Ständig Zoff zuhauseWie Eltern sich bei Geschwisterstreit wirklich verhalten sollten

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Bruder und Schwester streiten sich auf der Couch.

Schon wieder gehen sie aufeinander los. Viele Geschwister sind ständig im Clinch. Geht das auch anders? 

  • Geschwister streiten sich durchschnittlich sechs Mal in der Stunde.
  • Doch wie können Eltern Streit am besten verhindern oder schlichten?
  • Und warum werden Brüder und Schwestern eigentlich so oft zu Rivalen?
  • Ein Gespräch mit Elterncoach Nicola Schmidt.

Lautes Gebrüll aus dem Kinderzimmer, irgendetwas poltert und 30 Sekunden später heult mindestens einer. Echt jetzt, schon wieder!? Manchmal fühlt es sich so an, als würden Geschwister einfach immer nur streiten. Um jede noch so winzige Kleinigkeit. Mit Kraftausdrücken, Fäusten und viel Gezerre. Nimmt das irgendwann mal ein Ende? Muss man jetzt schon wieder dazwischen gehen und die Streithähne auseinander bringen?

Wann herrscht endlich Frieden?

Konflikte zwischen Geschwistern können die Stimmung in der Familie ganz schön belasten. Eltern sind oft mit ihrem Latein am Ende, und fragen sich, wie sie am besten Frieden schaffen können. In ihrem neuen Buch „Geschwister als Team“ erklärt Journalistin Nicola Schmidt anschaulich, warum Geschwister so viel streiten und gibt konkrete und lebensnahe Tipps, wie die Kinder lernen können, Konflikte selbst zu lösen. Ein Gespräch.

Harmonische Geschwister sind der Traum aller Mütter und Väter. Aber geht das denn überhaupt?

Nicola Schmidt

Wissenschaftsjournalistin und Elterncoach Nicola Schmidt

Nicola Schmidt: Was Sie nicht hinkriegen werden, sind Geschwister, die nie streiten. Denn nur Menschen, die von außen stark unter Druck gesetzt werden, haben keine Auseinandersetzungen. Kinder streiten nur dann nicht, wenn sie vernachlässigt werden oder unter Gewalteinwirkung stehen. Dann schlucken sie Konflikte herunter. Wir freuen uns also, wenn die Kinder streiten – es ist ein gutes Zeichen!

Was man aber natürlich erreichen kann, sind Geschwister, die Konflikte lösen können. Und zwar möglichst, ohne Haareziehen oder Anbrüllen. Und das kann man hinkriegen.

Wie genau können Eltern ihnen helfen, Konflikte zu lösen? Wie sollten sie im Streitfall reagieren?

Schmidt: Wir Eltern sollten zunächst einmal nicht Detektiv, Richter oder Polizist spielen, um herauszufinden wer schuld ist. Die Frage „Wer war das?!“ führt zu nichts. Wir werden nie wirklich herausfinden, wer angefangen hat und was genau passiert ist. Außerdem sollten Eltern auf jeden Fall ruhig bleiben, auch bei einem lautstarken Streit. Falls die Kinder handgreiflich werden, trennen wir sie zunächst, bis sie sich wieder beruhigt haben.

Anschließend sollten wir Erwachsene die Kinder alles erzählen lassen und zuhören, ohne zu bewerten. Danach können wir den Bericht der Kinder nochmal kurz laut zusammenfassen und die Situation für sie spiegeln: „Schau mal, Lea, Tim ist sauer, weil sein Turm kaputt ist. Guck Tim, Lea weint, weil sie gehauen wurde.“ Damit gibt man den Kindern die Möglichkeit, zu verstehen, was in der Psyche des anderen passiert. Man schult so ganz einfach die Empathie der Kinder. Zudem sollten Eltern die Familienregeln noch einmal klären, zum Beispiel: „Bei uns werden keine Spielsachen weggenommen, wir fragen einander. Bei uns wird nicht geschlagen.“

Danach können die Eltern mit den Kindern zusammen Lösungen erarbeiten. Hier hilft es, zunächst die Kinder zu fragen, was sie in dieser Situation vorschlagen. Sie werden erstaunt sein, was Kindern alles einfällt. Auch hier gilt, zunächst jeden auch noch so schrägen Vorschlag anzuhören und danach gemeinsam zu überlegen, welche Idee wirklich machbar ist.

