Vor 80 Jahren saßen in Nürnberg die NS-Hauptkriegsverbrecher auf der Anklagebank. Der Kölner Völkerrechtler Claus Kreß ordnet den Prozess ein.
Claus KreßVölkerrechtler erklärt „pikante Kölner Tangente“ des Nürnberger Prozesses

Die NS-Kriegsverbrecher Reichsmarschall Hermann Göring (Mitte) und Hitler-Stellvertreter Rudolf Heß (rechtst) auf der Anklagebank beim Nürnberger Prozess
Copyright: imago images/ITAR-TASS
Herr Professor Kreß, wenn Sie als Jurist an den Nürnberger Prozess vor 80 Jahren als den Ursprung des Völkerstrafrechts denken, was steht Ihnen dann besonders eindrücklich vor Augen?
Ganz sicher die Eröffnungsrede von Robert H. Jackson, dem Chefankläger der Amerikaner. Der vormalige Richter am Supreme Court der USA war die treibende Kraft des gesamten Unternehmens und hat sofort zu Beginn des Prozesses seine Vision umrissen – kraftvoll und mit Worten, die auf immer im Gedächtnis bleiben. „Dass vier große Nationen, erfüllt von ihrem Siege und schmerzlich gepeinigt von dem geschehenen Unrecht, nicht Rache üben, sondern ihre gefangenen Feinde freiwillig dem Richterspruch des Gesetzes übergeben, ist eines der bedeutsamsten Zugeständnisse, das die Macht jemals der Vernunft gegenüber eingeräumt hat.“ Ein großartiger Satz!
Was hätte die Macht ohne diese Konzession getan?
Die Macht hätte die NS-Prominenz kurzerhand hingerichtet. Das war keineswegs eine nur theoretische Option. Die Briten zum Beispiel standen der Idee eines Strafprozesses ausgesprochen skeptisch gegenüber.
Warum?
Wenn es einen Prozess geben sollte, dann nur nach rechtsstaatlichen Standards. Das war für die Briten ausgemachte Sache. Sie hatten aber die Sorge, dass ihnen der Prozess allein des Umfangs der angeklagten Verbrechen wegen aus dem Ruder laufen und den Angeklagten schlimmstenfalls eine große Bühne für Geschichtsklitterung und Propaganda bieten könnte. Deswegen plädierte kein Geringerer als Winston Churchill letztlich für „kurzen Prozess“ – sprich: für schnelle Exekutionen. Die Sowjets wiederum konnten einem Prozess zwar etwas abgewinnen – aber nur als Schauprozess. Darin hatte Stalin ja einige Übung.

Der Kölner Völkerrechtler Claus Kreß
Copyright: Internationaler Gerichtshof (IGH) / ICC-CPI
Wie kamen die Alliierten denn dann überein? Da stießen ja nicht nur verschiedene Rechtstraditionen aufeinander, sondern auch konträre Weltanschauungen.
Genau das war das Problem. Und diese letztlich unauflösbare Spannung, ja diese Konfrontation durchzog im Grunde den gesamten Prozess und brach immer wieder auf. Zum Beispiel an der Frage, ob ein Angeklagter als Zeuge für die Verteidigung aussagen und dann in ein Kreuzverhör gehen sollte. Für den amerikanischen und britischen Richter war das selbstverständlich. Dem sowjetischen Richter, der im Übrigen eine Art Weisungsempfänger Moskauer Direktiven war, erschien das als ein Unding. Am Ende konnte er sich aber nicht durchsetzen. Ebenso wenig wie bei der Festsetzung des Strafmaßes. Da lautete die politische Vorgabe aus Moskau: Todesurteile für alle! In beiden Fällen setzte sich letztlich der rechtsstaatliche Impetus durch – was zu den großen Denkwürdigkeiten dieses Prozesses gehört.
Die Freisprüche sorgten für Furore.
Es gab am Ende neben zwölf Todesurteilen sieben Haftstrafen und drei Freisprüche. Wie konnte das eigentlich passieren, dass drei der Angeklagten aus der NS-Führungsriege am Ende als freie Männer das Gericht verließen?
Das sorgte natürlich für Furore. Der brisanteste Fall war zugleich derjenige, der für die Sowjets am schwersten zu verkraften war: Dass Ex-Reichsbankpräsident Hjalmar Schacht, Finanzier des Regimes und zugleich Repräsentant des Großkapitals, zum Tode verurteilt werden müsse, war für sie ausgemachte Sache.
