Seit fast 60 Jahren fliegt das Friedensdorf Oberhausen Kinder aus Kriegs- und Krisenregionen der Welt ins Ruhrgebiet, um sie medizinisch zu versorgen und ihr Leid zu lindern. Sind die Wunden verheilt, geht es zurück in die Heimat.
Friedensdorf internationalVerbrannt, verletzt, verkrüppelt – und begierig auf ein neues Leben

Im Spielzimmer der jüngsten Patienten herrscht in Oberhausen meist gute Stimmung. Und das, obwohl die Verletzungen sehr schwer sind. Der größte Wunsch der fünf Jahre alten Victoria aus Angola: Ein Glasauge.
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Gul Ahmad manövriert seinen Rollstuhl geschickt durch den schmalen Flur, es gilt, dem Gegenverkehr unfallfrei auszuweichen. Er hat es eilig, schließlich muss er im Spielzimmer mal eine Ansage machen. „Nicht schreien! Babys schlafen“, ruft er mahnend in die fröhliche Runde. Victoria wälzt sich noch einmal lautstark juchzend über einen türkisfarbenen Weichbodenwürfel, dämpft dann aber tatsächlich ihre Stimme. Gul Ahmad lächelt wie ein zufriedener Chef. Sein linkes Bein liegt steif nach vorne gestreckt auf einer Schiene. „Kaputt“, sagt er. Wie es dazu genau kam, kann er nicht beschreiben. Jedenfalls nagt eine Krankheit an seinen Knochen, Osteomyelitis, sagen die Ärzte. Irgendwann vor vielen Jahren müssen sich die Bakterien ihren Weg in eine Wunde gebahnt haben, vielleicht nach einem Sturz. Sind die Hygienebedingungen schlecht, wie das in Kriegsgebieten oft der Fall ist, schlüpfen sie in die immungeschwächten Körper wie Asseln unter feuchte Ziegelsteine. Unbehandelt droht Betroffenen ein Siechtum: Rohes Fleisch, Eiter, Fistelbildung, absterbendes Gewebe, die Wunden stinken, die schwarzen Knochen brechen. Am Ende rettet das Leben nur die Amputation.
Wie das bei Gul Ahmad ausgehen wird, ist noch nicht ausgemacht. An die zwanzig Mal ist er schon operiert worden. Erst in seiner Heimat Afghanistan, dann in Deutschland. Gut ein Drittel seines bislang neun Jahre währenden Lebens verbringt er zur Rettung seines Beines schon im Friedensdorf am grünen Rand von Oberhausen. „Der Arzt überlegt. Vielleicht wird er auch abschneiden.“

Gul Ahmad wurde schon an die zwanzig Mal operiert. In eine Wunde seines Beins sind Bakterien eingedrungen. Nun versucht man in Oberhausen die Knochenentzündung zu besiegen. Wenn es nicht gelingt, kann ihn nur eine Amputation retten.
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Seit fast 60 Jahren fliegt das Friedensdorf international verwundete, verstümmelte, verletzte oder verbrannte Kinder aus Kriegs- und Krisengebieten dieser Welt ins Ruhrgebiet. Gegründet wurde der Verein 1967 eigentlich, um Kindern aus dem Nahen Osten und Israel zu helfen. Dann war der Krieg dort allerdings nach sechs Tagen beendet und in der Folge kamen zunächst vor allem Kinder aus Vietnam mit Napalm-Verletzungen. Heute stammen sie auch aus Regionen, die beim Blick durch die Katastrophenbrille der Welt ein wenig aus dem Fokus geraten sind, weil die kriegerischen Auseinandersetzungen dort zum Teil lange beendet sind. Angola zum Beispiel. Zurückgelassen haben die jahrzehntelangen Kämpfe ein katastrophales Gesundheitssystem. Selbst kleine Unfälle ziehen oft lebensbedrohliche Krankheiten nach sich. Hier in Oberhausen will man zumindest einen Teil dieser Kinder retten.

Saskia Kosi kümmert sich darum, dass alle Kinder einen kostenlosen Behandlungsplatz in einer deutschen Klinik bekommen.
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Knapp 200 kann man in den hingewürfelten Bungalows zur gleichen Zeit wohnen lassen und betreuen, während sie auf ihre Operationstermine überall in Deutschland warten oder sich von diesen wieder erholen. Manche von ihnen sind gerade mal ein Jahr alt, wie der kleine Golden, der hier von seinem Glaukom kuriert wurde, um sein Augenlicht zu retten. Andere haben unvorstellbare Leidenszeiten hinter sich wie die fünf Jahre alte Victoria aus Angola, die beim Spielen in ihrem Dorf kopfüber in einen der Erdöfen gefallen ist. Ihr Gesicht ist verschmolzen, als hätte man heißes Blei in kaltes Wasser gegossen, ein Auge fehlt, das andere konnte sie schlecht schließen, weil das Lid betroffen ist.
Einige mussten von ihren Vätern ohne Verbände kilometerweit in Schubkarren und vor Schmerzen schreiend übers Land geschafft werden, um den lang erhofften Charterflug nach Deutschland antreten zu können. Alle haben Heimweh. Denn alle kommen ohne Eltern. Das ist der Deal.

