Extremdiäten, Hungerwettbewerbe – all das wurde unter dem inzwischen Hashtag verbreitet. Doch viele Inhalte begünstigen Essstörungen immer noch.
Magerwahn im Netz#SkinnyTok ist weg – aber der Trend lebt weiter

Im Netz vergleichen junge Nutzende, wie wenig sie an einem Tag essen (“What I eat in a day“).
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Die französische Krankenschwester Charlyne Buige arbeitet in einer Klinik für Essstörungen: Dort sieht sie täglich junge Frauen, die sich so weit heruntergehungert haben, dass sie mit dem Tropf ernährt werden müssen. Denn: Magersucht kann tödlich sein. Buige war aufgefallen, dass Social-Media die Krankheit ihrer Patientinnen oft noch verschlimmerte: Aufrufe zum Hungern, Bilder extrem dünner Körper, Abnehm-Challenges. Unter dem Hashtag „Skinnytok” auf der Plattform Tiktok waren besonders viele ungesunde Inhalte versammelt. Daher startete Buige eine Petition gegen Skinnytok. 35.000 Mal wurde sie unterzeichnet.
Kurz darauf forderte die französische Ministerin für Digitales ein Verbot von den Aufsichtsbehörden. Inzwischen wurde der Hashtag „Skinnytok “ gesperrt. Wer ihn in der Suchleiste von Tiktok eingibt, bekommt nun Informationen zu Körperbild- und Essstörungen und zu Hilfsangeboten angezeigt. Dasselbe passiert bei den Hashtags #thinspiration und #caltok, unter denen ähnliche Videos angezeigt wurden.
Sperrung von Hashtags ist nicht die Lösung
Gelöst sei das Problem durch die Sperrung einzelner Hashtags aber nicht, glaubt Isabel Brandhorst. Sie forscht am Universitätklinikum Tübingen zu den schädlichen Auswirkungen von Internetinhalten. Mit leicht veränderten Schreibweisen ließen sich die alten Videos immer noch finden, so die Psychologin.
Und nicht nur das: „Es gibt viele weitere Hashtags, die das Dünnsein verherrlichen“, sagt Brandhorst. Dazu kämen Foren und Plattformen wie Pro-Mia oder Pro-Ana: Pro-Mia steht für Pro-Bulimie and Pro-Ana für Pro-Anorexie. Hier wird schon durch die Namen klar, dass Essstörungen beschönigt werden. All diese Seiten haben eines gemeinsam: „Es geht nicht darum, zu einer gesunden Art von Gewichtsverlust zu motivieren, sondern um krankhaftes Verhalten und das Abnehmen durch extreme Maßnahmen“, sagt Brandhorst. So werde zum Beispiel Frieren als Mittel zum Gewichtsverlust empfohlen oder der radikale Verzicht beim Essen.
Befeuern sich untereinander
Es würden auch Tipps gepostet, wie sich ein fortschreitender Gewichtsverlust bei Magersucht vor den Angehörigen oder dem Klinikpersonal verbergen lässt. „Zum Beispiel wird dann empfohlen, einfach kurz vor dem Wiegen einen halben Liter Wasser zu trinken.“ Anstatt sich darüber auszutauschen, wie man die hochgefährliche Krankheit besiegen kann, befeuern sich die Userinnen und User der Kanäle bei ihrem selbstschädigenden Verhalten untereinander, sagt die Expertin: „Wenn du Hunger hast, iss einen Eiswürfel, heißt es dann zum Beispiel in den Videos.“
Extrem ungesund seien auch „Challenges“ zum Thema Dünnsein, die falsche Körperbilder vermitteln. Gemäß der „Tigh-Gap-Challenge” seien die Beine beispielsweise nur schlank genug, wenn eine Lücke zwischen den Oberschenkeln entsteht, obwohl man die Knie aneinander bringt. Die „Paper-Waist-Challenge besteht man, wenn die Taille nicht breiter als ein Blatt DIN-A-4 ist, das man sich davor hält. Im Netz findet sich allerdings inzwischen auch reichlich Kritik an derart schädigenden Herausforderungen: So hält eine Nutzerin ein Blatt Papier in die Kamera, auf dem steht - du bist exakt so, wie du sein sollst. Eine andere hält sich ihren College-Abschluss vor den Bauch, um zu zeigen, dass es weitaus sinnvollere Challenges (Herausforderungen) im Leben gibt, als eine „Papiertaille“.
Bei Anorexie geht es aber nicht nur um das Schlankheitsideal, sondern um das Gefühl von Kontrolle. Und darum, immer noch weiter zu machen
Teils würden extreme Bilder von bis auf die Knochen abgemagerten Körpern gezeigt, sagt Brandhorst: „Für diejenigen, die noch nicht anorektisch sind, erscheinen solche Bilder zwar als abschreckend – für andere können sie aber eine Motivation sein.“ Betroffene seien sich zwar oft selbst bewusst, dass ein verhungernder Körper nicht mehr dem gängigen Schönheitsideal entspricht. „Bei Anorexie geht es aber nicht nur um das Schlankheitsideal, sondern um das Gefühl von Kontrolle. Und darum, immer noch weiter zu machen.“
Die Nutzenden der Seiten spornen einander zu schädlichem Verhalten an, indem sie zum Beispiel posten, wie wenig sie an einem Tag essen. „Der soziale Vergleich ist für Jugendliche zentral, das liegt in ihrer Entwicklung begründet“, so Brandhorst. „Identität entsteht im Spiegel mit anderen Menschen. Wenn ich besonders sein will, versuche ich vielleicht, besonders schlank zu sein. Es besteht die Gefahr, in extremes Verhalten abzurutschen.“ Besonders gefährdet seien hierbei junge Mädchen, die auf der Suche nach Bestätigung sind. Gleichzeitig werde ungesundes Essverhalten verharmlost. „Weil sich dort größtenteils Gleichgesinnte austauschen, wird eine sehr einseitige Meinung präsentiert. Es entsteht der Eindruck: Wir sind normal, die anderen sind krank.“
Schon sieben bis acht Minuten machen unzufrieden
Der Besuch der Seiten löse natürlich nicht in jedem Fall eine Essstörung aus. „Wir wissen aber, dass Jugendliche mit ihrer Körperwahrnehmung unzufriedener werden, wenn sie viel Zeit auf solchen Seiten verbringen. Es gibt viele, die vielleicht keine Lücke zwischen den Oberschenkeln haben, und dann kreisen die Gedanken darum“, sagt Brandhorst. Tatsächlich fühlen sich junge Frauen bereits schlechter mit ihrem Körper, wenn sie nur sieben bis acht Minuten lang Tiktok-Videos anschauen, in denen andere Frauen Diät- oder Fitnesstipps geben. Das konnte eine Studie aus dem vergangenen Jahr zeigen.
