Frage und Antwort in Sachen LiebeWie ehrlich sollte man zu seinem Partner sein?

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Absolute Ehrlichkeit kann einer Beziehung auch schaden.

  • Wie gehen wir damit um, wenn der Partner absolute Loyalität verlangt?
  • Unser „In Sachen Liebe"- Experte hat die besten Ratschläge für die Praxis.

Mein neuer Freund (er 48, ich 46) sagt, Loyalität und Ehrlichkeit seien für ihn das Wichtigste für das Gelingen unserer Beziehung. Natürlich ist mir Ehrlichkeit auch wichtig. Und Fremdgehen käme für mich nicht in Frage. Aber ich habe trotzdem Sorge, ob es nicht ein zu viel an Ehrlichkeit geben kann, wenn es um Gefühle oder Empfindungen geht, die ich manchmal schon für mich selber nicht gut formulieren kann. Was raten Sie mir?

Loyalität und Ehrlichkeit sind Tugenden – Werte, die in einer Beziehung sicher nicht fehlen sollten. So wie ich Sie verstehe, ziehen Sie das grundsätzlich auch gar nicht in Zweifel. Zweifel hegen Sie an einem Absolutheitsanspruch; daran, ob Sie dem überhaupt genügen möchten oder können. An diesem Punkt scheint in Ihrer Beziehung ein Spannungsfeld entstanden zu sein. Weil Sie diese von Ihrem Partner so stark hervorgehobene Bedeutung von Loyalität und Ehrlichkeit nicht ganz teilen können.

Rückhaltlose Ehrlichkeit

Stellen Sie sich folgende Szene vor: L und M haben sich im Foyer der Philharmonie verabredet, um eine Premiere zu besuchen. M freut sich, sie liebt es, sich zu solchen Anlässen besonders schön und elegant zu kleiden. Sie sieht L von draußen durch die Tür auf sich zukommen. Ihr Lächeln erstarrt, und bevor L sie umarmen kann, sagt sie entrüstet: „Wie siehst du denn aus! Hättest du nicht etwas Passenderes anziehen können!“ Er hält in seiner Bewegung inne, und nun fällt auch ihm das Lächeln aus dem Gesicht. Am liebsten würde er umkehren. Was würde Ihr Freund wohl dazu sagen? Fände er Ms rückhaltlose Ehrlichkeit richtig? Oder fände er es besser, sie verhielte sich hundertprozentig loyal zu L, sähe über seine unpassende Kleidung hinweg und drückte uneingeschränkte Freude über sein Kommen aus, was zwar nicht ganz ehrlich wäre, aber den Abend retten würde?

So ist das mit den inneren Werten. Selbst wenn wir wollten, können wir sie gar nicht zu hundert Prozent erreichen. Schon bei diesen beiden Werten im Beispiel funktioniert das nicht. Dabei haben wir noch viel mehr Werte in uns, wie Vertrauenswürdigkeit, Zuverlässigkeit, Humor, Toleranz, Achtsamkeit, Rücksichtnahme, um nur einige zu nennen. Wir verfügen über ein ganzes, umfassendes handlungsleitendes Wertesystem, und zwar jeder Mensch über sein eigenes, individuell gefärbtes, durch seine lebensgeschichtlichen Erfahrungen geprägtes. Das Wort System drückt schon aus, dass diese Werte nicht isoliert nebeneinander stehen und nicht einzeln wirksam, sondern miteinander verknüpft sind. Man kann sich dieses Miteinander wie Musiker mit ihren Instrumenten im Orchester vorstellen. Das Spielen einer Symphonie gelingt nur, wenn jeder sich als Teil des Ganzen betrachtet.

Wie das Orchester haben wir in unserem Inneren auch so etwas wie einen Dirigenten, der dafür sorgt, dass in einer bestimmten Situation unter Berücksichtigung aller unserer Werte eine Stimmigkeit hergestellt wird, auf deren Basis wir reagieren. Und das nicht immer  auf der bewussten Ebene. Was dazu führt, dass wir manchmal spontan schonungslos ehrlich sind, manchmal bedacht rücksichtsvoll, dann vielleicht nur zu 80 Prozent ehrlich – oder dass wir eine innere Wahrheit oder ein gut gehütetes Geheimnis verschweigen. Weil wir befürchten, sonst abgelehnt oder entwertet zu werden. Weil wir dem anderen nicht genug Vertrauen entgegenbringen, ihn nicht für vertrauenswürdig erachten.

Verdiente Loyalität

Wie ehrlich Sie reagieren können oder wollen, ist demzufolge immer zusätzlich auch vom anderen abhängig – davon, wie Sie ihn, wie Sie sein Wertesystem einschätzen. Davon, ob er Ihre Loyalität und Ehrlichkeit verdient hat, ob Sie sie ihm schenken möchten. Denn fordern kann man sie nicht. Erst das gemeinsame Kennenlernen, gemeinsame gute Erfahrungen mit Ihrem Partner können den Boden für Loyalität und Ehrlichkeit bereiten.

Ich habe noch überlegt, weshalb für Ihren Partner eben diese zwei Werte die wichtigsten sein mögen. Vielleicht hat er in einer vorherigen Beziehung in dieser Hinsicht negative Erfahrungen gemacht. Vielleicht war eine Partnerin untreu und hat es ihm über einen längeren Zeitraum verschwiegen. Möglicherweise befürchtet er, das könne ihm noch einmal passieren, wenn er nicht vorbaut und aufpasst. Fragen Sie Ihren Partner! Sprechen Sie auch über Ihre Bedenken und darüber, welche Werte für Sie an erster Stelle stehen!

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