Hey du, lass das!Darf man fremde Kinder zurechtweisen?

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Illustration: Eine Frau beschimpft ein Kind mit erhobenem Zeigefinger

Pädagoginnen und Pädagogen sehen es kritisch, wenn Kinder von Fremden zurechtgewiesen werden.

Was tun, wenn Kinder sich in der Öffentlichkeit störend verhalten und die Eltern nichts dagegen tun? Ob und wie man fremde Kinder zurechtzuweisen sollte, ist eine heikle Angelegenheit.

Ein etwa siebenjähriges Kind sitzt mit seiner Mutter in einer Regionalbahn. Während der gesamten Fahrt schreit das Kind und imitiert lautstark die Geräusche von Tieren und Maschinen. Auf dem Sitz gegenüber versucht ein Mann zu lesen. Neben ihm sitzt eine Frau mit Karteikarten in der Hand, die der Mutter immer wieder vielsagende Blicke zuwirft. Doch die tut nichts, sondern schaut aus dem Fenster. Hätten die Fahrgäste das Kind selbst zurechtweisen dürfen?

Psychologin Caroline Bechmann rät ab. „Als außenstehende Person weiß ich nie, wieso sich ein Kind auf diese Art und Weise verhält“, sagt sie. Kinder, die ADHS haben oder autistisch sind, könnten sich zum Beispiel meist nicht gut anpassen. Wenn fremde Personen von dem Kind dann verlangten, ruhig zu sein, sei das also schlicht unrealistisch.

Zunächst die Eltern ansprechen

Pädagogin Susanne Mierau betont, dass Kinder selten mit Absicht stören. Sie könnten ihre Emotionen einfach noch nicht so gut regulieren wie Erwachsene. Wenn sie also zum Beispiel aufgeregt sind und deshalb laut sprechen, schaffen sie es oft nicht, sich zu beruhigen. „Kinder haben andere Bedürfnisse als Erwachsene, das sollten wir uns immer klarmachen“, mahnt Mierau. Die Umgebung mache es Eltern jedoch oft schwer, auf die Bedürfnisse ihrer Kinder einzugehen. „Die Städte sind sehr eng bebaut und es gibt viel zu wenige kinderfreundliche Bereiche in Zügen und Restaurants“, sagt die Pädagogin.

Strafen und Maßregelung wirken sich negativ auf das Selbstbild von Kindern aus.
Caroline Bechmann, Psychologin

Bechmann und Mierau sehen es eher kritisch, wenn Kinder von Fremden zurechtgewiesen werden. „Strafen und Maßregelung wirken sich negativ auf das Selbstbild von Kindern aus“, meint Bechmann. Sie empfiehlt, zuerst die Eltern anzusprechen, wenn ein Kind im öffentlichen Raum andere Menschen stört. Die hätten schließlich die Hauptverantwortung für ihre Kinder.

Verschiebung von Werten

Sollte man ein Kind also auch dann nicht zurechtweisen, wenn es einen selbst oder das eigene Kind beispielsweise auf dem Spielplatz mit Sand bewirft? Die Expertinnen räumen ein, dass es in manchen Fällen notwendig ist, fremde Kinder direkt auf ihr Verhalten anzusprechen. Nämlich dann, wenn sie die eigenen Grenzen überschreiten. „Wenn man mit den Kindern spricht, sollte man bei eigenen Empfindungen bleiben und Ichbotschaften verwenden“, sagt Mierau. Auch Bechmann empfiehlt, von sich selbst auszugehen. Statt „Hör auf, mich mit Sand zu beschmeißen!“ würde man etwa sagen: „Ich möchte nicht mit Sand beschmissen werden, das tut mir weh.“

Auch Malte Brinkmann rät dazu, die Eltern darauf anzusprechen, wenn Kinder sich störend verhalten. Er ist Professor für Erziehungswissenschaft an der Berliner Humboldt-Universität. „Sie haben schließlich per Gesetz den Erziehungsauftrag“, meint er.

Im Gespräch mit den Eltern könne allerdings schnell eine Diskussion über allgemeine Regeln und Werte entstehen. Denn wie sich Kinder verhalten sollten, werde immer unklarer. „In unserer Gesellschaft gibt es immer weniger verbindliche Werte und Normen“, so Brinkmann. Wer ein fremdes Kind tadeln will, kann sich also nicht darauf berufen, dass das Kind gegen solche allgemeingültigen Regeln verstößt. Das sei auch ein Grund dafür, dass die Frage so emotional so aufgeladen sei.

Tadel ist wichtiger Bestandteil von Erziehung

Ähnlich sieht das Bettina Hannover, Psychologin und Professorin an der Freien Universität Berlin. „Wir leben in einer individualistischen Kultur, die kaum allgemeine Verhaltensregeln und Werte für Kinder festlegt“, sagt sie. Fremde Kinder zu kritisieren werde heute als übergriffig empfunden, weil davon ausgegangen wird, dass nur die Eltern wissen, welche Bedürfnisse ihre Kinder haben.

Sie selbst sieht diese Einstellung kritisch. Dennoch würde sie nicht empfehlen, fremde Kinder eigenmächtig zu tadeln. Denn Kinder wüssten genau, wer ihnen etwas zu sagen hätte und wer nicht. „Es bedarf einer bestimmten Rolle, um ein Kind zu kritisieren oder zu tadeln“, so die Psychologin. Das seien neben den Eltern zum Beispiel Lehrkräfte, Erzieherinnen und Erzieher.

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Grundsätzlich sei Tadel in der Erziehung jedoch sehr wichtig, sagt Hannover. „Wenn Kinder sich inakzeptabel verhalten, sind Erwachsene meiner Meinung nach moralisch verpflichtet einzugreifen“, so die Psychologin. Diese Meinung vertritt auch Brinkmann: „Wenn ich zum Beispiel beobachte, wie ein Kind ein anderes rassistisch beleidigt oder mobbt, muss ich als Erwachsener eingreifen.“ (RND)


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