Da haben Eltern aber viel zu tun, wenn der Tag lang ist…

Schmidt: Ja, wenn die Kinder noch klein sind oder man das erste Mal ein solches Streitlösungsgespräch führt, kann das bis zu 45 Minuten dauern. Doch wenn Eltern das zehn oder zwanzig Mal gemacht haben, haben die Kinder schnell viel mehr Übung und können Konflikte schon bald alleine lösen. Man muss auch wirklich nicht bei jedem Streit den Coach geben. Schließlich streiten Geschwister durchschnittlich sechs Mal pro Stunde. Es reicht, wenn man sich vielleicht einmal am Tag einschaltet. Kinder brauchen das Training, aber sie lernen auch wirklich schnell. Und wir Eltern müssen nicht immer perfekt reagieren, an manchen Tagen haben wir doch alle gar keinen Nerv, das ist auch gar nicht notwendig.

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Es gibt Geschwister, die sehr verschieden sind und nicht so viel miteinander anzufangen wissen. Können auch sie lernen, Konflikte aufzulösen? Oder gibt es auch Charaktere, die einfach nie zueinander finden?

Schmidt: Ich sage immer: Geschwister müssen sich nicht lieben, sie müssen sich nur respektieren. Und alle Charaktere können lernen, respektvoll miteinander umzugehen. Oft folgt dem Respekt dann auch die Zuneigung. Eher impulsive Charaktere brauchen zum Beispiel länger, so ein Konfliktlösungstraining umzusetzen. Und trotzdem, wenn man das regelmäßig macht, haben das spätestens mit 18 alle drauf. Und diese Fähigkeit können wir alle ein Leben lang einsetzen.

Warum herrscht eigentlich so oft Rivalität zwischen Geschwistern?

Schmidt: Kinder sind nicht automatisch Rivalen, das wird von uns Erwachsenen vorgelebt. Achten Sie mal darauf – unsere Kultur ist darauf aufgebaut, dass wir uns ständig gegenseitig bewerten. Das fängt schon bei kleinen Beispielen an: Das Kind schaukelt, ruft „Mama guck mal!“ und die Mama sagt „Oh, toll!“ Dabei wollte das Kind keine Bewertung, sondern es wollte einfach nur gesehen werden: „Hey, du schaukelst ganz hoch!“. Sobald wir aber anfangen zu bewerten, züchten wir Wettbewerb und damit Rivalität. Wenn wir keine Rivalität wollen, müssen wir aufhören, die Kinder ständig auf den Prüfstand zu stellen und „Schau, wie brav deine Schwester ist!“ zu sagen.

Es gibt ja Kinder, die in vielem gut sind (Schule, Sport, Musik). Und Geschwister, die vielleicht von den Leistungen eher durchschnittlich sind. Wie schaffen es Eltern, dass beide sich gleichermaßen angenommen fühlen?

Schmidt: Indem man in jedem das sieht, was ihn als Mensch ausmacht. Eltern könnten damit anfangen, jedem Kind jeden Tag zu sagen, wie schön es ist, dass es da ist.

Es gibt diese Kinder, die Dinge können, die in dieser Gesellschaft verlangt werden - still sitzen, rechnen, freundlich sein. Doch jeder Mensch hat etwas, das er gut kann. Der Trick ist, dass Eltern jedem Kind seine Talente zubilligen.

Eltern sollten den Kindern unbedingt beibringen, dass keiner alles gut kann und man auch nicht alles können muss. Sie sollten verstehen: Jeder kann sich reinhängen, in die Dinge, die ihm wichtig sind und wir unterstützen ihn dabei. Damit können wir einen großen Teil der Rivalität wegnehmen.

Im Familienverbund entwickeln sich ja mit der Zeit immer so typische Rollen: der Liebe, der Rebellische, die Bestimmerin. Sollten Eltern so etwas laufen lassen oder aktiv entgegenwirken?

Schmidt: Das kommt darauf an, wie schlimm es wird. Bestimmte Dinge muss man einfach hinnehmen. Ein großer Bruder ist nun einmal lange Zeit schneller und stärker. Kinder nehmen oft die Nische, die noch frei ist. Aber es kann sich lohnen, Kinder herauszufordern und ihnen andere Rollen anzubieten. Zum Beispiel auch die Unordentliche der Familie mal zu fragen: „Ich will das Gewürzregal neu ordnen, hast du Lust, mir zu helfen?“ Dadurch werden Kinder in ihren Persönlichkeitsräumen nicht so festgefahren. Eltern tun den Kindern damit einen Gefallen fürs Leben. Viele Erwachsene sitzen auch deshalb beim Therapeuten, weil sie aus ihrer festgelegten Rolle der Kindheit nicht mehr heraus kommen.

