Interview mit EU-RichterWarum Wladimir Putin vor ein Sondertribunal gehört

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Vor dem Russischen Haus der Wissenschaft und Kultur in Berlin hält eine Demonstrantin ein mit roten Farbtropfen bespritztes Plakat mit der Aufschrift „Putin is a Killer·“ (Putin ist ein Mörder) hoch

Protestplakat in Berlin

Der ukrainische Jurist Mykola Gnatovskyy, Richter am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), erklärt, wie der russische Präsident für seine Verbrechen zur Rechenschaft gezogen werden soll. 

Herr Gnatovskyy, wie wahrscheinlich ist es, dass Russlands Präsident Wladimir Putin wegen des Ukraine-Kriegs jemals vor einem internationalen Gericht landet?

Mykola Gnatovskyy, Richter am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in einer blauen Richterrobe.

Der ukrainische Jurist Mykola Gnatovskyy, Richter am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR).

Mykola Gnatovskyy: Ich bin kein Wahrsager, sondern Jurist. Wenn es je so weit kommt, dann soll alles dafür vorbereitet sein, dass ihm der Prozess gemacht werden kann. Als in den 1940er Jahren die entscheidenden Schritte in Richtung des späteren Nürnberger Tribunals gegen NS-Verbrecher gegangen wurden, konnte auch niemand wissen, ob und wann die Größen des Regimes vor ein internationales Gericht gestellt würden. Aber unweigerlich wird es Reaktionen internationaler Gerichtshöfe auf die Verbrechen geben, die in der Ukraine begangen werden – sei es gegen Einzelpersonen oder gegen Repräsentanten des russischen Militärs und des russischen Staates. Über kurz oder lang wird das internationale Recht, das gerade so massiv verletzt wird wie selten zuvor, obsiegen.

Auf welchem Weg?

Es gibt verschiedene Wege. Wir stehen vor der Situation, dass die diversen internationalen Gerichtshöfe jeweils eigene, begrenzte Zuständigkeiten haben. Der Europäische Gerichtshof (EGMR) für Menschenrechte befasst sich nur mit Menschenrechtsfragen. Der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) ist auf die Verbrechen von Individuen konzentriert, der Internationale Gerichtshof (IGH) auf die Verantwortung von Staaten. Der entscheidende Punkt aus meiner Sicht ist die persönliche Verantwortung – auch von Staatsführern. Die Vorstellung vom Staat als einem unpersönlichen institutionellen Gebilde ist eine Illusion.

Beim Verbrechen der Aggression ist die individuelle Verantwortung doch offensichtlich: Nur der Präsident eines Staates kann den Krieg gegen einen anderen befehlen.

Aber das muss ihm dennoch in einem fairen Verfahren nachgewiesen werden. Meine Jura-Studierenden frage ich gern: „Wer sagt Ihnen, dass es wirklich Putin war, der den Krieg befohlen hat? Vielleicht wurde er ja von jemandem gezwungen.“

Der Weg über den UN-Sicherheitsrat ist wegen der Veto-Macht Russlands eine Sackgasse
Richter Mykola Gnatovskyy

Der Kölner Völkerstrafrechtler Claus Kreß spricht mit Blick auf das Verbrechen der Aggression im Ukrainekrieg von einer beklagenswerten Lücke in der internationalen Rechtsarchitektur. Welche ist das?

Die Lücke besteht nicht in der Substanz, sondern in der Zuständigkeit. Dem IStGH sind die Hände gebunden, weil die Ukraine und vor allem Russland nicht zu den Vertragsstaaten des IStGH gehören. Das wäre aber die Voraussetzung dafür, dass der Chefankläger auch zum Verbrechen des Angriffskriegs selbst tätig werden kann. Zwar könnte der UN-Sicherheitsrat dem IStGH die Ausübung seiner Zuständigkeit erlauben, aber wegen der Veto-Macht Russlands ist dieser Weg eine Sackgasse.

Der Ausweg wäre ein Sondertribunal, wie es die EU-Kommission jetzt vorgeschlagen hat?

Das ist mein Vorschlag, den ich zusammen mit dem renommierten Völkerrechtler Philippe Sands detailliert ausgearbeitet und dem ukrainischen Außenminister zur Verfügung gestellt habe. Ein Sondertribunal würde die Aufgabe übernehmen, die der IStGH derzeit nicht erfüllen kann. Dessen bestehende Kompetenzen würden hiermit nicht in Frage zu gestellt.

Je breiter die internationale Basis für ein Ukraine-Sondertribunal, desto besser
Richter Mykola Gnatovskyy

Wie könnte ein solches Sondertribunal zustande kommen?

Es gibt verschiedene Optionen. Eine ist durch das „Modell Nürnberg“ vorgegeben: ein internationales Abkommen zwischen einer Reihe von Staaten zur Errichtung eines solchen Tribunals. In den 1940er Jahren genügten dafür ganze vier Staaten: die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs. Daran hatte damals niemand etwas auszusetzen, weil der Sinn eines Tribunals allgemein anerkannt war. Heute müsste es wohl eine ansehnlichere Zahl von Vertragsstaaten sein, und es sollten schon einige „Schwergewichte“ dabei sein, um dem Tribunal die erforderliche Legitimität zu geben. Je breiter die internationale Basis, desto besser. Zu denken ist auch an eine Empfehlung der UN-Generalversammlung. Das wäre ein besonders starkes Signal.

