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Medizintalk„Wenn ein alter Mensch Marathon laufen will, bekomme ich als Orthopäde Gänsehaut“

7 min
Professor Dr. Peer Eysel im Gespräch mit Claudia Lehnen

Professor Dr. Peer Eysel von der Uniklinik Köln beim Medizintalk im Domforum zum Thema „No Sports - Warum zu viel Sport auch schaden kann“.

Übertriebener Ehrgeiz kann auch zu frühzeitigem Verschleiß und Verletzungen führen. Ein Gespräch über das richtige Maß mit Professor Eysel von der Uniklinik Köln.

Sport und Bewegung wirken lebensverlängernd und gesundheitsfördernd. Wer sich allerdings in den Wartezimmern von Orthopäden oder in der Notaufnahme der Unfallchirurgie umsieht, der gewinnt einen etwas differenzierteren Einblick. Denn mit zu viel Sport und Überlastung handeln sich nicht nur Profis, sondern auch manche Freizeit- und Seniorensportler häufig auch Knochenbrüche und schmerzende Gelenke ein. Professor Dr. Peer Eysel, Direktor der Klinik und Poliklinik für Orthopädie und Unfallchirurgie an der Uniklinik Köln erklärt, warum er von übertriebenem sportlichen Ehrgeiz wenig hält.

Warum ist der Körper ab einem gewissen Alter nicht mehr zu sportlichen Höchstleistungen in der Lage?

Auch wenn wir es in unserer jugendzentrierten Gesellschaft nicht wahrhaben wollen: Zunächst ist Degeneration, also der Leistungsabbau, ein natürlicher Prozess. Körperlich abwärts geht es laut Eysel schon ab dem 25. Lebensjahr, schwerwiegendere Einschränkungen spüre man rund um den 60. Geburtstag. Der Knorpel zum Beispiel bildet sich schon beim Embryo und erneuert sich im Laufe des Lebens nicht. „Wenn er geschädigt ist, bleibt er geschädigt“, sagt der Professor. Auch der Muskel ist zwar trainierbar, die Muskelfasern können aber nicht mehr neu gebildet werden. Dazu kommt das Kollagen im Bindegewebe, das im Laufe der Jahre an Elastizität verliert. Die Knochendichte verschlechtert sich vor allem bei geringer Belastung.

Kann Sport diesen Prozess aufhalten?

Nein, sagt Eysel. „Aber Bewegung kann helfen, den Prozess zu verlangsamen“. Der Knorpel beispielsweise ernähre sich durch den Wechsel von Be- und Entlastung und gerade Muskeltraining helfe im Alter, um beweglich zu bleiben.

Ist Sport also doch in jedem Fall gesund?

In der Tat belegen zahlreiche Studien, dass Sport den Körper vor Krebs, Demenz und Herz-Kreislauf-Erkrankungen bewahren kann. Eysel bestreitet den Zusammenhang nicht, weist aber einschränkend darauf hin, dass nicht alle positiven Ergebnisse in den Studien allein auf den Sport zurückzuführen sind. „Dazu kommt ja, dass wir es bei Sportlern mit Menschen zu tun haben, die auch sonst weitgehend gesund leben. Die rauchen weniger, trinken weniger Alkohol, ernähren sich gesünder und verfügen über genügend soziale Kontakte. Man könnte also davon ausgehen, dass diese Gruppe schon dann gesünder wäre, wenn sie zusätzlich keinen Sport machen würde.“

Jeder vierte Patient in unserer Notaufnahme kommt mit einer Sportverletzung
Professor Dr. Peer Eysel

Was kostet unsere Gesellschaft die Fokussierung auf den Sport?