Alle Kinder kämpfen ja letzten Endes um die Zeit und Zuwendung der Eltern. Dadurch entsteht oft Eifersucht. Wie können Eltern das abfedern? Können sie überhaupt gerecht sein?

Schmidt: Gerecht würde ja bedeuten, jedes Kind gleich zu behandeln. Und das macht keinen Sinn, weil jedes Kind etwas anderes braucht. Um diese Eifersucht wegzukriegen, gibt es aber zwei Wege. Zunächst braucht jedes Kind auch mal alleine Zeit mit seinen Eltern. Da können auch schon zehn Minuten reichen oder einmal pro Woche eine Stunde, etwa samstagmorgens alleine mit Papa einzukaufen. Wenn Kinder diese Alleinzeit kriegen, sind sie viel weniger eifersüchtig.

Es ist aber auch wichtig, dass wir die Eifersucht der Kinder anerkennen. Ihnen zeigen, dass man versteht, wie blöd es ist, dass sich Mama den ganzen Tag nur ums kranke Baby gekümmert hat. Und dann vielleicht eine extra Kuscheleinheit einlegen. Auf keinen Fall sollten wir so etwas sagen wie: „Ihr seid doch schon groß, jetzt stellt euch nicht so an!“ Das erzeugt Scham und Schuld und dadurch nur noch mehr Wut, Eifersucht und Rache.

Welche Rolle spielt, was Eifersucht betrifft, eigentlich der Altersabstand zwischen den Geschwistern?

Schmidt: Der Altersabstand zwischen den Geschwistern spielt eine große Rolle. Wenn die älteren Geschwister unter drei sind, sind sie selbst noch klein. Wenn das neue Baby kommt, wollen auch sie oft noch Baby sein. Und es ist ganz wichtig, dass sie in diesem frühen Alter nicht das Gefühl haben, zurückgesetzt zu werden. Eltern müssen aufpassen, dass die größeren Geschwister auch klein sein dürfen. Besonders wenn es Mädchen sind, gibt es oft die andere Tendenz, dass Eltern ihnen vermitteln, dass sie sich zusammenreißen müssen, jetzt wo das Baby da ist. Damit sind sie aber in diesem Alter überfordert, sie sind ja selbst noch fast Babys.

Stichwort Lieblingskind: Viele Eltern haben eins. Wie fängt man so etwas ab?

Schmidt: Zunächst einmal sollten wir es vor uns selbst anerkennen, dass wir ein Kind lieber haben als das andere, weil es einem zum Beispiel näher ist. Das ist auch nicht schlimm, sondern menschlich. Wir müssen uns dafür nicht schämen. Wir müssen aber achtsam sein, wie wir mit den Kindern umgehen, dass wir möglichst alle Kinder ähnlich behandeln. Denn wenn wir ein Kind vorziehen, dann schaden wir allen Kindern – auch dem Kind, das wir vorziehen.

Und dann lenken wir die Aufmerksamkeit bei den Kindern, die nicht unsere Lieblingskinder sind, ganz bewusst auf die guten Dinge: Es ist zu wild? Was für eine Energie dieses Kind hat! Es ist so langsam? Mit welcher Achtsamkeit es seine Schuhe anzieht! Gerade wenn das Kind anders funktioniert als man selbst. Jedes Kind hat eine gute Seite und seine Stärken, wir müssen sie nur sehen. Und dann können wir auch besser erkennen, was das Kind von uns braucht.

Schmidt: Wir können die Geschwister gemeinsam Projekte machen lassen – sie zum Beispiel als Team das Auto putzen, das Lagerfeuer anmachen oder auch den Tisch abräumen lassen. Und ihren Erfolg machen wir dann verbal sichtbar, nach dem Motto: „Ihr habt aber gut zusammengearbeitet. Ich bin beeindruckt, wie ihr das gemeinsam geschafft habt.“

Buchtipp: Nicola Schmidt, Geschwister als Team, Kösel, 2018

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