Aber?
Nun, das Gericht war sich einig, dass Schacht für die Finanzierung der deutschen Aufrüstung mitverantwortlich war, also für die wirtschaftliche Grundlage der späteren Angriffskriege. Aber nach Überzeugung der Richter ließ sich nicht nachweisen, dass Schacht in seiner Amtszeit Mitte der 1930er Jahre mit dem Wissen gehandelt hatte, dass die Rüstungsfinanzierung dem 1939 entfesselten Krieg dienen würde. Daher: Im Zweifel für den Angeklagten – Freispruch.
Es gab unbestreitbar Elemente von Siegerjustiz.
Sollte damit vielleicht auch der Nachweis erbracht werden, dass der Vorwurf der „Siegerjustiz“ nicht stimmte?
Es gab unbestreitbar Elemente von Siegerjustiz. Die Anklage wurde ausschließlich von den Siegermächten geführt, und nur sie waren auf der Richterbank vertreten. Im Prozess blieb im Übrigen außen vor, dass auch die Sowjetunion Angriffskriege geführt hatte, den „Winterkrieg“ 1939/40 und vor allem den im Ribbentrop-Molotow-Plan sogar mit Hitler-Deutschland abgesprochenen Überfall auf Polen. Diese Defizite zu leugnen, wäre Schönfärberei. Polen und auch die baltischen Staaten beklagen heute in Anbetracht des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine zu Recht den Missstand der Schonung der Sowjetunion in Nürnberg.
Und dennoch, der Freispruch für Schacht und andere war ein Umstand, der den Vorwurf der Siegerjustiz entkräften half. Zwischen Robert H. Jackson als US-Anklagevertreter und dem US-Richter Francis B. Biddle entstand während des Prozesses übrigens fast so eine Art professionelle Feindschaft. Jackson war zum Beispiel überhaupt nicht damit einverstanden, wie entgegenkommend das Gericht in vielen Fällen die Anträge der Verteidigung behandelte. Apropos Verteidigung: Hier gibt es auch eine spannende wie historisch pikante Kölner Tangente.
Welche?
Die bedeutendste Grundsatzrede für die Riege der Verteidigung hielt der Völkerrechtler Hermann Jahrreiß. Er war als Professor in Köln dem großen Rechtstheoretiker und Völkerrechtler Hans Kelsen nachgefolgt, den die Nazis 1933 seiner jüdischen Herkunft wegen von seinem Lehrstuhl vertrieben hatten. Während der Nazi-Zeit war Jahrreiß Verfasser sehr unrühmlicher Texte gewesen. Kelsen wiederum, der 1940 ins US-Exil ging und dann in Berkeley/Kalifornien lehrte, beriet von dort aus die US-Anklagevertreter. Es kam in Nürnberg also sozusagen zu einem Fernduell dieser beiden so gegensätzlichen Kölner Juristen. Jahrreiß zentraler Einwand lautete, der Anklagepunkt „Verbrechen des Angriffskriegs“ – oder nach damaliger Formulierung „Verbrechen gegen den Frieden“ – verstoße gegen das sogenannte Rückwirkungsverbot. Die Angeklagten würden einer Straftat beschuldigt, die es 1939 noch gar nicht gegeben hatte.
Die Stimmung kippte recht bald.
Da hatte Jahrreiß einen Punkt, oder?
Ja, hatte er. Der Angriffskrieg war zwar 1939 völkerrechtlich geächtet, aber die Strafbarkeit war tatsächlich noch nicht fest im Völkerrecht verankert. Indem man in Nürnberg den letzten Schritt in diese Richtung tat, musste man das Rückwirkungsverbot mindestens arg strapazieren. Hans Kelsen wies freilich kühl darauf hin, dass 1939 auch das Rückwirkungsverbot noch nicht fest im Völkerrecht verankert war.
Wie stand eigentlich die deutsche Öffentlichkeit zum Nürnberger Prozess?
