisch in Schulen thematisiert werden

Der Aufstieg und Absturz des Rappers sei „gesellschaftlich hochrelevant“, erklärte Achtermeyer: „Es geht um das Leben von Menschen, die sich nie ganz dazugehörig fühlen, um das schnelle Geld, um Gewalt, Drogen und Familie. Das Leben von Haftbefehl ist keine Anleitung zum Glücklichwerden – im Gegenteil. Gerade deshalb sollte es kritisch in Schulen thematisiert werden dürfen“, so der Landesvorsitzende der NRW-Grünen.

All jenen, die in der Beschäftigung mit den Texten eine Verlockung zum Drogenkonsum sehen würden, rate er, nochmal in ihre eigenen Schullektüren zu schauen. „,Wir Kinder vom Bahnhof Zoo‘ war alles andere als eine Geschichte über eine vorbildliche Lebensweise“, erklärt Achtermeyer. „Der Besuch der alten Dame“ erzähle vom kollektiven Umgang mit einem Mordauftrag, bei „Antigone“ gehe es um die Beerdigung bei lebendigem Leib, und der junge Werther nehme sich das Leben. „Nichts davon sollte uns ein Vorbild sein. Deshalb ist es so wichtig, dass sich Schülerinnen und Schüler damit auseinandersetzen“, bekräftigt Achtermeyer.

Tim Achtermeyer, Landesvorsitzende der NRW-Grünen, sitzt vor einem Plakat für die Kommunalwahl.

Tim Achtermeyer, Landesvorsitzende der NRW-Grünen, sitzt vor einem Plakat für die Kommunalwahl.

Gerade weil sich viele Jugendliche von Haftbefehl verstanden fühlten und seine Lieder „ohnehin in den Ohren“ hätten, sei eine kritische Auseinandersetzung und Analyse seiner Texte – zu Frauenbildern, Gewalt, Drogen und auch den Vorwürfen des Antisemitismus – absolut notwendig. „Ich ermuntere die Lehrerinnen und Lehrer in NRW, auf die Wünsche von Schülervertretern einzugehen und die Dokumentation über den Rapper Haftbefehl und seine Texte im Unterricht kritisch zu thematisieren und mit den Schülern darüber zu sprechen“, betont der Grünen-Chef.

Schulministerium sieht Spielraum im Lehrplan

Die Texte des Rappers dürften viele Menschen nur schwer verstehen können. In dem Song „Ich rolle mit meinem Besten“ heißt es:

In-die-Fresse-Rap, jetzt gibt's Heckmeck
Fick-deine-Mutter-Mucke, das ist die Message
Aus Flex wird Crack, so wie gewohnt
Magic Rezept, doch nix Harry Potter, Hundesohn

Das NRW-Schulministerium unter Leitung von Dorothee Feller (CDU) steht dem Vorstoß jedenfalls nicht ablehnend gegenüber. Wie die Lehrkräfte ihren Unterricht im Einzelnen ausgestalten, würden diese in NRW in „eigener Verantwortung“ entscheiden, sagte ein Sprecher unserer Zeitung. Den Rahmen dafür setzten die sogenannten kompetenzorientierten Kernlehrpläne, die in allen Fächern ausreichend Spielräume lassen würden, „um aktuelle Debatten und Entwicklungen im Unterricht zu behandeln“.

Hessisches Kultusministerium hält Haftbefehl für „keinesfalls geeignet“

Inhaltliche Bezüge zur Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler könnten grundsätzlich einen Beitrag dazu leisten, den Anspruch aus Paragraf 2 des Schulgesetzes einzulösen, wonach der Unterricht „die Lernfreude der Schülerinnen und Schüler erhalten und weiter fördern“ soll. „Entscheidend ist jedoch, dass die Lehrkräfte ihre Unterrichtsinhalte nach pädagogischen Kriterien altersgerecht auswählen, didaktisch sinnvoll aufbereiten und in den gesellschaftlichen Kontext einordnen“, sagte der Sprecher.  

Der Rapper Aykut Anhan, alias Haftbefehl, posiert am 14.07.2016 vor einem Interview für die Kamera. Seit einigen Jahren tritt er nur noch vermummt auf, da sein Gesicht durch massiven Kokainkonsum gezeichnet ist.

Der Rapper Aykut Anhan, alias Haftbefehl, posiert am 14.07.2016 vor einem Interview für die Kamera. Seit einigen Jahren tritt er nur noch vermummt auf, da sein Gesicht durch massiven Kokainkonsum gezeichnet ist.

Der Rapper Haftbefehl wurde 1985 in Offenbach geboren. Auch hessische Schüler hatten sich dafür ausgesprochen, seine Texte zum Unterrichtsstoff zu machen. Das hessische Kultusministerium erteilte dem Ansinnen jedoch eine klare Absage. Weder die Texte des Rappers, noch sein kontroverses Auftreten in der Öffentlichkeit stünden im Einklang mit dem Bildungs- und Erziehungsauftrag, den die Schulen erfüllen, hieß es. Er sei „keinesfalls geeignet“, eine Vorbildfunktion für Heranwachsende zu erfüllen.

Rap kann ein Zugang zu jugendlichen Lebenswelten sein

Ayla Celik, Vorsitzende der Bildungsgewerkschaft GEW, erklärte, es sei in Schulen durchaus üblich, dass auch problematische Texte im Unterricht behandelt werden können. „Rapmusik – wie die von Haftbefehl – kann ein guter Zugang zu Lebenswelten Jugendlicher sein, die diese Texte zu Hause sowieso hören. Die Schülerinnen und Schüler fühlen sich einerseits ernst genommen und auf der anderen Seite lernen sie, wie Klischees, Gewalt oder Rollenbilder produziert werden, wie Realität und Kunstfigur sich möglicherweise unterscheiden und nicht zuletzt, welche Wirkung Sprache haben kann“, sagte Celik.

Was Haftbefehls Biografie betrifft, so bietet diese Anknüpfungspunkte zu Themen wie Migration und Mehrsprachigkeit, soziale Ungleichheit, und Diskriminierung: „Damit kann sein Leben zum Ausgangspunkt werden, um strukturelle soziale Themen kritisch zu beleuchten.“