Erbrechen, SchwindelWie erkennt man eine Migräne bei Kindern und was hilft dagegen?

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Etwa jedes zehnte Kind leidet unter Migräne.

Köln – An jenen furchtbaren Urlaubstag vor drei Jahren erinnert Sophie (10) sich noch sehr genau: „Es war total heiß, ich hatte zu wenig getrunken, in meinem Kopf tobten die Kopfschmerzen – und dann bin ich einfach in Ohnmacht gefallen.“ Nach dem Kurzurlaub in Holland beschlossen die Eltern, Sophies Symptomen auf den Grund zu gehen – und landeten schließlich in der Kopfschmerz-Sprechstunde der Kinderklinik an der Amsterdamer Straße in Köln. Nach einer langwierigen Anamnese war klar: Sophie leidet unter Migräne-Attacken. So wie etwa jedes zehnte Kind in Deutschland. Während der Pubertät steigt diese Rate sogar noch an – auf fast jeden fünften Jugendlichen. Doch wie erkennt man eine Migräne bei Kindern überhaupt? Wie unterscheidet sie sich von anderen Kopfschmerzen? Und vor allem: Wie bekommt man sie in den Griff?

Bei Erwachsenen sei es relativ leicht, eine Migräne zu definieren, sagt Stephan Waltz, Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin und Leiter der Kopfschmerz-Sprechstunde der Kinderklinik. „Das ist ein pulsierender Schmerz, der eine Hälfte des Kopfes umfasst und mit vegetativen Symptomen wie Übelkeit oder Erbrechen einhergeht.“ Bei Kindern jedoch sei die Diagnose schwieriger. „Da sind die Symptome viel unspezifischer, die Kinder haben zum Beispiel Bauchschmerzen, Erbrechen und Schwindel. Kopfschmerzen gehören im Kleinkindesalter oft noch nicht dazu – oder die Kinder können sie noch nicht als solche beschreiben.“ Ein entscheidender Faktor ist aber, dass die Symptome regelmäßig auftreten – die Häufigkeit ist aber individuell verschieden. Und: „Viele Kinder ziehen sich aktiv zurück, wollen freiwillig ins Bett und schlafen“, erklärt Stephan Waltz. Er und andere Mediziner gehen davon aus, dass schon Kinder ab zwei Jahren unter Migräne leiden können – die erste Attacke kann aber auch erst in der Pubertät auftreten.

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Sophie hatte ihre erste Migräne-Attacke schon mit drei Jahren.

Sophie leidet vermutlich schon seit ihrem dritten Lebensjahr unter Migräne, wie ihre Mutter Britta Brovot heute weiß. „Wir haben immer gesagt: Unser Kind hat die verrücktesten Magen-Darm-Infekte. Sie hat sich ganz plötzlich übergeben und ist direkt danach tief und fest eingeschlafen. Dann war alles wieder okay.“ Zunächst litt Sophie drei bis fünf Mal pro Jahr unter den Anfällen. Doch je älter das Mädchen wurde, desto häufiger kamen die Attacken. Mit etwa sieben Jahren hatte sie etwa einmal pro Monat die rasenden Kopfschmerzen – ohne diese jedoch richtig artikulieren zu können. Nach jenem Sommerurlaub wurden Sophie und ihre Mutter für mehrere Tage stationär in der Kinderklinik aufgenommen. Es folgten diverse Untersuchungen, unter anderem ein Schädel-MRT und ein Schlafentzugs-EEG. „Wenn dann diese Maschinerie anläuft, bekommt man als Eltern schon Panik, dass das Kind schwer krank sein könnte. Ich glaube, für uns waren diese Tage schlimmer als für Sophie.“ Danach besuchten Mutter und Tochter noch regelmäßig die ambulante Kopfschmerz-Sprechstunde.

