Bei einem medienwirksamen Gespräch von Putin mit Soldatenkindern beschert ein Mädchen dem Kremlchef eine „peinliche Szene“.
Szene versehentlich gesendetElfjährige konfrontiert Putin live im Staats-TV mit Russlands Grausamkeit

Kremlchef Wladimir Putin trifft sich bei der Kranzniederlegung am 4. November 2023 mit Kindern und Jugendlichen auf dem Roten Platz. In diesem Jahr sorgte ein Mädchen dabei für eine seltene Szene. (Archivbild)
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Kindermund tut Wahrheit kund – das hat nun auch Wladimir Putin zu spüren bekommen. Während der Kremlchef am Dienstag (4. November) bei einer Kranzniederlegung vor laufenden TV-Kameras mit Kindern von Soldaten plauderte, konfrontierte ein Mädchen Putin mit den brutalen Missständen in der russischen Armee, die von Russlands Staatsmedien strikt verschwiegen werden.
Da ein russischer Sender diesmal jedoch live berichtete, schaffte es die seltene Szene ins TV – und sorgt nun für Aufsehen. „Mein Onkel ist gerade an der Front“, sagte die elfjährige Kira Pimenowa auf dem Roten Platz zum Kremlchef, wie die unabhängige russische Nachrichtenagentur Agentsvo berichtete.
„Er liegt im Krankenhaus, aber sie behandeln ihn nicht“
„Er wurde am Arm verwundet – er liegt im Krankenhaus, aber sie behandeln ihn nicht. Jetzt schicken sie ihn wieder zu einem Einsatz“, erklärte das Mädchen demnach weiter und fügte hinzu: „Ich würde mir wünschen, dass er in ein gutes Krankenhaus in Russland verlegt wird.“
„Wir werden ihn finden, okay?“, erklärte der Kremlchef daraufhin. Ihr Onkel heiße Anton Fisjura, habe die elfjährige Kira Pimenowa schließlich entgegnet, berichtete Agentsvo weiter. „Danke, dass du an ihn denkst, gut gemacht“, lautete Putins Antwort.
Elfjährige soll ihren Vater im Krieg verloren haben
Daraufhin habe der Kremlchef das Gespräch mit dem Kind beendet, hieß es weiter. Die Elfjährige soll den Recherchen zufolge im letzten Jahr bereits ihren Vater im Krieg in der Ukraine verloren haben, nun fürchtet sie offenbar um ihren Onkel.
„Die Rückkehr von Soldaten an die Front ohne angemessene medizinische Versorgung“ sei bei den russischen Streitkräften eine „weit verbreitete Praxis, über die im Staatsfernsehen nicht berichtet wird“, erklärte die unabhängige Nachrichtenagentur, die vom Kreml verboten wurde und aus dem Exil heraus berichtet.
„Peinliche Szene“ für Putin: Staatsmedien berichten nicht
„Das Video ist schnell von den Propagandakanälen verschwunden“, berichtete auch Belsat TV, ein vom öffentlich-rechtlichen Rundfunk in Polen für Zuschauer in Belarus produzierter Sender, auf der Plattform X über Moskaus Maßnahmen zur Vertuschung unbequemer Wahrheiten.

