Der Historiker Christopher Clark fordert ein wehrhaftes Europa und zugleich Gespräche mit Putin. Dem russischen Machthaber müsse man „pragmatisch“ gegenübertreten.
Starhistoriker Christopher Clark„Es gibt keine Zukunft Europas ohne Russland“

Historiker Christopher Clark: „Europa muss lernen, zusammenzuhalten und geschlossen zu handeln.“. /Hein Hartmann
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Sir Christopher Clark, Sie sind Welthistoriker und Preußen-Erklärer und haben nun ein Buch über einen Provinzskandal in Königsberg vor knapp 200 Jahren geschrieben – warum?
Königsberg war damals eine Provinzstadt und der Skandal um die beiden Prediger war ein Provinzskandal, der zudem unglaublich aufgebauscht wurde. Aber aus einem Provinzskandal kann man viel über die Welt lernen. Dieser Skandal zeigt uns, was die Menschen damals bewegte. Es geht um die Lage nach den Napoleonischen Kriegen und die zentrale Rolle der Religion. Die Menschen waren auf der Suche nach einer Versöhnung zwischen der Vernunft und dem Glauben. Es geht um die Beziehungen zwischen den Geschlechtern, also um Frauen- und Männerrollen in der damaligen Gesellschaft. Mich hat diese Geschichte fasziniert. Denn das war ein künstlicher Skandal. Es hieß, zwei lutherische Kirchenmänner, zwei Prediger, hätten eine illegale Sekte gegründet.
Und was passierte in dieser Sekte?
Zu dieser Sekte sollen insbesondere die Frauen aus den besten Familien Ostpreußens gehört haben. Und innerhalb der Sekte seien sexuelle Ausschweifungen passiert. Die zwei Prediger hätten ihre Gemeindemitglieder zu unsittlichen Handlungen angeregt. Laut den zeitgenössischen Berichten seien zwei junge Frauen an den Folgen exzessiver sexueller Erregung sogar gestorben – eine Diagnose, die heute medizinisch nicht mehr überzeugt. Es seien mehrere Kinder außerehelich geboren. In den Berichten wurden immer neue Details dazu erfunden. Die Männer kamen vor Gericht. Es gab eine große Geldstrafe. Sie wurden ihrer kirchlichen Ämter enthoben. Sie durften keine öffentlichen Ämter mehr bekleiden, kamen sogar ins Gefängnis. Dann gab es eine Revision, und es wurde festgestellt, dass diese ganzen Behauptungen fast ausnahmslos unbegründet waren.
Der Skandal fiel in sich zusammen.
Es hat keine Ausschweifungen gegeben, keine Unzucht. Die Mädchen, die angeblich an sexueller Erregung gestorben sind, sind in Wirklichkeit an anderen Krankheiten gestorben.
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Fast alles entspringt der Fantasie der Ankläger – was war deren Motivation?
Zu den Anklägern gehörten auch fortschrittliche Lichtgestalten der damaligen Zeit. Theodor von Schön war der Oberpräsident der Provinz Preußen. Er war ein Liberaler und gilt heute noch zu Recht als ein führender Vertreter des frühen Liberalismus in Preußen. Er ist eigentlich ein toller Typ. Aber in dieser Episode spielte er eine ambivalente Rolle. Er verstand sich zwar selbst als Verteidiger des Lichts gegen die Finsternis und Schwärmerei einer religiösen Sekte, hat aber in seinem Umgang mit diesem Fall eine gewisse Intoleranz gezeigt. Ja, er hat sogar durch seine persönlichen Einmischungen die Stimmung gegen die zwei Männer wesentlich verschärft.
Was haben diese beiden Prediger denn getan, wie traten sie auf, dass man ihnen das alles zuschrieb?
