Einzigartiger EinblickHirnforscherin berichtet, wie sie selbst den Verstand verlor

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Frau mit Blitz vor dem Gesicht

Barbara Lipska hatte 18 Tumore im Kopf, die auf ihr Gehirn drückten: sie verlor den Verstand und schreibt nun darüber. (Symbolbild)

Köln – Unser Hirn steuert was wir denken und fühlen und an was wir uns erinnern. Es ist immer aktiv. Doch was ist, wenn es einmal nicht mehr so funktioniert, wie es soll? Das musste Barbara Lipska am eigenen Leib erfahren. Das Besondere: Als Neurowissenschaftlerin ist sie Expertin für psychische Krankheiten. Trotzdem erkannte sie nicht, wie sie selbst wahnsinnig wurde. Nun berichtet sie eindrucksvoll über diese Erfahrung. 

Lipska beschäftigt sich seit mehr als 40 Jahren beruflich mit dem menschlichen Gehirn. Sie ist Direktorin des Human Brain Collection Core am National Institute of Mental Health der USA und eine der weltweit anerkanntesten neurowissenschaftlichen Expertinnen auf dem Gebiet der Schizophrenie und anderer psychischer Erkrankungen. 

„Tief in meinem Gehirn tobt ein heftiger Krieg“

Im Januar 2015 bemerkt sie Sehstörungen. Kurz darauf werden drei Tumore in ihrem Gehirn entdeckt – und behandelt. Die passionierte Sportlerin beginnt den Marathon-Wettkampf gegen die Krankheit. Sie startet eine experimentelle Immuntherapie, auf der all ihre Hoffnungen ruhen, trotzt den starken Nebenwirkungen. Doch auf jeden kleinen Fortschritt, folgt ein Rückschlag. „Ich merke nichts und auch sonst niemand in meinem Umfeld. Aber tief in meinem Gehirn tobt bereits ein heftiger Krieg“, schildert die Wissenschaftlern in ihrem Buch „Die Hirnforscherin, die den Verstand verlor“.

Lipska wird aggressiv, findet ihr Auto nicht mehr wieder

Im Sommer 2015 erfährt Lipska einen tiefgreifenden Persönlichkeitswandel, 60 Tage lang durchlebt sie einen temporären Wahnsinn.

Die sonst immer liebevolle und verständnisvolle Mutter und Oma reagiert grundlos aggressiv, verletzt ihre Familie verbal, stößt brüsk ihre Kollegen vor den Kopf. Selbst die einfachsten Dinge gelingen ihr nicht mehr: Grundrechenarten stellen sie vor große Herausforderungen. Sie verliert das räumliche Verständnis, findet nicht den Weg nach Hause, erkennt Menschen nicht mehr wieder. Schließlich verliert sie ihr Kurzzeitgedächtnis und ist permanent verwirrt. Sie ist davon überzeugt, dass sich alles und jeder gegen sie verschworen hat.

Das Fatale an der Situation: Obwohl sie vom Fach ist, begreift Lipska selbst nicht, was mit ihr passiert. Sie fühlt sich von ihrer Familie und ihren Ärzten missverstanden. Ihre Familie leidet unter ihrem Verhalten, doch die Angehörigen können die Veränderungen nicht wirklich benennen, schieben sie auf die Krankheit, den Schicksalsschlag und mögliche Depressionen. „Derartige Persönlichkeitsveränderungen zeigen häufig an, dass etwas mit dem Gehirn eines Menschen ernsthaft nicht in Ordnung ist. Meine emotionalen Überreaktionen – Wut, Misstrauen, Ungeduld – legen nahe, dass ein Stirnlappen katastrophale Veränderungen durchmacht. Als Expertin für psychische Störungen sollte ich mehr als jeder andere in der Lage sein zu erkennen, wie seltsam ich mich benehme. Aber das kann ich nicht“, analysiert sie.

Lipska_Barbara

Der Hirnforscherin Barbara Lipska wurden 18 Hirntumore diagnostiziert. Schuld ist ein Melanom, das ins Gehirn streute. 

