„Generation Tinder“Beziehungsunfähig? Wir doch nicht!

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Ein bisschen verrückt? Ja! Beziehungunfähig? Nein!

Wir sind alle ziemlich krank zurzeit. Die neue In-Diagnose lautet: beziehungsunfähig. In Scharen pilgern junge Menschen in diesen Tagen zu den Lesungen von Michael Nast, der den Bestseller „Generation Beziehungsunfähig“ geschrieben hat. Sein erster Blogeintrag zum Thema legte im vergangen Jahr den Server des Magazins „Im Gegenteil" lahm. Beim „Single-Papst“, wie Journalisten ihn tauften, gibt es nämlich die Absolution: Du bist „beziehungsunfähig“ – du kannst nichts dafür, dass da niemand ist, der mit dir durchs Leben geht.

Es gehe nicht um „das richtige Schmerzmittel“ für uns, „chronische Selbstoptimierer“, schreibt Nast gegen Ende seines Buches, sondern „um Heilung“. Das ist aus verschiedenen Gründen bemerkenswert: Wieso muss unser „Single-Dasein“ pathologisiert werden? Als sei das ein Mangel oder eine Krankheit. Als seien wir wirklich diese beiden Kugelhälften aus diesem kitschigen Gleichnis, die alleine unvollkommen  sind. Zum Glück ist das heute nicht mehr so: Wir können ganz gut alleine durchs Leben rollen, manchmal sogar besser und schneller.

Unsere Generation ist nicht beziehungsunfähig

Außerdem: Unsere Generation ist nicht beziehungsunfähig, wenn man denn auf diesen Begriff bestehen will. Kaum eine Generation vor uns hat so viel Wert auf Beziehungen, auf Familie, auf Freunde, auf Zwischenmenschliches gelegt. Freunde zu haben und einen festen Partner, dem wir vertrauen können, das zeigt auch die letzte Shell-Jugendstudie, ist uns am allerwichtigsten. Wir treten heute eher im Job kürzer – um der Beziehung willen, als dass wir unsere Beziehung aufs Spiel setzen für die nächste Karrierestufe.

Generation Biedermeier in der Altbauwohnung

„Generation Biedermeier“ hat das Rheingold-Institut uns einmal getauft. Wir seien besessen von Treue, von festen Strukturen und Sicherheit in der Liebe,  weil die Zeiten ja so stürmisch seien, dass wir uns an ihr festhalten müssen. Ein Haus mit Garten, zwei Kindern und einem Hund, das sei unsere Vorstellung von Glück. Kein Wunder, dass Annenmaykantereit, die Band der Stunde, singt: „Ich würd‘ so gern mit dir in ‚ner Altbauwohnung wohn', zwei Zimmer, Küche, Bad und ‚n kleiner Balkon.“

Baby und Johnny tanzen heute Foxtrott

Natürlich ist unsere romantische Vorstellung von Liebe ein Ideal, das wir niemals erreichen werden. Aber: Das wissen wir auch. Wir wissen, dass nach der letzten Hebefigur in „Dirty Dancing“ erst einmal keine mehr kommt. Wahrscheinlich tanzen Baby und Johnny inzwischen sogar Foxtrott.

Aber deswegen muss man nicht gleich den Blues von der Beziehungsunfähigkeit anstimmen. Für Michael Nast ist das Nonplusultra, wie für viele andere junge Menschen, die Beziehung der Eltern: „Als wir am Sonntag durch die menschenleeren Straßen liefen, begann ich mein Leben mit dem Leben meiner Eltern zu vergleichen, an welcher Stelle sie standen, als sie in meinem Alter waren. Sie waren verheiratet, hatten ein Haus, Kinder und zwei Autos, alles war geordnet. Sie waren weiter als ich. So gesehen bin ich gnadenlos gescheitert. Und damit bin ich nicht allein.“

Wir müssen nicht den Heinz aus der Dorfdisco heiraten

Aber nur weil wir nicht den Heinz heiraten, der zwei Straßen weiter wohnt, denjenigen, der uns in der Dorfdisco das erste Mal geküsst hat, heißt das nicht, dass wir nicht lieben können. Nur weil wir mit Mitte 30 in einer wilden Ehe mit Juan leben, den wir in Kolumbien kennengelernt haben oder in einer Fernbeziehung mit Nina, die wir bei Tinder nach rechts gewischt haben, heißt das nicht, dass wir beziehungsunfähig sind. Wir leben einfach nur andere Arten von Beziehungen.

Hinzu kommt: Bei uns passiert alles viel später als bei unseren Eltern. Wir studieren länger, wir starten später in den Beruf, wir können es uns erst später leisten, ein eigenes Zuhause einzurichten. „Weshalb fühlen wir uns mit dreißig noch immer nicht alt genug für eine Familie?“, fragt Michael Nast. Vielleicht weil wir noch immer in einer WG wohnen, weil wir gerade erst selbst von unserem Lohn leben können.  Es kann auch ziemlich erwachsen sein, zu entscheiden, dass „später“ besser ist als „jetzt“.

Wer verschickt eigentlich diese ganzen Hochzeitseinladungen?

Und: Es gibt sie nach wie vor, die jahrelangen glücklichen Beziehungen, auch unter den „30-Somethings“. Von wem kommen sonst diese ganzen Einladungen zu riesigen Hochzeitsfeiern, die nach und nach in unseren Briefkasten flattern? Ob aus Berlin-Kreuzberg, Quadrath-Ichendorf oder London-Hackney.

Ja, wir arbeiten in Berlin, feiern in Barcelona, machen ein Sabbatical auf Bali. Aber: Die Konstante im Leben vieler junger Menschen ist früher oder später ein Partner oder eine Partnerin. Dass die- oder derjenige perfekt ist oder für immer bleibt, hat ja niemand behauptet. Ob Generation Y, Tinder, Praktikum oder Biedermeier: Wir sind bestimmt vieles, beziehungsunfähig aber ganz sicher nicht.  

Michael Nast: Generation Beziehungunfähig, Edel, 239 Seiten, 14,95 Euro.

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