Ob Bundesliga oder Olympiabewerbung – Eysel sieht es kritisch, dass für manch sportliches Event oder gerade Fußballspielergehälter so viel Geld ausgegeben wird. „Denn Investitionen in Bildung und Wissenschaft werden dagegen immer stärker gekürzt. Hier stimmt das Verhältnis nicht.“ Zudem verursachen gerade Sportverletzungen auch viele Ausgaben für das Gesundheitssystem. „Am Wochenende kommt jeder vierte Patient in unserer Notaufnahme mit einer Sportverletzung. Da haben sich Freizeitfußballer das Knie verdreht oder überambitionierte Jogger den Außenknöchel gebrochen.“ Zu den Behandlungskosten kämen oft wochenlange Arbeitsausfälle, die die Gesellschaft mittragen müsste.

Was sind die Klassiker bei den Sportverletzungen?

In zwei Drittel der Fälle ist das Knie- oder Sprunggelenk verletzt. Beim Fußball oder Skifahren ruiniere man sich häufig auch den Meniskus oder das Kreuzband. „Viele unserer Patienten kommen auch direkt aus der Trampolinhalle“, sagt Eysel. Gerade mechanische Verdrehungen auf weichem Untergrund könnten nämlich gefährlich werden.

Peer Eysel im Domforum

Peer Eysel rät vor allem bei riskanten Sportarten ab einem gewissen Alter zu Vorsicht. Nordic Walking, Spazierengehen, Fahrradfahren, Schwimmen und Rudern könne man aber meist bis ins hohe Alter.

Und wo schlägt der Verschleiß am meisten zu?

Hier führt das Knie mit der Arthrose die Liste an. „Begünstigt wird sie durch Übergewicht und Fehlstellungen wie X- oder O-Beine.“ Die Hüfte verschleißt auch, ist aber weniger stark vom Gewicht beeinflusst.

Welche Fehler beobachtet der Orthopäde gerade bei Seniorensportlern?

Für Eysel liegt das Problem in „übertriebenen sportlichen Ambitionen im hohen Alter“, die führten meist zwangsläufig zu Überlastungsschäden. „Wenn ein alter Mensch einen Marathon laufen will oder sich einbildet, er müsse unbedingt noch den Mount Everest besteigen, dann bekomme ich als Orthopäde schon Gänsehaut.“ Um nicht einsehen zu müssen, dass der eigene Ehrgeiz mit zunehmendem Alter der körperlichen Verfassung angepasst werden müsse, spiele auch Medikamentenmissbrauch eine Rolle. Etwa fünf Prozent der Bevölkerung nehmen Studien zu Folge Medikamente gegen die Degeneration – meist ohne echten Nutzen. „Da kommen durchaus 75-jährige Triathleten mit einem riesigen Gelenkerguss zu mir und hätten gerne, dass ich ihnen Kortison ins Gelenk spritze, damit der nächste Lauf nicht in Gefahr ist“, sagt Eysel. Derlei Eingriffe seien bei Freizeitsportlern aber keineswegs ratsam.

Wählen Sie statt des Fahrstuhls die Treppe, gehen Sie zu Fuß einkaufen und machen Sie Kniebeugen beim Zähneputzen. Das ist sehr effektiv und hält lange mobil
Professor Dr. Peer Eysel, Uniklinik Köln

Welcher Sport ist denn auch in höherem Alter noch empfehlenswert, wovon rät der Orthopäde eher ab?

Beim Joggen sollte man ab einem gewissen Alter Eysel zu Folge vorsichtig sein, da es beispielsweise Knorpelschäden verursachen kann. Auch beim Seniorenfußball oder Skifahren ist das Verletzungsrisiko sehr hoch. Die sozialen Vorteile von bestimmten Mannschaftssportarten wögen das Verletzungs- und Verschleißrisiko in manchen Fällen aber durchaus auf. „Wer mit seinen Freunden schon lange Tennis oder Golf spielt und jetzt Angst hat, das wegen eines schmerzenden Knies aufhören zu müssen, dem würde ich an den ein oder zwei Trainingstagen in der Woche tatsächlich zur Schmerztablette vorab raten.“