„Claudia“, rufen die Kinder im Friedensdorf fröhlich, wenn Claudia Peppmüller den Speisesaal betritt. Sie sitzt nicht nur bei Nudelsuppe mit Farid und Stelvio, sondern fliegt auch mit in die Krisenregionen der Welt, um verletzte Kinder nach Deutschland zu bringen.
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Für alle Kinder hier hat der Friedensdorf-Verein einen Vertrag mit Partnerorganisationen in deren Heimatländern abgeschlossen. Denn zwischen Kinderleid und medizinischer Hilfe hat die Bürokratie teils hohe Hürden aufgestapelt. Grundvoraussetzung: Die Heimatländer müssen eine Rückkehrgarantie abgeben, dann gibt es von der Bundesregierung eine begrenzte Aufenthaltserlaubnis. Eine der größten Sorgen, die über das Gelände geistert: Asylfälle zu produzieren. „Wir müssten fünf Jahre für alle Kosten aufkommen, das würde uns ruinieren“, sagt Claudia Peppmüller, Sozialarbeiterin beim Friedensdorf. Kämen ganze Familien, lauerte die Gefahr des Bleibewunschs hinter jeder guten Erfahrung, hinter jedem vollen Teller, hinter jedem sauberen Verband. Einsame Kinderseelen sind da unbestechlicher. Auch wenn man hier fast nur gut gelaunte Jungen und Mädchen sieht, die auf dem Hof kicken, sich gegenseitig die Haare flechten oder kichernd miteinander tuscheln: Die Sehnsucht nach Mama und Papa rüttelt an allen Gliedern. Die Betreuung ist herzlich, aber professionell. Eine familiäre Bindung soll nicht entstehen, auch wenn die Kinder zum Teil jahrelang im Dorf sind. „Es geht ausschließlich um medizinische Hilfe. Nach der Heilung sollen die Kinder in ihrer Heimat weiterleben. Eine zu starke Bindung zu den Menschen hier wäre da nicht hilfreich“, sagt Peppmüller. Heimweh ist Teil des Konzepts.

Ballspiele sind im Friedensdorf beliebt. Wer kann, rennt einem hinterher. Auch mit Krücken.
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Gul Ahmad war beim Frisör. In die raspelkurzen Haare an den Seiten hat er einen Blitz hineinrasiert. Ein bisschen stolz ist er schon. Obwohl er sein Haar lieber lang tragen würde. Bis zum Po. Gul Ahmad und sein Freund Farid lachen sich schlapp. Eine „Bauchkrankheit“ hat Farid nach Deutschland verschlagen. Mit einem Kugelschreiber malt er seine Mutter und seinen Vater auf den Block. Beide strahlen. Die Mutter trägt langes Haar. Gul Ahmad schickt sich an, ebenfalls seine Familie zu malen. Dann legt er den Stift aber wieder zur Seite. „Ich weiß gar nicht mehr, wie lang die Haare meiner Mama sind.“
Nach der Heilung sollen die Kinder in ihrer Heimat weiterleben. Eine zu starke Bindung zu den Menschen hier wäre da nicht hilfreich
Nicht immer ist die Verhandlung mit den Herkunftsländern eine Kleinigkeit. Bei den Kindern aus Gaza stellt beispielsweise die Rücknahmegarantie ein Problem dar. Oft gebe es nicht einmal gültige Pässe. Noch immer halte die Hamas die behördlichen Fäden in der Hand. Zudem dürften Kinder nur in Begleitung eines Verwandten das Land verlassen. Für das Friedensdorf ein Ausschlusskriterium. Obwohl man menschlich jedes Verständnis hat. Die humanitäre Lage sei so dramatisch, dass niemand, der es einmal rausschaffe, zurückkehren wolle. Selbst wenn es eine Garantie geben würde, wäre diese nicht mehr als ein leeres Versprechen. Peppmüller: „Wohin in den Alltag von Krieg und Zerstörung will man denn die Kinder zurückschicken? Niemand weiß, ob die Eltern bei der Rückkehr der behandelten Kinder nach Gaza überhaupt noch leben.“