Das ist wie in vielen Mobbing-Situationen: Gemobbt werden exzentrische Menschen, Menschen, die Aufmerksamkeit auf sich ziehen, durch irgendetwas, was nicht der Norm entspricht. So ging es auch dem wichtigsten Charakter in dieser Geschichte. Johannes Ebel war als Prediger sehr begabt. Er predigte im sogenannten „erweckten Stil“. Das heißt, er machte Witze, dann lachten die Gemeindemitglieder. Dann kam auf einmal etwas Trauriges und alle hatten Tränen in den Augen, als nächstes fing er an zu singen. Er war sehr beliebt. Seine Kirche war voll, die der anderen Pfarrer wurden immer leerer. Die Altstädtische Kirche von Ebel war so voll, dass man sogar hölzerne Vorbauten anfügen musste, damit man die Leute aufnehmen konnte. Das weckte Neid bei den Kollegen. Zudem war er theologisch nicht ganz im Einklang mit dem postkantischen Rationalismus des Zeitalters. Er hatte einen warmen, herzlichen, lieblichen Glauben, der wenig mit dem kühlen theologischen Fakultätsrationalismus Königsbergs gemein hatte. Und dazu kam das Äußere: Ebel sah nicht nur sehr gut aus, noch dazu trug er seine Haare lang und gerade auf beiden Seiten des Kopfes mit einem Mittelscheitel. Alle sagten, er sehe wie eine Dame aus. Heute würde man ihn vielleicht queer nennen, damals beschimpften die Zeitgenossen ihn als Hermaphrodit, als Weibling, als Zwitterwesen.
Was war das für eine Beziehung zwischen Ebel und Ida von der Groeben – einer jungen, depressiven Witwe aus bester Familie?
Das ist eine absolut zentrale Beziehung in seinem Leben, und sie etabliert gewissermaßen das Szenario für den Skandal. Ida von der Groeben ist eine junge, gutaussehende Witwe, die in einen depressiven Zustand gefallen war. Damals gab es diesen Begriff nicht, man sprach von Melancholie. Sie sei der Melancholie anheimgefallen, aus der gesellschaftlichen Welt vollkommen verschwunden, von ihren Freundinnen nicht mehr gesehen. Ebel hat mit ihr gesprochen, und es stellte sich heraus, diese Melancholie hatte weniger mit dem frühen Tod ihres jungen Ehemannes zu tun, der im Krieg gegen Napoleon gefallen war, als mit den religiösen Zweifeln, die sie plagten. Sie war gepeinigt von dem Gefühl, sie könne Gott nicht genug lieben. Ebel sagte ihr, niemand könne Gott genug lieben! Wichtig sei, zu verstehen, dass man von Gott geliebt werde, damit finge alles an. Damit gewann sie wieder Bodenhaftung. Erschien wieder im Leben. Ebel hatte die für die damalige Zeit besondere Fähigkeit, ganz offen und ernst auf Augenhöhe mit Frauen zu kommunizieren. Das übte eine große Anziehungskraft auf die Frauen aus, die das anscheinend in vielen Fällen von ihren Männern nicht gewöhnt waren.
Haben Männer bis heute dazugelernt?
Wenn alle Männer etwas dazugelernt hätten, gäbe es nicht Fälle wie das Netzwerk um Jeffrey Epstein. Dann gäbe es keine Männer, für die der Missbrauch von jungen Frauen offenbar zum Repertoire einer gelungenen Männlichkeit gehört. Was aber ein großer Unterschied ist zwischen damals und heute: Heute gibt es Psychotherapeuten, es gibt Life Coaches, es gibt Eheberater und Eheberaterinnen, Paartherapien. Diese ganzen Rollen hat damals der Klerus übernommen. Der Prediger war die Anlaufstelle Nummer eins für Frauen in unglücklichen Ehen. Das war auch ein Risiko. Wenn eine Ehe scheiterte, gaben die Männer oft dem Pfarrer die Schuld.
Sie haben Epstein erwähnt, und damit sind wir dann sofort bei Donald Trump und der MAGA-Bewegung („Make America Great Again”). Nach der Trauerfeier für den ermordeten Charlie Kirk schien es so, als sei die Verbindung von MAGA und den Evangelikalen jetzt endgültig. Gleichzeitig ist Trump das Gegenteil eines religiösen Menschen, seine Verwicklung in die Epstein-Affäre kommt hinzu. Wie religiös ist der Rechtspopulismus?

Christopher Clark; Der britischer Historiker Christopher Clark
Copyright: ZDF und Tobias Schult
Wie im Biedermeier der 1830er Jahre gehört die Verbindung zwischen Religion und Politik aktuell wieder und unerwarteterweise zu den wichtigsten Themen unserer Gegenwart. Das verbindet uns mit dieser Zeit. Zu den USA: Die MAGA-Bewegung hat viele Schattierungen. Und diese religiöse Schiene ist ja nur ein Teil davon. Es gibt eine Konstellation von vielen verschiedenen Interessen um Trump. Die Christian Nationalists sind nur eine Gruppe. Dazu kommen die Tech-Utopisten wie Elon Musk und Peter Thiel, die libertäres mit faschistoidem Gedankengut verbinden. Das hat mit Christentum recht wenig zu tun. Dazu kommen dann eine Reihe von anderen Interessengruppen, die sich lose verbandelt haben. Die Fliehkräfte innerhalb der Bewegung zeigen sich aktuell an der neuen Feindschaft zwischen Trump und Marjorie Taylor Greene. MAGA ist eine komplexe, widersprüchliche Bewegung. Das ist auch ein Argument gegen den Faschismusbegriff. Die Trump-Regierung als faschistisch zu bezeichnen, birgt die Gefahr, dass man der ganzen Sache zu viel Homogenität beimisst.
