Laut, wild, anstrengendWarum Jungen so einen schlechten Ruf haben

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Jungs sind wilder, toben mehr, sind anstrengender - oder?

Köln – „Oh je, schon wieder ein Junge? Mein herzliches Beileid…“ Claudia Schaumann ist Mutter von vier Söhnen und bekommt immer wieder solche Sprüche zu hören. Jungen sind wild, streitlustig, unangepasst und laut – soweit die Klischees. Wann und warum ist der schlechte Ruf von männlichen Nachkommen eigentlich so gesellschaftsfähig geworden?

„Wir haben Jungen in den letzten Jahren aus den Augen verloren“, ist Hans Hopf überzeugt. „Sie werden nicht dort gefördert, wo ihre Stärken liegen.“ Jungen würden heute zum Teil Monsterrollen zugeschrieben: „Immer wieder heißt es, sie seien unbeherrscht und unkonzentriert“, so der Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeut, der sich in seinem Buch „Jungen verstehen“ (Klett-Cotta, 2019) mit diesen Klischees und ihrem möglichen Wahrheitsgehalt beschäftigt.

Haben sich Jungen denn so maßgeblich verändert? Oder ist die Gesellschaft eine andere geworden? Jungen scheinen es heute offenbar schwerer zu haben, eine sichere Identität zu entwickeln.

Freizeitstress: Zu viel Adrenalin, zu viele Reize

„So gut es ist, dass Jungen und Mädchen endlich gleiche Chancen haben sollen, so wenig lässt sich verleugnen, dass es zwischen den Geschlechtern angelegte Unterschiede gibt“, so Hopf. Und so reagierten Jungen und Mädchen auf gewisse äußere Umstände eben unterschiedlich.

Kinder sind heute einer Vielzahl von Einflüssen ausgesetzt, die zu Reizüberflutungen führen können. „Wir leben in einer erregten Gesellschaft“, sagt Hopf. Am Wochenende in den Abenteuerpark mit Achterbahn, am Nachmittag bunt-knallige Ballerspiele im Netz, selbst in den Ferien ein „Höher, Weiter, Schneller“ mit Go-Kart-Bahn, River-Rafting oder anderen Adrenalinkicks.

„Es ist nur verständlich, dass sich die Kinder heute nicht mehr so gut auf den Unterricht konzentrieren können“, so Hopf. Die Konkurrenz durch die Wahnsinns-Freizeitangebote sei einfach zu groß, das Analoge des Unterrichts am Vormittag irgendwann zu monoton.

Computerspiele: Jungen neigen zu Narzissmus

„Es braucht immer mehr Reize, um Kinder heute zu motivieren“. Lesen? Langweilig. Hausaufgaben? Vergiss es. Genau hier seien besonders Jungen gefährdet, die schon früh zu einer gewissen Form von Narzissmus, zu Rückzug und übertriebener Selbstliebe neigten.

Gerade in Computerspielen könnten sie ihre Allmachtsfantasien, ihre Grandiosität ausleben. Sie können Dörfer aufbauen und zerstören, „fast so eine Art Gott spielen“. Das mache Jungen so empfänglich für die Spiele. Sie müssen sich nicht anpassen, ihre Gefühle nicht unterdrücken, können authentisch sein. Der Unterschied zu damals: Sie müssen zum Buden bauen oder für ihre Räuber-und-Gendarm-Spiele nicht mehr vor die Tür, agieren monologisch statt dialogisch.

Während Mädchen eher auf Kommunikation und Abgleich setzten, auf Chats mit den Freundinnen oder Bilder anderer Kinderzimmer, wollten Jungen sich eher messen, Gefahren wagen, sich ausprobieren. All das könnten sie in der Welt der Computerspiele, dürften darüber eben nur nicht den Zugang zur Wirklichkeit verlieren.

Reizüberflutung: Mädchen und Jungen reagieren unterschiedlich

Dazu kommt, dass Kinder unterschiedlich mit dem Stress der alltäglichen Reizüberflutung umgehen. Während Mädchen die Spannung in ihrem Körper eher internalisieren würden, sich im schlimmsten Falle durch Ritzen oder Magersucht selbst schadeten, externalisierten Jungen den Druck eher. „Sie reagieren mit Unruhe, Zappeln bis hin zur Aggression“, weiß Hopf aus seiner Erfahrung. Es überrascht also kaum, dass 75 Prozent der ADHS-Diagnosen für Jungs gestellt werden. 