Wladimir Putin posiert für ein Foto mit Vertretern nationaler öffentlicher Vereinigungen, Jugend- und Freiwilligenorganisationen sowie Kindern von getöteten Soldaten. (Archivbild)
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Tatsächlich finden sich bei staatlichen und kremlnahen russischen Medien keine Berichte über die von Agentsvo als für Putin „peinliche Szene“ eingeordnete Unterhaltung zwischen dem Kremlchef und der Nichte des verwundeten Soldaten auf dem Roten Platz.
Berichte über Exekutionen und Folter in Putins Armee
Brutalität und Misshandlungen innerhalb der russischen Armee gelten jedoch durch mehrere Recherchen und Zeugenaussagen als belegt. Erst Ende Oktober hatte etwa das unabhängige Medium Verstka ein düsteres Bild von der Gewalt innerhalb der russischen Truppen gezeichnet und über zahlreiche Fälle von Folter und Exekutionen in Putins Armee berichtet.
Russische Kommandeure schicken ihre Soldaten bei Ungehorsam demnach regelmäßig auf „Todesmissionen“, auch tagelange Misshandlungen seien von Zeugen geschildert worden. In einigen Fällen seien in Ungnade gefallene Soldaten außerdem dazu gezwungen worden, gegeneinander in brutalen „Gladiatorenkämpfen bis zum Tod“ anzutreten, berichtete das preisgekrönte Nachrichtenportal, das mittlerweile im Exil operiert.
CNN: „Russland ‚recycelt‘ verwundete Soldaten“
Auch Berichte über die von dem Mädchen gegenüber Putin nun beschriebenen Missstände gibt es seit Beginn der russischen Invasion immer wieder. „Russische Soldaten werden ohne angemessene medizinische Versorgung wieder an die Front in Angriffseinheiten zurückgeschickt“, berichtete etwa das Investigativportal „Important Stories“ bereits 2023.
„Russland ‚recycelt‘ verwundete Soldaten und schickt einige an Krücken an die Front“, titelte unterdessen der US-Sender CNN im letzten Winter. Auch beim Magazin „Forbes“ war von „Krückenbataillonen voller hinkender Soldaten“ die Rede. Beide US-Medien veröffentlichten Aufnahmen, um ihre Recherchen zu belegen.
„Brutale, manchmal tödliche Demütigung“ als Tradition
Brutalität und Demütigungen der eigenen Soldaten seien innerhalb der russischen Armee eine „grausame Tradition“, die „Dedowschtschina“ genannt werde, ordneten die Sicherheitsexperten Christian Mölling und Andras Racz derartige Berichte für das ZDF bereits im letzten Jahr ein.
Seit den 1970er Jahren sei die „brutale, manchmal tödliche Demütigung und Schikane von neuen, wehrpflichtigen Soldaten“ weitverbreitet, erklärten die Experten. Da Moskaus Verluste im Kriegsverlauf stetig zugenommen, die Bereitschaft der russischen Männer, in die Armee einzutreten, jedoch abgenommen habe, kämen nun „immer brutalere Methoden“ zur Anwendung, um die „Disziplin und die Einsatzfähigkeit“ der Truppe aufrechtzuerhalten, erklärten Mölling und Racz.
Russland soll mehr als Million Soldaten verloren haben
Der Kreml hat Vorwürfe der Disziplinlosigkeit und Gewalt unter russischen Truppen und Kommandeuren unterdessen wiederholt zurückgewiesen. Auch zu eigenen Verlusten macht Moskau nahezu keinerlei Angaben – und wenn, dann fallen sie unglaubwürdig niedrig aus.

Russische Truppen feuern auf ukrainische Stellungen nahe Pokrowsk. (Archivbild)
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Bei der ukrainischen Armee ist unterdessen von mehr als einer Million verwundeten oder getöteten russischen Soldaten seit Kriegsbeginn die Rede, mehr als 236.000 davon soll Moskau allein in 2025 verloren haben. „Russland wird die Marke von einer Million Opfern erreichen – ein erschreckender und grausamer Meilenstein“, hieß es im Juni auch in einer Analyse des Center for Strategic and International Studies, einem sicherheitspolitischen Forschungsinstitut mit Sitz in den USA.
Pokrowsk: Putins Armee startet verlustreiche Offensive
Bis zum Jahresende könnten Russlands Verluste zudem noch einmal steigen: Putins Truppen haben kürzlich eine Offensive auf Pokrowsk gestartet. Berichten zufolge soll der Kremlchef seinen Streitkräften eine Frist bis Mitte November für die Eroberung der strategisch wichtigen ostukrainischen Stadt gesetzt haben.
Entsprechend hoch scheint bei russischen Kommandeuren nun die Bereitschaft zu sein, erneut zahlreiche tote und verwundete Soldaten in Kauf zu nehmen. Ukrainische Einheiten berichteten zuletzt von „gigantischen Verlusten“ auf russischer Seite und „Dutzenden Leichen am Straßenrand“ rund um Pokrowsk. Die Sorge der elfjährigen Kira Pimenowa um ihren Onkel scheint berechtigt zu sein.