Masuda und Tina aus Afghanistan dürfen mit dem nächsten Flieger zurück nach Afghanistan. Beide haben in ihren Heimatländer schwere Verbrennungen erlitten und wurden in Oberhausen mehrfach operiert.
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Masuda und Tina aus Afghanistan sind Rückkehr-Kinder - in gewisser Weise das Nirwana unter den Seinszuständen hier im Friedensdorf. Sie sind die Schmetterlinge in einem Heer von Raupen und Puppen. Masudas Hände sind verkrüppelt, die Haut scheint zu kurz für alle Finger zu sein. Unter ihrer straffen Hülle bilden sie sich zu einer Klaue. „Unfall“, sagt sie und strahlt. Denn die Wunden seien schon gut verheilt. „Stift halten, malen, schreiben. Guck, ich kann alles“, sagt sie und wackelt zum Beweis mit den Gliedern. „Der Arzt gibt mir Salbe mit.“ Auch Tina, deren Kehle ein braunes, fleckiges Mal in der Größe einer Apfelsine überzieht, darf mit in den Flieger zurück nach Kabul steigen. Die Mädchen feiern das kichernd, als ginge es auf große Klassenfahrt. Tränen werden trotzdem fließen. Weil sie hier andere Freunde zurücklassen, aber auch weil sie wissen, dass die Stunden im Flieger erstmal die letzten ihrer Freundschaft sein werden. „Wenn in Afghanistan, sie hierhin, ich dahin“ – Masuda zeichnet mit den Fingern eine Wegscheide in die Luft und zuckt kurz traurig mit den Schultern. Mazar-e-Sharif und Sanagan. Ihre Heimatstädte liegen knapp 100 Kilometer voneinander entfernt. In einem krisengeschüttelten Land eine enorme Distanz. Aber lange will man sich mit Abschiedsgedanken nicht aufhalten. Außerdem ist gerade der Kickertisch freigeworden und die beiden haben noch eine Revanche auszuspielen.
Ich weiß gar nicht mehr, wie lang die Haare meiner Mama sind
Nicht nur mit den Krisen und Kriegen auf der Welt hadert man hier in Oberhausen. Mittlerweile ist auch das Gesundheitssystem des eigenen Landes ein nicht ganz harmloser Gegner. Denn neben Spenden für Strom, Betreuung, Essen und Charterflüge sind die Kinder vor allem auf Kliniken angewiesen, die sie behandeln. Die zwischen den Schädelplatten austretendes Gehirn hinter die Knochen schieben. Die verschmolzene Gesichter mit neuer Haut versorgen. Die Fingergelenke retten oder Harnblasen operieren. Die Löcher in Wangen flicken, damit beim Essen keine Nahrung mehr rausfallen kann. Die Glasaugen einsetzen. Die faulende Knochen fixieren und notfalls amputieren. Und das alles kostenfrei. Saskia Kosi, die Koordinatorin für Behandlungsplätze und die gesamte Logistik rund ums Kind, kommt gerade aus dem Florence-Nightingale-Krankenhaus in Düsseldorf zurück. Sie hat für das kommende Jahr eine Freibehandlung rausschlagen können. Alle freuen sich wie verrückt. „Es ist schwieriger geworden. Die Reformbemühungen führen dazu, dass die Kliniken weniger Kapazitäten haben“, sagt Peppmüller. Wenn alles effizient durchgerechnet ist, verschwinden auch die luxuriösen Nischen, in denen man sich sowas wie Hilfsbereitschaft leisten kann.

Simone Zeh arbeitet in der ambulanten Anästhesie. Weil es mittlerweile zu wenig Freiplätze in deutschen Kliniken gibt, hat man in Oberhausen einen eigenen Operationssaal gebaut, in dem vor allem plastische Eingriffe nach Verbrennungen vorgenommen werden.
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Um zumindest für einfachere Eingriffe nicht mehr auf Spezialkliniken in Deutschland angewiesen zu sein, hat das Friedensdorf einen eigenen Medizintrakt mit OP auf dem Gelände hochgezogen. Dort arbeiten eine Fachkrankenschwester der Anästhesie und Intensivmedizin sowie eine Pädiaterin festangestellt. Und zahlreiche Chirurgen ehrenamtlich, die nach Feierabend oder nach dem Renteneintritt etwa hundert verbrannte Körper jährlich wieder herrichten. „Viele von ihnen engagieren sich auch anderswo. Der Franz zum Beispiel, der sagt zu mir: Simone, ich hab nur bis mittags Zeit, danach fahr ich den Drogenbus“, erzählt Simone Zeh.

