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Kind, Karriere, HausWarum 30-Jährige nicht alles schaffen müssen

Lesezeit 5 Minuten
Ohne Kind und Karriere: Viele 30-Jährige sind heute froh, wenn sie es schaffen, sich selbst zu versorgen.

Ohne Kind und Karriere: Viele 30-Jährige sind heute froh, wenn sie es schaffen, sich selbst zu versorgen.

Bis Ende 20 scheint alles möglich: Das Leben? Hat noch nicht richtig angefangen, ist ein Zwischenzustand, eine Verheißung, eine Achterbahnfahrt: Wohnungen wechseln wie die Länder, wie die Jobs, vielleicht auch wie die Partner. Manche Umzugskisten werden nie ausgepackt, lohnt sich ja nicht. Bloß nicht festlegen, bloß nicht anhalten, bloß nicht Wurzeln schlagen.

Scheitern wird in den Zwanzigern eher verziehen

Vor allem das Scheitern wird in den Zwanzigern eher verziehen – dann ist man ja nicht nur beruflich, sondern beziehungsmäßig und überhaupt in der Probezeit. Wer jetzt glaubt, dass sei nur das „First-World-Problem“ der Weicheier-Generation-Y, dem sei Ingeborg Bachmanns Erzählung „Das dreißigste Jahr“ aus dem Jahr 1961 empfohlen: Bislang habe er nur „auf Probe, auf Abruf“ gelebt, schreibt die österreichische Schriftstellerin über ihren 30 werdenden Protagonisten. „Die Welt schien ihm kündbar, er selbst sich kündbar“. In der heutigen Generation hat sich dieser Grundsatz noch einmal deutlich potenziert: Es muss ja weitergehen, nächstes Praktikum, nächstes Projekt, nächste Party, mehr Nacht als Tag - und dann wacht man auf an seinem 30. Geburtstag – und ist auf einmal nüchtern.

Der Kater am Morgen des 30. Geburtstags

Das fühlt sich an wie ein Kater, der die letzten Jahre Rausch absorbieren muss. Der Blick in den Spiegel ist jetzt klar, nicht mehr verschwommen. Da steht man tatsächlich mitten im Leben, das immer noch aussieht wie ein WG-Zimmer zur Zwischenmiete – und alle erwarten, dass man jetzt erwachsene Dinge tut oder sagt, Verbindlichkeiten schafft, wo keine sind, Sicherheiten herstellt, wo es keine gibt.

Plötzlich wird alles hinterfragt, was gestern noch schön und aufregend war. Beim Klassentreffen reden gefühlt alle auf einmal davon, dass sie „gerade gebaut“ oder „gerade abgestillt“ haben. Was einem früher egal war, ist heute wichtig. Wegen der 3 vor der 0 muss alles anders werden. Plötzlich ist „alles“ nichts.

Der ständige Blick auf die Defizite

Der Blick richtet sich nur noch auf die Defizite - keine Karriere, kein Mann/ keine Frau, kein Kind, kein Haus - und nicht auf das mit Nebenjobs finanzierte Studium, nicht auf das Auslandsjahr in einem Entwicklungsland, nicht auf den Jobeinstieg in einer schwierigen Branche oder die selbst renovierte Wohnung, die meistens glückliche Fernbeziehung. Die Bilanz fällt anders aus, weil man - jetzt aber wirklich - erwachsen ist.

Kind und Karriere: Alle wollen alles - deswegen dauert alles länger

Dabei vergessen viele, dass das alles früher, in der Zeit der Eltern und Großeltern, eben doch klar auf zwei Menschen verteilt war: Mann gleich Karriere, Frau gleich Kind. Und jetzt wollen beide beides – und das ist gut so. Aber deswegen dauert eben auch alles länger – und das muss man akzeptieren.

Weitaus komplizierter als das Brotverdiener-Hausfrau-Modell

„Durch das Zweiverdienermodell müssen beide Partner ihre beruflichen Pläne räumlich und zeitlich synchronisieren, was weitaus komplizierter ist als im 'Brotverdiener-Hausfrau-Modell', in dem der Mann seiner Karriere und die Frau der Versorgung der Familie nachgingen“, schreiben die Wissenschaftler Martin Bujard und Ralina Panova. „Rushhour des Lebens“ lautet der Titel ihres Dossiers zur Familienpolitik der Bundeszentrale für politische Bildung.