Eine ideale Sportart für den reifen Körper ist Schwimmen, aber auch das Rudern an einem Gerät kann Eysel empfehlen. „Dadurch werden 85 Prozent aller Muskeln beansprucht und man kann sich so ein Gerät auch zu Hause in den Keller stellen – man muss nur noch mobil genug sein, um runter und wieder hoch zu kommen.“ Fahrradfahren ist bis ins hohe Alter empfehlenswert. „Sobald kognitive Einschränkungen oder Schwindel auftreten, sollte man aber besser nicht mehr im Straßenverkehr unterwegs sein. Und in jedem Fall natürlich immer einen Helm tragen.“ Auch Yoga, Gymnastik, Kegeln, Bowling, Nordic Walking oder leichtes Muskeltraining seien quasi immer empfehlenswert.

Wie viel Bewegung ist gut – und wann wird es zu viel?

Eysel beobachtet als Arzt, dass sich zwei Drittel seiner Patienten zu wenig, ein Drittel zu viel bewegen. „Die Mehrheit braucht also mehr Bewegung – aber angepasst an die eigenen Fähigkeiten.“ Als Faustregel empfiehlt Eysel dreimal in der Woche für zwanzig Minuten Rudern, Walken oder intensiv Fahrradfahren. Eine große Rolle spiele aber auch die Alltagsbewegung: „Also wählen Sie statt des Fahrstuhls die Treppe, gehen Sie zu Fuß einkaufen und machen Sie Kniebeugen beim Zähneputzen. Das ist sehr effektiv und hält lange mobil.“

Wie sinnvoll sind Hilfsmittel?

Ob Rollator, Stock oder E-Bike: Eysel rät in jedem Fall zu und warnt vor falscher Scham. „Es ist besser mit dem Rollator unterwegs zu sein, als gar nicht.“ Auch E-Bikes sind aus orthopädischer Sicht „hervorragend für die Gelenke“.

Können auch Kinder durch Sport überlastet werden?

Eysel erlebt immer wieder auch Kinder in der Sprechstunde, die sich beim Sport überfordern. „Da spielt oft ein übertriebener Leistungsdruck der Eltern eine Rolle. Das ist dann manchmal tragisch. Derzeit behandle ich zum Beispiel zwei junge Tennisspieler, die von den häufigen Rückwärtsbewegungen beim Aufschlag eine Stressfraktur an der Wirbelsäule davongetragen haben.“ Dennoch sei regelmäßiger Sport gerade für Kinder besonders wertvoll, die Wahl der Sportart sollte sich Eysel zu Folge danach richten, welche Bewegung Freude bereitet.

Was tun, wenn die Gelenke schmerzen? Ist Schonung die richtige Wahl?

Gar keine Bewegung als Reaktion auf schmerzende Gelenke führe oft in einen Teufelskreis. „Wer Schmerzen hat, vermeidet Bewegung – doch das macht die Beschwerden meist schlimmer. Die Muskulatur verkürzt, die Beweglichkeit nimmt ab, und der Schmerz verstärkt sich.“ Deshalb rät Eysel: „Gerade die Bewegungen, die schwerfallen, sollte man regelmäßig üben, natürlich in vernünftigem Maß.“

Gibt es so etwas wie ein orthopädisches Anti-Aging-Geheimnis?

„Ganz klar: Spazierengehen ist eine der besten Bewegungsformen fürs Alter.“ Wer jeden Tag bei jedem Wetter das Haus verlasse und möglichst 10.000 Schritte laufe, bleibe lange gesund. Auch das Krafttraining mit einer Schlinge am Türrahmen mache eigentlich jeden fitter. Dabei wird die Schlinge am Türrahmen verankert. Bei Übungen wie Kniebeugen oder Ausfallschritten kann man sich festhalten und so selbst entscheiden, wie viel Gewicht auf den Beinen lastet. „Dadurch, dass die Schlinge die Belastung etwas reduziert, lässt sich so die Muskulatur bis ins hohe Alter gelenkschonend aufbauen.“