Es gab interessanterweise viel Verständnis, dass die Hauptverbrecher um Hermann Göring – Hitler, Himmler und Goebbels hatten sich ja bereits das Leben genommen – vor Gericht gestellt wurden. Das wurde verbreitet durchaus als ein Akt notwendiger Reinigung empfunden, womöglich auch ein wenig in der Hoffnung, das werde stellvertretend für die vielen wirken, die sich auch schuldig gemacht hatten. Die Stimmung kippte freilich schon recht bald, bei den Nürnberger Folgeprozessen, die vor allem vor US-Militärtribunalen geführt wurden und gewissermaßen das gesamte Spektrum des NS-Unrechtsregimes abbilden sollten – bis hin zum Außenministerium, etwa mit dem Verfahren gegen Ernst von Weizsäcker. Da hieß es dann bis hinein in intellektuelle Kreise wie den um die „Zeit“-Herausgeberin Marion Gräfin Dönhoff: Jetzt überzieht ihr! Und dann folgte der deutsche „Gnadeneifer“ oder gar „Gnadenfuror“, der sich mit einer hierzulande lange fortdauernden „Schlussstrich-Mentalität“ verband.
Das eklantanteste rechtsstaatliche Defizit ist sicher die Verhängung der Todessstrafe.
Hat der Nürnberger Prozess unter Jacksons Maßgabe „Vernunft geht vor Macht“ sein Ziel erreicht?
Ich würde sagen: Ja. Das Verfahren ist dem Gericht nicht entglitten, es konnte den immensen Stoff nach damaligen Standards mit rechtsstaatlichen Maßstäben bewältigen, und das in der beachtlich kurzen Zeit von nicht ganz einem Jahr.
„Nach damaligen Standards“, sagen Sie. Was war aus heutiger Sicht defizitär?
Das eklatanteste Defizit ist sicher die Verhängung der Todesstrafe. Man war 1945/46 aber eben noch sehr weit entfernt von der heute weltweit vorherrschenden Ablehnung der Todesstrafe. Deshalb wäre es bei den in Nürnberg verhandelten Verbrechen kaum möglich gewesen, der Öffentlichkeit zu vermitteln: Hier verzichten wir auf die Todesstrafe. Das wäre wohl ein zu großes Zugeständnis der Macht an die Vernunft gewesen. Für die Rechte der Verteidigung würden heute ebenfalls andere Maßstäbe gelten. Aber wie gesagt, für damalige Verhältnisse ging das Gericht hier schon beachtlich weit – zum wiederholten Missfallen der Ankläger.
Es ist bitter, dass die Amerikaner darauf zielen, ihr eigenes großes Erbe zu zerschlagen, das ‚Vermächtnis von Nürnberg‘
Fällt Ihre Bewunderung auch deshalb so groß aus, weil das Völkerstrafrecht heute unter so großem Druck steht?
Es ist bitter, 80 Jahre nach Nürnberg zu erleben, dass es in aller erster Linie die Amerikaner sind, die dem Völkerstrafrecht heute das Leben so schwer machen und damit darauf zielen, ihr eigenes großes Erbe zu zerschlagen, das „Vermächtnis von Nürnberg“. Man denkt hier unweigerlich an einen weiteren Schlüsselsatz aus Robert H. Jacksons historischer Eröffnungsrede. Der lautete sinngemäß so: Wenn das große Experiment, das wir hier unternehmen, für die Weltordnung der Zukunft Wirkung entfalten soll, dann müssen wir in vergleichbaren Fällen künftig regelmäßig so vorgehen – und wenn es sein muss, auch gegen Angehörige derjenigen Nationen, die heute hier auf der Richterbank sitzen.

Der US-Chefankläger in den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen, Robert H. Jackson, aufgenommen 1946 (Archivfoto)
Copyright: picture-alliance/ dpa/dpaweb
In der 1998 vollzogenen Gründung des ersten ständigen Weltstrafgerichts, des Internationalen Strafgerichtshofs hallte auch dieser eindringliche Nürnberger Ausruf nach. Doch in dem Moment, in dem die von Jackson beschworene Situation erstmals zum Tragen kam – nämlich mit Ermittlungen gegen Soldaten der US-Armee und Angehörige der CIA wegen des Vorwurfs der Folter im Zusammenhang mit dem Afghanistan-Einsatz –, begann die Trump-Administration mit ersten Strafmaßnahmen gegen den Gerichtshof in Den Haag.
Und jetzt, da es den israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu als engen Verbündeten trifft, geht Trump so weit, den Chefankläger, dessen beide Stellvertreter und inzwischen sechs Richter zu sanktionieren sowie das ganze Gericht zu bedrohen – ein Gericht, das gewiss nicht jeden Fehler vermieden hat, aber im Kern nichts anderes tut, als Jacksons feierliches Versprechen von Nürnberg einzulösen.