Erwachsen-Sein in prekären Verhältnissen

Hinzu kommt: „Der Berufseinstieg ist schwierig und der Wettbewerb härter, und es müssen lange Phasen ökonomischer Unsicherheit gerade in der Lebensphase akzeptiert werden, die bei der Entscheidung für Kinder eigentlich Sicherheit benötigt“, schreibt der Soziologie-Professor Hans Bertram über die heutigen Mittdreißiger in seinem Aufsatz „Keine Zeit für Liebe“. „Prekär“ ist das Prädikat, mit dem das Leben der heute 30-Jährigen wohl am häufigsten bewertet wird.

In viel weniger Zeit viele mehr leisten

Durch längere Ausbildungs- und Studienzeiten, die jetzt Frauen wie Männer ausnutzen, verkürzt sich außerdem die Zeitspanne extrem, in dem die Meilensteine im Leben abgehakt werden sollen. Bertram erklärte in einem Interview mit dieser Zeitung: „Die heutigen jungen Männer und Frauen sind praktisch gefordert, in fünf Jahren das zu leisten, was ihre Eltern und Großeltern in zehn Jahren geleistet haben“. Das Leben als Treppe, die Stufe für Stufe hoch und dann wieder herunter gegangen werde – das funktioniere nicht mehr, so Bertram. Den heutigen Mittdreißigern hat er zusammen mit Caroline Deuflhard ein eigenes Buch mit dem bezeichnenden Titel „Die überforderte Generation“ gewidmet.

Pause von der Rush-Hour: Hin und wieder aussteigen

Zu allem Überfluss tickt die biologische Uhr im Hintergrund zunehmend lauter, aber der Stress, mit dem manch Getriebene um die 30 gleichzeitig dem Kinderkriegen und Karrieremachen gerecht werden wollen, ist grenzwertig. Können wir uns nicht alle ein bisschen entspannen? Wissenschaftler Bertram plädierte im Gespräch dafür: „Es ist doch vorstellbar, dass man zwischendurch im Leben Pausen einlegt, um eine Ausbildung zu machen oder für jemanden zu sorgen. Und das über den Lebenslauf so verteilt, wie man es subjektiv gut findet“. Also vielleicht erst auf die Karriere setzen und dann auf das Kind - oder umgekehrt.

Oder vielleicht macht man doch erst einmal die immer wieder aufgeschobene Südamerika-Reise? Alles auf einmal aber geht meistens nicht. Schon Bachmanns namenloser Fast-30-Jähriger hatte den heimlichen Wunsch danach, auf die Bremse zu treten: „Er wagt nicht zu sagen, daß er lieber langsamer fahren möchte, daß er plötzlich Furcht hat vor jeder Geschwindigkeit. Er hat es nicht eilig, in ein geordnetes Leben zu kommen.“

Vielleicht geben die 30-Jährigen von heute sich noch ein bisschen Zeit. Sogar Bachmanns Protagonist gesteht sich das schließlich zu: „Damals hatte er gemeint, alles schon zu Ende denken zu können, und hatte kaum gemerkt, daß er ja erst die ersten Schritte in eine Wirklichkeit tat, die sich nicht gleich zu Ende denken ließ und die ihm noch vieles vorenthielt.“

Das Leben ist länger ein Auf und Ab

Wenn man die Unsicherheit umarmt, mit dem Nicht-Konzept „von-Projekt-zu-Projekt“ sein Leben meistert, und akzeptiert, dass man in der Rushhour des Lebens eben auch mal im Stau stecken kann, ist das doch auch schon ziemlich verantwortungsbewusst. Das Modell „Lebenstreppe“ jedenfalls existiert schlicht und ergreifend nicht mehr. Das Leben ist heute länger ein Auf und Ab, ein Experiment, ein Abenteuer. Wir fahren jetzt länger Achterbahn – und das kann ja auch Spaß machen.

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