Sie glaubt ihren Ärzten nicht, denkt, sie wird missverstanden

Insgesamt 18 Tumore wachsen in ihrem Kopf, drücken auf das durch die Behandlungen angeschwollene Gehirn. Jeder um sie herum weiß, dass sie wahrscheinlich nicht mehr lange zu leben hat, die vielen Tumore ihr Todesurteil sind, doch Lipska glaubt ihnen nicht. Selbst als ihr behandelnder Arzt der Forscherin mitteilt, dass sie ihre Geschäfte regeln sollte, weil die Tumore gewachsen sind und auf das Hirn drücken, kann Lipska nicht verstehen, warum alle Anwesenden Tränen in den Augen haben und betroffen wirken. Sie ist sich immer noch sicher, dass alles gut wird und der Arzt irrt, sie nicht richtig versteht.

Die zwei Perspektiven, die persönliche und die wissenschaftliche, machen ihr Buch zu etwas Besonderem. An ihrem eigenen Beispiel zeigt die Neurowissenschaftlerin die neueste Forschung auf und veranschaulicht, was bei psychischen Erkrankungen im Hirn passiert, wie fragil es ist und vor allem, wie tragisch es ist, wenn das Gehirn nicht funktioniert, wie es sollte. 

Lipska gilt inzwischen als geheilt

Sie kann so klar darüber schreiben, denn Lipska gilt als geheilt. Sie ist eine Überlebende. Was genau ihr geholfen hat, können ihre Ärzte nicht mit Bestimmtheit sagen. Nach zielgerichteter Krebstherapie, nach Operationen, nach Bestrahlungen, experimenteller Immuntherapie und mehreren Chemos verschwinden die Tumoren nach und nach und Lipska wird wieder sie selbst. 

Verschwommene Erinnerungen an die Zeit im Wahnzustand

An die Zeit im Wahnzustand kann sie sich erst nicht gut erinnern, ihre damaligen Gefühle sind ganz weit weg. Doch nach und nach kehren die Erinnerungen zurück. Die Expertin für Schizophrenie und andere psychische Erkrankungen erzählt, wie sie selbst erlebte, was sie zuvor nur aus ihrer Forschungsarbeit kannte: Wie sie ein völlig anderer Mensch wurde. Im Rückblick bilanziert sie: „Ich mache mir nach wie vor Sorgen um meinen Verstand. Mein Gehirn wird nie mehr so sein wie vorher. Es ist von Tumoren verletzt, bestrahlt und mit Medikamenten angegriffen worden. Es ist vernarbt – im eigentlichen und im übertragenen Sinn.“

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„Der Krebs ist ein heimtückischer, bösartiger Gegner“

Sie lebe nun bewusster, versuche jeden Tag einen Sinn in den alltäglichen Dingen zu sehen. Gemeinsam mit ihrer Familie geht Lipska – die als der Krebs diagnostiziert wurde auf ihren ersten Ironman-Triathlon trainierte – an den Start eines Triathlons. Sie übernimmt 1,93 Kilometer schwimmen, wird von einem eigenen Rettungsschwimmer begleitet und ist danach überglücklich.

Über den Krebs sagt sie: „Ich habe mit einem besonders heimtückischen, bösartigen Gegner zu kämpfen, mit einer Krankheit, die sich nur schwer besiegen lässt. Es fühlt sich an wie ein Ironman-Wettkampf, der neben neusten wissenschaftlichen Erkenntnissen einen eisernen Willen von Körper und Geist erfordert. Bei diesem Wettkampf renne ich nicht in Richtung Ziellinie, denn es gibt keine. Es gibt weder Medaillen noch Trophäen zu gewinnen, weder Auszeichnungen noch Jubelgeschrei. Sondern nur tiefe Zufriedenheit darüber, dass ich einen weiteren Tag gelebt und mit den Menschen verbracht habe, die ich liebe.“

Barbara K. Lipska mit Elaine McArdle: „Die Hirnforscherin, die den Verstand verlor“, Ludwig Verlag, München, 2018.

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