Andere Erkrankungen ausschließen

„Das Wichtigste ist eine umfassende Anamnese und klinisch-neurologische Untersuchung“, sagt Katja Ahlbory, Fachärztin in der Kopfschmerz-Sprechstunde. Dazu gehört auch das Führen eines Kopfschmerz-Tagebuchs. „In einigen, eher wenigen Fällen benötigt man weitergehende apparative Untersuchungen, um schlimmere Erkrankungen auszuschließen.“ Denn die Bandbreite der Migräne-Symptome – von Kopfschmerzen, Übelkeit, Erbrechen, Augenflimmern, Lähmungserscheinungen und Sprachstörungen – kann auch auf andere Erkrankungen wie Tumore, einen Schlaganfall oder Epilepsie hindeuten. „Natürlich ist eine Migräne schlimm für die Patientinnen und Patienten und wir nehmen diese Erkrankung sehr ernst. Aber das Beruhigende ist: Dahinter verbirgt sich keine bösartige Erkrankung oder Schädigung des Gehirns“, sagt Stephan Waltz.

Das sind Spannungskopfschmerzen

Es gibt rund 200 unterschiedliche Arten von Kopfschmerzen. Migräne und Spannungskopfschmerzen sind die häufigsten bei Kindern und Jugendlichen – allerdings unterscheiden beide sich gravierend. Etwa 80 Prozent aller Kinder und Jugendlichen haben schon Erfahrung mit Spannungskopfschmerzen, bei 20 Prozent treten sie regelmäßig auf. Tendenz steigend. „Der Grund dafür ist Bewegungsmangel, ausgeprägter Medienkonsum und der hohe Leistungsdruck in unserer Gesellschaft, dem Kinder auch in der Schule oft ausgesetzt sind“, erklärt Stephan Waltz.

Im Gegensatz zur Migräne würden Schmerzmittel bei diesen Kopfschmerzen allerdings nicht helfen. Er rät, ein wenig Pfefferminzöl auf die Schläfen aufzutragen. „Es geht aber vor allem darum, sich zu entspannen und abzulenken. Vielen Kindern hilft es, sich zurückzuziehen und ruhig zu spielen.“ Ausreichend Bewegung und Sport können vorbeugend wirksam sein. Übrigens: Viele Kinder, die unter Migräne leiden, haben auch ab und zu Spannungskopfschmerzen. Wichtig ist dann, unterscheiden zu können, um welchen Schmerz es sich handelt – ergo, welche Behandlung hilft.

Die Kopfschmerzsprechstunde der Kinderklinik Amsterdamer Straße in Köln richtet sich an Kinder, die regelmäßig unter Kopfschmerzen leiden. Der Kinderarzt muss eine Überweisung an das Sozialpädiatrische Zentrum ausstellen.

Betroffene hätten eine genetische Veranlagung für die Migräne, Umweltfaktoren können die Ausbrüche begünstigen. Dazu zählen auch Stress und Erschöpfung. Sophie etwa erzählt, dass sie oft nach Kindergeburtstagen oder großen Familienfeiern unter diesen Kopfschmerzen litt. „Das Toben, die Lautstärke, die vielen Menschen, das habe ich einfach nicht ausgehalten.“ Eine Attacke beschreibt die Zehnjährige so: „Die Schmerzen sind so schlimm, dass sie alles andere überdecken. Ich kann dann an nichts anderes mehr denken.“

Jede Bewegung schmerzt

Doch was passiert bei so einer Attacke eigentlich genau? Dabei entlädt sich aufgrund einer Übererregbarkeit der Nervenzellen eine große Anzahl von Neuronen wellenförmig über das Gehirn und sorgt für die Freisetzung verschiedener Botenstoffe. „Das Gehirn ist dann extrem empfindlich, deswegen schmerzt jede Bewegung“, erklärt Stephan Waltz. All diese Dinge weiß mittlerweile auch Sophie. Seit zwei Jahren kennen sie und ihre Eltern die Diagnose Migräne und haben seitdem viel gelesen. „In der Therapie geht es nach der Diagnose erstmal darum, dass Kinder und Eltern verstehen, wie der Schmerz überhaupt entsteht.“ Und dann wird der Lebenswandel so optimiert, dass die Migräne-Attacken möglichst selten eine Chance haben. „Der Schlafrhythmus sollte regelmäßig sein, das Kind genug trinken, möglichst wenig psychischem Druck ausgesetzt sein und sich viel bewegen.“ Außerdem lernen die Kinder Entspannungstechniken.