Schuhmachermeister Franz-Rudolf Steffen fertigt ehrenamtlich orthopädisches Schuhwerk an. Seit kurzem gibt es zu diesem Zweck eine eigene Schuhmacherwerkstatt im Friedensdorf.
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Manche Schicksale vergisst man hier nie. Wie das des völlig entstellten angolanischen Mädchens, das acht Operationen später in einem Tütü und mit einer neuen Mundöffnung nach Hause geflogen werden konnte. Oder das des Jungen, dessen Wade und Fuß nach einem Autounfall in Tadschikistan mit dem Oberschenkel verschmolzen waren und der nach seiner Rückkehr allein aus dem Bus aussteigen konnte, um zu seiner Mutter zu laufen. Grundsätzlich müssen die Betreuerinnen und Betreuer aber mit dem Umstand leben, dass sie die aufgepäppelten Schützlinge zurückgeben in völlige Ungewissheit.
Mein Vater sagt, wenn ich zurückkomme und gesund bin, darf ich zur Schule gehen
Aber jeder Rückkehrflieger bringt auch neue Schicksale nach Oberhausen. Zwei Charterflüge pro Jahr spucken das Leid aus Angola, Afghanistan oder Tadschikistan aufs Rollfeld. Knapp 200.000 Euro kostet allein der Flug. Sechs Millionen Euro Spenden verschlingt das ganze Dorf jährlich. Seit einem guten Jahr unterstützt das Friedensdorf auch Projekte vor Ort. So können etwas einfachere Fälle auch von Chirurgen in Kabul oder Usbekistan operiert werden. Das ist günstiger und spart allen Beteiligten auch die unerträgliche Sehnsucht, die entsteht, wenn Eltern und schwerverletzte Kinder zum Teil über Jahre tausende Kilometer voneinander entfernt sind. Die gute Idee hat allerdings auch Grenzen. „Die hygienischen Bedingungen vor Ort sind oft so schlecht, dass vor allem die Nachsorge nicht funktioniert. Wir haben schon Knochenfixateure gesehen, da sind die Nägel im Fleisch verrostet“, sagt Peppmüller.

Hasibullah lebt seit zwei Jahren im Friedensdorf Oberhausen. Die Knochenentzündung hat seine Wachstumsfuge angegriffen. Fußball spielt er trotzdem gern. In der Verteidigung nützen ihm die Krücken sogar, sagt er.
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Hasibullah sitzt auf einem Pult in der Turnhalle und wippt lachend mit dem Kopf. Neben ihm lehnen Krücken. Auf der Bühne rappt einer seiner Freunde. Den Text versteht niemand. „Seine eigene Sprache“, sagt der 14-Jährige. Aber ist auch egal, alle sind blendend gelaunt, schließlich feiert man Abschied, am Wochenende fliegen die Rückkehr-Kinder zurück in die Heimat. Gerettet. Nicht alle sind schon so weit, aber die glücklichen Gesichter verbreiten die Hoffnung, dass man selbst eines Tages eben auch dran ist. 24 Mal, sagt Hasibullah, sei er schon operiert worden. „Neunmal in Afghanistan, 15 mal hier.“

Beim Abschiedsfest feiern alle - diejenigen, die zurückdürfen und diejenigen, die noch bleiben. Schließlich eint sie die Hoffnung, dass eines Tages alle an der Reihe sein werden.
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Eine bücherstapeldicke Sohle unter seinem Schuh gleicht die unterschiedlich langen Beine aus. Seit kurzem verfügt das Friedensdorf zu diesem Zweck über eine eigene Schuhmacherwerkstatt. Die Knochenentzündung hat sich in Hasibullahs Wachstumsfuge gefressen. Fußball spielt er trotzdem mit Begeisterung. Verteidiger. „Mit den Krücken ist gut. Ich falle nicht so schnell hin.“ Viele Freunde hat er hier gefunden. Woher die stammen, ist allen komplett egal. Man unterhält sich ohnehin auf deutsch, „die Kinder lernen das in Windeseile“, weiß Peppmüller. Und Hasibullah lebt schließlich schon seit zwei Jahren im Ruhrgebiet. Wenn er nicht Fußball spielt, geht er gern ins Lernhaus, da sei es lustig. In Afghanistan hat er bislang keinerlei Unterricht genossen. Das soll sich ändern. „Mein Vater sagt, wenn ich zurückkomme und gesund bin, darf ich zur Schule gehen.“
Pläne wuchern hier aus allen Ritzen. Farid will zur Polizei, Masuda als Ärztin arbeiten, Gul Ahmad hat vor, „Essenseinkäufer“ zu werden. Oder sogar Koch. „Dann mach ich Spaghetti zu Hause. Das kennt da niemand. Ist aber so lecker.“