Welche andere Option gäbe es?

Denkbar wäre auch ein „Hybrid-Format“.

Was verstehen Sie darunter?

Ein nationales ukrainisches Gericht mit wesentlicher internationaler Beteiligung. Fraglos hätte die Ukraine jedes Recht, die gegen das Land und im Land begangenen Verbrechen juristisch zu ahnden. Aber die internationale Rechtsordnung macht es einem rein nationalen Gericht unmöglich, auch höchste Autoritäten anderer Staaten abzuurteilen. Diese Möglichkeit müsste ihm ausnahmsweise von der Staatengemeinschaft übertragen werden. Vorbild wäre vor allem das UN-Sondergericht für Sierra Leone, das seinerzeit gegen den zu diesem Zeitpunkt noch amtierenden Präsidenten Liberias, Charles Taylor, Anklage erhob und ihn dann wegen völkerrechtlicher Verbrechen verurteilte.

Wie weit gediehen sind die Pläne für ein Sondertribunal?

Ich halte mich einmal an das, was auf dem Tisch liegt. Es gibt zahlreiche Resolutionen internationaler parlamentarischer Versammlungen, die die Initiative unterstützen, zum Beispiel des Europäischen Parlaments, des Europarates und der OSZE.

Der Elefant im Raum ist unübersehbar
Rikchter Mykola Gnatovskyy

Der von Ihnen erwähnte Jurist Philippe Sands spricht mit Blick auf Hindernisse für die vorsorgliche Errichtung eines solchen Tribunals vom „Elefanten im Raum“. Gemeint ist der Irak-Krieg und die Sorge der daran beteiligten westlichen Nationen, namentlich der USA und Großbritanniens, dass sie selbst eines schönen Tages vor ein Sondertribunal gezogen werden.

Der Elefant ist unübersehbar. Aber: Die Ukraine ist aus verschiedenen Gründen nicht mit dem Irak nicht vergleichbar. Wir haben es mit einer Situation zu tun, die es seit 1945 nicht mehr gegeben hat: einem Eroberungskrieg eines Staates mit dem Ziel, sich einen anderen souveränen Staat einzuverleiben. Dieser ungeheuerliche Angriff nicht nur auf die Ukraine, sondern auch auf das Völkerrecht könnte den Elefanten verjagen, sprich zur Unterstützung eines Ukraine-Sondertribunals auch durch die USA führen. Zumal diese Unterstützung auf verschiedene Weise erfolgen könnte.

Woran denken Sie?

Ich sage es einmal so: Ein Ukraine-Tribunal vonseiten der US-Regierung nicht zu verhindern, würde schon viel helfen.

Was erwarten Sie von Deutschland?

Unter den führenden Nationen weltweit wird sich kaum ein Land finden lassen, dessen Einsatz für den Weltfrieden, das Völkerrecht und die internationale Sicherheitsarchitektur über die Jahrzehnte so konsistent und unzweifelhaft ist wie derjenige Deutschlands. Deutschland hat sich konstant für den IStGH in Den Haag und nicht zuletzt dessen Kompetenz für das Verbrechen der Aggression stark gemacht. Kein Land weiß aus seiner Geschichte heraus besser als Deutschland, wie bedeutsam es ist, Aggressoren vor Gericht zu bringen und persönlich zur Rechenschaft zu ziehen. Es wäre daher höchst sinnvoll, dass Deutschland eine Führungsrolle bei der Errichtung eines Ukraine-Sondertribunals übernimmt. Es wäre auch mitnichten ein Politikwechsel, sondern im Gegenteil die überzeugende Fortsetzung des Einsatzes Deutschland für die internationale Rechtsordnung.

Warum ist Berlin bislang so zögerlich?

Ich glaube, die Bundesregierung prüft die Frage noch. Eine Sorge könnte sein, dass ein Sondertribunal irgendwie die Kompetenz des IStGH tangiert. Ich glaube aber, dass diese Sorge unbegründet ist. Der IStGH war nie als juristischer Monopolist gedacht, sondern als eine zentrale Säule in einem internationalen Rechtsgefüge mit dem einen übergeordneten Ziel: Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und eben auch das Verbrechen der Aggression sollen nicht ungesühnt bleiben. Wenn ein Sondertribunal diesem Ziel im Falle Russlands und seiner Führung dienen könnte, würde dies den Einsatz des IStGH genau dort ergänzen, wo der Gerichtshof selbst nicht tätig werden kann. Damit würde das Gesamtsystem nur gestärkt.

Das Gespräch führte Joachim Frank

Mykola Gnatovskyy, geboren 1977, ist seit Juni Richter am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Der ukrainische Jurist war zuvor Professor an der Nationalen Universität Kiew und unabhängiger Berater des ukrainischen Außenministeriums.

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