Sophie erzählt: „Wenn alles um mich herum zu viel und zu laut wird, suche ich mir einen ruhigen Platz und stelle mir vor, ich würde einen Regenschirm aufspannen. Der hält alle Reize von mir weg.“ Zusätzlich zur Migräne ist Sophie nämlich auch noch hochsensibel und reagiert gestresst, wenn zu viele Sinne gleichzeitig angesprochen zu werden. Die Zehnjährige liebt es, schwimmen zu gehen und Tennis zu spielen, außerdem spielt sie Klavier. Und sie traut sich mittlerweile auch wieder mehr zu, besucht gerne Kindergeburtstage oder trifft sich mit Freundinnen. „Auf der weiterführenden Schule habe ich jetzt auch neue Freundinnen gefunden, die eher ruhig sind. In der Pause gehen wir gerne in die Bibliothek und lesen ein bisschen.“

Hoher Druck aus der Gesellschaft

Die Eltern versuchen, jeglichen Druck von Sophie fernzuhalten. „Uns ist es egal, ob sie ein Hobby oder fünf hat und auch, ob sie in der Schule eine eins oder eine vier schreibt. Hauptsache, unser Kind ist glücklich.“ Aus diesem Grund haben die Eltern sich auch dafür entschieden, Sophie trotz einer Gymnasialempfehlung auf die Gesamtschule in Rodenkirchen zu schicken. „Dafür mussten wir uns vor Freunden und Bekannten aber schon rechtfertigen. Der Leistungsdruck aus der Gesellschaft ist schon enorm“, sagt Britta Brovot. Doch Sophies Gesundheit gibt der Familie recht: Seit das Mädchen vor einem halben Jahr auf die weiterführende Schule gewechselt hat, hatte sie nur eine einzige Migräne-Attacke. „Seit wir in der Kopfschmerz-Sprechstunde waren, ist Sophies Migräne sehr viel besser geworden“, sagt die Mutter, die dem Team aus der Kinderklinik unglaublich dankbar ist.

Katja Ahlbory

Dr. Katja Ahlbory

Doch trotz der Verbesserung und der Strategien: Die Migräne-Attacken werden Sophie wahrscheinlich lange begleiten – zumindest in einem gewissen Maß. „Migräne ist eine chronische Krankheit“, sagt Stephan Waltz, „es ist wichtig, dass die Patienten Strategien finden, damit umzugehen und sich den Attacken nicht hilflos ausgeliefert zu fühlen.“ Wichtig sei auch, die Attacke als eine solche anzuerkennen und dem Körper dann eine Pause zu gönnen. Generell sollte man Kinder mit Migräne aber nicht schonen, sondern sie am normalen Leben teilhaben lassen.

Migräne muss mit Medikamenten behandelt werden

Wichtig zudem: Das richtige und ausreichend Schmerzmittel zu geben. Ibuprofen sei das Mittel der Wahl, es gebe aber auch für Kinder spezielle Migräne-Medikamente. „Eine Migräne sollte zusätzlich zur Reizabschirmung medikamentös behandelt werden. Der häufigste Fehler ist, dass Eltern bei einer nahenden Attacke das Schmerzmittel zu niedrig dosieren“, sagt Katja Ahlbory.

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Auch Sophie hat ihr Migräne-Schmerzmittel jetzt immer bei sich. Die Erkrankung ihrer Tochter sieht Britta Brovot mittlerweile auch als Bereicherung: „Sophie und wir lernen schon in jungen Jahren, auf ihre Bedürfnisse zu achten und keine Grenzen zu überschreiten.“ Und auch Sophie hat sich längst mit ihrer Migräne arrangiert, sie erzählt offen und ehrlich darüber. „Jeder Mensch ist anders und ich habe halt diese schlimmen Kopfschmerzen.“ Sie hofft, dass ihre Offenheit andere Kinder dazu motiviert, auch über ihre Probleme zu sprechen und nicht aus Angst vor schlechten Reaktionen zu schweigen.

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