Können alle Jungen also über einen Kamm geschert werden? Natürlich nicht. Claudia Schaumanns Söhne, die zwischen einem und acht Jahren alt sind, sind alle unterschiedlich. „Aber es gibt allein durch das höhere Testosteron-Aufkommen Anlagen in Jungen, die anders sind als bei Mädchen“, erklärt Hopf.

Jungen in Social Media: Zu wild für die perfekte Außendarstellung?

Für den schlechten Ruf von Jungen macht Claudia, die auf „wasfürmich“ über ihr Familienleben bloggt, auch den hohen gesellschaftlichen Druck der perfekten, Instagram-tauglichen Familie verantwortlich. „Kein Witz, Fotos von Jungen bekommen im Netz weniger Likes“, sagt sie. Im Gegensatz zur Mutter, die ihr kleines Mädchen so kleidet wie sich selbst. Die Verniedlichung als Anerkennungs-Garant?

Was die Kleidung und das Spielzeug für Kinder angehe, sieht die junge Mutter sogar deutliche gesellschaftliche Rückschritte: „Wir waren früher bunt gekleidet und hatten einfach Spielzeug“. Heute finde man in Mädchenabteilungen Glitzer, Öhrchen-Kapuzen und pink, während bei den Jungs dunkle Farben und Ritter-Kämpfer-Drachen-Aufdrucke dominierten.

Dabei stelle sie aber trotzdem fest, dass Mädchen heute alles dürften, kurze oder lange Haare, Hose oder Rock, Bagger oder Puppe. Dass Jungs aber immer noch belächelt würden, wenn sie mal Glitzer tragen oder einen Puppenwagen durch die Gegend schieben. Wir waren doch schon mal weiter, findet sie: „Es lastet ein enormer gesellschaftlicher Druck auf den Schultern kleiner Jungen“.

Jungen in der Kita: Es nervt!

Das hängt möglicherweise auch damit zusammen, dass auch heute noch Jungen hauptsächlich von Frauen erzogen werden. Die Kinder kommen immer früher in die Kita, der Personalschlüssel wird knapper, die Kinder sollen funktionieren. Da nervt es schnell, wenn Jungs mehr Bewegungsbedarf haben...

„Zugespitzt gesagt: Frauen messen Kinder gern an Mädchenstandards, an Bastelfreude und Liebsein“, so Hopf. Das werde Jungen einfach nicht gerecht. Gerade weil sie zu Hause auch nicht mehr so viel Bewegung hätten wie früher. Welches Kind spielt heute schon noch den ganzen Nachmittag mit Freunden auf der Straße?

Jungen bräuchten neben der Bewegung aber auch männliche Vorbilder. Jungen spielten mit Männern anders. „Sie neigen zur Überheblichkeit, zu Toben, zu Gruppenbildung, aber auch zur Lust an Bewegung“, so Hopf. Doch die Zahl der in Kitas oder Grundschulen arbeitenden Männer bewege sich im Promillebereich. Frauen schritten hier zu früh ein.

Regeln, Grenzen, Rituale: Was Jungen brauchen

Und während Frauen in der Erziehung auf Kommunikation und Verständnis setzten, bräuchten Jungen eher klare Regeln, feste Grenzen, verlässliche Rituale. „Jungen handeln eher nach dem Lustprinzip als nach dem Realitätsprinzip“, so Hopf. Zu viele Freiheiten könnten viele unerwünschte Nebenwirkungen mit sich bringen.

Dabei begrüßt der Psychotherapeut die Entwicklung hin zu Beziehung statt Erziehung, sagt Hopf. Die sei sehr erfreulich, die Kriminalitätsstatistik gehe runter, der Umgang sei insgesamt freundlicher geworden. „Ich sage auch immer: Das Beste, was ein Vater für seine Kinder tun kann, ist, ihre Mutter zu lieben.“

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Diese Form des liebevollen Zusammenlebens dürfe nur nicht mit einer Grenzenlosigkeit und dem Verlust der Eltern-Kind-Distanz einhergehen. Hopf bringt an dieser Stelle ein schönes Beispiel aus seiner eigenen Familie an. Seine Söhne, mittlerweile über 40 Jahre alt, würden sich im Restaurant noch immer das Essen von ihm bezahlen lassen. Das macht der Papa! „Hier geht es nicht um Finanzkraft, sondern um die Vater-Kind-Beziehung“, sagt Hopf. Er tue das noch immer gerne.

Buchtipp:Hans Hopf, Jungen verstehen, Klett-Cotta Verlag, 2019

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