„Forgotten Baby Syndrome“Wie kann es passieren, dass Eltern ihr Kind im Auto vergessen?

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Niedliches kleines Mädchen, das mit einem Sicherheitsgurt im Autositz befestigt ist. Durch Glas geschossen.

Immer wieder kommt es vor, dass Eltern ihre Kinder im Auto vergessen. Warum?

„Forgotten Baby Syndrome“ – wenn Eltern ihre Kinder vergessen. Das Phänomen ist gerade bei hohen Temperaturen gefährlich. Was steckt dahinter?

Vor wenigen Tagen ist in Hessen ein 18 Monate altes Kind an Überhitzung gestorben, nachdem es sein Vater allein im Auto zurückgelassen hatte. Die Polizei ermittelt wegen des Anfangsverdachts der fahrlässigen Tötung – vermutlich hatte der Mann sein Kind ganz einfach im Wagen vergessen. Die Tragödie ist kein Einzelfall.

Es gibt sogar einen eigenen Begriff für das Phänomen: Das „Forgotten Baby Syndrome“ (auf Deutsch: Vergessenes-Baby-Syndrom). Um ein echtes Syndrom in Form einer psychischen Diagnose handelt es sich dabei allerdings nicht. Sondern nur um eine Formulierung, um viele ähnlich gelagerte Fälle zu beschreiben.

Das eigene Kind im Auto zu vergessen muss nicht immer tödlich enden. Doch schon bei etwas höheren Temperaturen droht Lebensgefahr. Für Deutschland gibt es keine offizielle Statistik dazu, wie viele Kinder wegen Überhitzung in Autos gestorben sind. In den USA sollen es laut der Seite noheatstroke.org zufolge aber durchschnittlich 38 pro Jahr sein. Die Fälle sollen sich häufen, seit Kindersitze wegen der Gefahr durch Airbags nicht mehr auf dem Beifahrersitz befestigt werden.

„Forgotten Baby Syndrome“: Gedächtnis der Eltern funktionierte normal

Laut einer Veröffentlichung von 2020 hatte in den USA die Hälfte von 125 befragten Eltern, die ihr Baby im Auto zurückgelassen hatten, dies nicht absichtlich getan, sondern ihr Kind vergessen. Dabei halten die Autorinnen und Autoren fest, dass die meisten Eltern psychisch und kognitiv keine Auffälligkeiten zeigten, sondern vollkommen normal funktionierten. Das Vergessen eines Kindes im Auto kann offenbar die Folge der normalen Funktion des Arbeitsgedächtnisses sein.

Der amerikanische Physiologieprofessor David Diamond erforscht das „Forgotten Baby Syndrome“ seit Jahren. Er meint, eine noch genauere Erklärung gefunden zu haben, warum Menschen so etwas Wichtiges wie ihr eigenes Kind vergessen können – selbst wenn sie es dabei einer tödlichen Gefahr aussetzen.

Wie Diamond vor einigen Jahren gegenüber der „Washington Post“ erklärte, werden tägliche Routinetätigkeiten, wie das Fahren mit dem Wagen zur Arbeit, meist nahezu unbewusst ausgeführt. Gesteuert würden diese von den Basalganglien, die für motorische Tätigkeiten zuständig sind. In einer Situation unter Stress, durch Änderungen in der Routine oder emotionale Ablenkung könne das Bewusstsein für die eigenen Handlungen geschwächt sein.

Es werde mit aktuellen Gedächtnisinhalten von dem Routineprogramm zurückgedrängt, das wie ein „Autopilot“ übernimmt. Solange sich ein Kind auf dem Rücksitz dann nicht durch Schreien bemerkbar macht, könne man es beim Aussteigen aus dem Wagen vergessen.

„Forgotten Baby Syndrome“: Kann auch liebevollen Eltern passieren

Dabei wird die Gedächtnisfunktion anscheinend nicht in erste Linie davon beeinflusst, ob es sich um mehr oder weniger fürsorgliche Eltern handelt. Wie aus dem „Washington Post“-Artikel hervorgeht, kann der Fehler ganz unterschiedlichen Arten von Müttern und Vätern passieren. Zwar kann das absichtliche Zurücklassen von Kindern auch Teil eines vernachlässigenden Verhaltens sein. Vor dem Gedächtnisausfall, also einem Versehen, sind aber offenbar auch ansonsten liebevolle Eltern nicht sicher.

Mehrere Autohersteller wollen amerikanische Wagen bis 2025 mit einem Warnsystem ausstatten, das ein Signal gibt, wenn Kinder auf dem Rücksitz vergessen werden. Helfen kann es auch, auf dem Beifahrersitz bewusst Kindersachen liegenzulassen, auf die beim Aussteigen der Blick fällt, oder Klebezettel zur Erinnerung zu befestigen. Ein weiterer Tipp ist es, sich routinemäßig anzugewöhnen, auf die Rückbank zu sehen – egal, ob man mit seinem Kind unterwegs ist, oder nicht. (rnd)

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