Pressestimmen zum Wagner-Aufstand„Wladimir Putin blickte am Samstag in den Abgrund“

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Wladimir Putin, Präsident von Russland, während seiner Ansprache an die Nation. Er äußerte sich am Samstag (24. Juni) zum bewaffneten Aufstands des Chefs der Söldnerarmee Wagner, Jewgeni Prigoschin.

Wladimir Putin, Präsident von Russland, während seiner Ansprache an die Nation. Er äußerte sich am Samstag (24. Juni) zum bewaffneten Aufstands des Chefs der Söldnerarmee Wagner, Jewgeni Prigoschin.

Wie werden die Ereignisse rund um den Aufstand der Wagner-Söldner und Jewgeni Prigoschin bewertet? Die internationalen Pressestimmen.

Seit Freitagabend haben sich die Ereignisse in Russland überschlagen. Der Chef der Söldner-Truppe Wagner, Jewgeni Prigoschin, probte den offenen Aufstand und ließ seiner wochenlangen Kritik an der Heeresführung Taten folgen. Die Wagner-Söldner nahmen Armee-Stützpunkte auf russischem Staatsgebiet ein und rückten Richtung Moskau vor.

Präsident Wladimir Putin sprach in einer TV-Rede von „Verrätern“ und „terroristischen Methoden“. Die Verursacher müssten zur Rechenschaft gezogen werden. Die Sicherheitsmaßnahmen in Moskau und anderen Städten wurden massiv erhöht.

Dann jedoch war der Wagner-Aufstand nach dieser massiven Eskalation beendet. Offenbar gab es einen Deal des Kreml mit Prigoschin: Dieser stoppt seinen Aufstand und geht nach Belarus. Das Strafverfahren gegen ihn wird eingestellt, wie Kreml-Sprecher Dmitri Peskow am Samstagabend mitteilte.

Wie werden die Ereignisse in Russland bewertet? Wir haben internationale Pressestimmen gesammelt.

„The Sunday Times“: Chaos in Russland erhöht Siegchancen der Ukraine

„Das Durcheinander in Russland gibt dem ukrainischen Präsidenten Selenskyj und seinem Volk einen starken Auftrieb, wenngleich er sich nicht zu früh freuen sollte. Die kürzlich gestartete ukrainische Gegenoffensive konnte noch nicht die entscheidenden Siege erringen, auf die einige gehofft hatten. Prigoschins vorläufiger Rückzug eines Großteils seiner Streitkräfte aus der Ukraine wird dabei aber nützlich sein. (...)

Sollte das gestrige Chaos den Anfang vom Ende Putins markieren, so besteht natürlich Sorge hinsichtlich der Frage, wer ihm nachfolgen wird. Im Moment sollten wir die Ereignisse in Russland mit vorsichtigem Optimismus betrachten. Für die Ukraine und ihre Unterstützer - und sie wird noch viel mehr Unterstützung brauchen - kann ein zerstrittener Feind nur ein gutes Zeichen sein. Es erhöht die Chancen auf einen letztendlichen ukrainischen Sieg. Das können wir alle nur begrüßen.“

„Tages-Anzeiger“: Wladimir Putin könnte Kriegsrecht verhängen

„Auch wenn Prigoschins Putsch nun definitiv abgesagt sein dürfte, wird nach dem Aufstand nichts mehr so sein wie vorher. Die Zeit der Wagner-Soldaten ist abgelaufen, diejenige Prigoschins wohl auch: Zu offen hat er sich heute gegen Putin gestellt. Der Präsident erscheint nach dem Drama vielen als geschwächt, die Leute sind verunsichert.

Allerdings könnte die Entwicklung auch in die andere Richtung gehen: Man munkelt, dass der Kreml nun das Kriegsrecht in Russland verhängen und Putin die Vorfälle dafür nützen könnte, das Falken-Lager, das ihn immer offener und unverfrorener kritisiert hat, in die Schranken zu weisen. Deshalb ist noch nicht klar, wer letztlich als Sieger aus dieser Krise hervorgehen wird. Und schließlich ist auch die Frage noch offen, wie es überhaupt zu diesem Aufstand kommen konnte. Und warum ein klassischer Putin-Gefolgsmann wie Prigoschin sich gegen seinen Herrn gestellt und damit alles riskiert hat.“

„NZZ“: Wladimir Putin hat Russland destabilisiert

„Ein militärischer Aufstand im eigenen Land. Eine schlimmere Wendung konnte die ursprünglich geplante handstreichartige Unterwerfung der Ukraine kaum nehmen. Putin hat Russland und die eigene Herrschaft destabilisiert statt gestärkt. Das Kriegsziel rückt in weite Ferne. Ist das der Beginn des Niedergangs von Wladimir Putins Regime? Geht nun der Krieg bald zu Ende? Diese Fragen – diese Hoffnungen – bewegen derzeit Millionen von Menschen rund um die Welt.