Alle faschistischen Bewegungen hatten ihre Widersprüche. Würden Sie den Begriff „faschistisch“ für Trumps Handlungen komplett ablehnen?
Im Moment ja. Wer von „Faschismus“ redet, zeichnet nach meinem Verständnis einen Weg vor, der in der totalitären Machtübernahme endet. Dieser Weg ist meines Erachtens noch nicht definitiv vorgezeichnet. Im Moment ist die Situation sehr offen. Ich plädiere dafür, den Versuch nicht aufzugeben, Trump und die Phänomene um ihn herum zu verstehen. „Faschist“ ist nicht allein eine historische Kategorie, sondern vor allem auch ein Kampfbegriff mit begrenztem Erkenntniswert.
Königsberg, die Stadt, in der Ihr Buch spielt, ist heute die russische Exklave Kaliningrad und ein Hotspot der hybriden Bedrohung der Nato durch Putin. Als wir vor zwei Jahren schon einmal miteinander sprachen, haben Sie sich für Verhandlungen ausgesprochen, Sie haben gesagt: „Sie müssen getrennt werden von dem Kriegsgeschehen selbst. Man kann nicht warten, bis man den Russen vertraut.“ Nun liegt ein Plan vor, der eher Misstrauen weckt. Gibt es überhaupt eine Basis für Friedensverhandlungen?
Die Frage ist berechtigt. Die Lage ist sehr unklar. Dieser Friedensplan war kein besonders guter Anfang, aber er ist ein Anfang. Der Krieg wird aufhören müssen. Die Ukraine leidet unglaublich. Die Menschen sind erschöpft. Der Frieden muss kommen, aber nicht um jeden Preis. Man sollte den Erfolg nicht an Quadratkilometern messen, sondern an der Sicherstellung einer freien, selbstbestimmten und lebensfähigen Ukraine. Das ganze Staatsgebiet von 1994 wird es vielleicht nicht sein, aber es muss ein unabhängiger Staat überleben.
Was erwarten Sie für das kommende Jahr? Eher den Frieden in der Ukraine oder eher eine weitere Eskalation? Wie wahrscheinlich ist ein großer Krieg in Europa?
Putin will den Europäern Angst einjagen. Natürlich muss der große Krieg vermieden werden. Das bedeutet dreierlei: Erstens, es müssen wieder Gespräche aufgenommen werden. Zweitens, es gibt keine realistische, menschliche Zukunft Europas ohne Russland. Wir werden Zukunftspläne finden müssen, in denen Russland einen Platz hat. Und drittens: Wir werden uns von dem Gedanken trennen müssen, es könne einen dauerhaften „Sieg“ über Russland geben. Vielmehr ist erstrebenswert, dass wir entschlossen Europa und seine Wertegemeinschaft verteidigen, politisch und militärisch. Wir haben es hier mit zwei gefährlichen Illusionen zu tun. Die eine ist der Wunsch, Russland dauerhaft zu „besiegen“. Die andere ist die größenwahnsinnige Vorstellung der russischen Ultranationalisten, man könne Europa das Genick brechen und damit die Welt in ein postwestliches Zeitalter überführen.
Wie resilient soll der Westen dem heutigen Russland gegenübertreten?
Europa muss lernen, zusammenzuhalten und geschlossen zu handeln. Im Moment scheitert Europa auf der ganzen Linie. Und das sind alles Signale an Putin: „Wir meinen es nicht ernst.“ Wenn aber die Europäer entschlossen auftreten, stark, einheitlich, aber auch klug und umsichtig, dann wird Putin anders agieren. Er ist kein Wahnsinniger. Bei aller berechtigter Empörung darf man die Staatschefs der Gegenwart nicht zu Unpersonen erklären. Man wird sich auch weiterhin pragmatisch mit ihnen auseinandersetzen müssen.