Skinnytok und vergleichbare Hashtags seien problematisch, weil sie gefährliches Essverhalten normalisieren, sagt auch Sabine Dohm vom ANAD Versorgungszentrum Essstörungen. „Toxisch wird es besonders für die vulnerable Gruppe der Kinder und Jugendlichen“, betont die Expertin. Als Folge drohten ein mangelnder Selbstwert und ein negativ beeinflusstes Körperbild.
Offen mit Kindern reden
Essstörungen ließen sich aber nicht ausschließlich auf Social-Media zurückführen, sondern hätten mehr als eine Ursache. „Social-Media kann jedoch ein bedeutender Risikofaktor und Verstärker sein“, so Dohm. Sie empfiehlt Eltern, offen mit ihren Kindern über die Körperbilder zu sprechen, die im Netz transportiert werden. Und dabei die Rolle der Influencer und Influencerinnen zu thematisieren, die ihr Geld damit verdienen, sich geschönt zu präsentieren und dazu Filter und die Bildbearbeitung nutzen.
Auch auf der Seite „Schau hin“ gibt es Tipps für Eltern. Diese sollten Kinder am besten vorab darüber aufklären, wie gefährlich es ist, sich mit anderen beim Hungern zu bestärken und problematisches Essverhalten und Körperbilder zu beschönigen. Sie sollten einerseits Schwärmereien ihrer Kinder für bestimmte Personen im Netz respektieren, um im Gespräch zu bleiben. Sie könnten aber auch nach Gegengewichten zu den gängigen Stereotypen der Sozialen Medien suchen, zum Beispiel nach Internet-Persönlichkeiten, die sich für „Body Positivity“ einsetzen.
Selbstbewusstsein im Alltag stärken
Im Alltag sollten Eltern keine negativen Bemerkungen über Äußerlichkeiten machen und versuchen, das Selbstbewusstsein ihrer Kinder zu stärken. Beim Verdacht, dass Kinder oder Jugendliche durch Körpertrends im Netz stark beeinflusst werden, rät Expertin Dohm, das Gespräch zu suchen und im Zweifelsfall eine Beratungsstelle aufzusuchen. Allerdings bleibt der Einfluss der Eltern auf das Nutzungsverhalten ihrer Kinder meist begrenzt. Wie also lassen sich junge Menschen sonst noch schützen, wenn das Blockieren einzelner Hashtags nicht ausreicht?
„Ich glaube, dass wir den Jugendlichen zu viel zumuten, weil sie für ein gesundes Nutzungsverhalten ein hohes Maß an Impulskontrolle benötigen“, sagt Brandhorst. Eine Möglichkeit sei es, die Algorithmen der Plattformen so zu gestalten, dass zumindest den jungen Nutzenden weniger schädliche Inhalte angezeigt werden. Momentan sei es so – selbst wenn jemand nicht gezielt danach sucht, aber sich vermehrt Bilder schlanker Körper anschaut, werden immer mehr solcher Inhalte präsentiert. „Der Algorithmus weiß ja nicht, ob vielleicht ein vulnerables junges Mädchen vor dem Rechner sitzt“, sagt Brandhorst.
Über Verbote nachdenken
Jungen Nutzenden durch veränderte Algorithmen nur bestimmte Inhalte anzuzeigen, würde aber eine große Kooperationsbereitschaft von den Plattform-Betreibern erfordern. Denn die beliebtesten - wenn auch schädlichen - Inhalte anzuzeigen, ist Teil von deren Geschäftsmodell. „Daher könnte man durchaus auch über ein Verbot von Social-Media für bestimmte Altersgruppen nachdenken“, findet Brandhorst.
Auch Sabine Dohm von ANAD fordert digitale Schutzmaßnahmen wie Alterskontrollen, die Moderation von Inhalten, die Richtigstellung problematischer Inhalte und eine Transparenz bei den verwendeten Algorithmen. Dabei gelte es auch, die Anbieter zur Verantwortung zu ziehen, findet Dohm: „Die Plattformen verdienen Milliarden, richten bei unseren Kindern und Jugendlichen großen gesundheitlichen Schaden an und beteiligen sich in keiner Weise an den entstandenen Kosten.“
Hier gibt es Rat bei Essstörungen
Bei Anzeichen für eine Essstörung bieten Seiten wie www.essstoerungen-onlineberatung.de oder www.anad.de Beratung und Aufklärung. Weitere Angebote sind www.magersucht.de, www.essstoerungen-frankfurt.de oder die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) unter www.bzga-essstoerungen.de.