Das ist nur zu verständlich: Jene Tage, an denen Präsident Putin und sein fürchterlicher Krieg in die Geschichtsbücher eingehen werden, können keinen Moment zu früh kommen. (...) In der Ukraine blickt man derweil mit unverhohlener Schadenfreude nach Osten. Die Ereignisse dieses Wochenende werden, so viel steht fest, den Gegner schwächen. So sehr dies zu begrüßen ist, eine Niederlage garantiert das noch nicht.“

„The Guardian“: Bedrohung für Ukraine und Euroa wird nicht weniger

„Prigoschin und die mit ihm verbündeten Kräfte waren nicht in der Lage, Putins Macht direkt anzufechten, selbst wenn sie es gewollt hätten. Indirekt haben sie jedoch bereits gezeigt, wie schwach diese Macht ist. Eine bewaffnete Truppe zog durch Südrussland und forderte die Anerkennung durch die staatlichen Behörden. Das ist weit entfernt von der Machtfülle, wie Putin sie so lange aufrechterhielt. (...)

Es ist zwar eine gute Nachricht für Kiew, dass einige russische Streitkräfte vorübergehend abgelenkt wurden, doch sollte sich niemand einbilden, dass diese Entwicklung die Bedrohung für die Ukraine und Europa verringern wird.“

„The Washington Post“: Putin blickte am Samstag in den Abgrund

„Präsident Wladimir Putin blickte am Samstag in den Abgrund (...). Nachdem er Rache geschworen hatte für das, was er eine „bewaffnete Meuterei“ nannte, gab er sich mit einem Kompromiss zufrieden. Die Geschwindigkeit, mit der Putin nachgab, deutet darauf hin, dass sein Gefühl der Verwundbarkeit größer sein könnte, als Experten glaubten.

Putin mag sein Regime am Samstag gerettet haben, aber dieser Tag wird als Teil des Zerfalls Russlands als Großmacht in Erinnerung bleiben – was Putins wahres Vermächtnis sein wird. Putins Abkommen mit dem abtrünnigen Milizenführer Jewgeni Prigoschin wird wahrscheinlich bestenfalls ein vorübergehender Waffenstillstand sein.“

„Der Spiegel“: Prigoschin hat gekniffen

„Das absurd-gruselige Schauspiel ist vorüber, Prigoschin hat gekniffen, es bleiben nur mehr die Kratzer der Panzerketten auf dem Asphalt. In Wahrheit ist es nicht vorbei, es fängt alles erst an. An diesem Wochenende ist Putins politisches System, für alle sichtbar, in eine neue Epoche eingetreten. (...) [Prigoschin] hat die Schwäche des Kreml und die Angst des Mannes an der Spitze entblößt. 

Dafür spricht, zuallererst, die bizarre Absprache, die der belarussische Diktator Alexander Lukaschenko zwischen Prigoschin und dem Kreml vermittelt haben soll. Sie sieht vor: Straffreiheit für alle Beteiligten des militärischen Aufstandes (...) Und warum überhaupt ein Deal, wenn Putin Prigoschin doch noch Samstag früh des Verrats und terroristischer Methoden bezichtigt hat? (...)

Für die Schwäche von Putins Staat spricht aber auch die Leichtigkeit, mit der Prigoschins Truppen in den 24 Stunden zuvor vorgedrungen sind.“

„Neue Zürcher Zeitung“: Wagner-Chef führte Putins Schwächen vor

„Auf den ersten Blick sieht Prigoschin nach dem Verlierer aus. Seine Ziele erreichte er nicht. Weder wurde die militärische Führung abgesetzt, noch kann er die Gruppe Wagner im Krieg gegen die Ukraine als eigenständige Kampfeinheit fortführen. (...)

Ein echter Sieger ist aber auch Putin nicht. Es war ihm offenkundig nicht gelungen, Prigoschin frühzeitig klarzumachen, was er sich erlauben kann und was nicht. (...) Vor allem aber ließ er die Entwicklungen zu, die sich während zwölf Stunden im südlichen Russland abspielten. Zwei Jahrzehnte lang (...)  waren solche Szenen in Russland für unvorstellbar gehalten worden. Plötzlich war es möglich, dass eine aufständische Militäreinheit Schlüsselstellungen in einer Millionenstadt kontrolliert, ohne dass sich jemand dagegen wehrt.“ (cme/dpa)

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