Muskelsucht statt MagersuchtNicht nur Mädchen betroffen – So zeigen sich Essstörungen bei Jungen

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Ein Junge steht oberkörperfrei im Badezimmer

Vorbilder in sozialen Medien können auch bei Jungen dafür sorgen, dass sich eine Essstörung entwickelt.

Die Zahl der Jungen mit Essstörung ist in letzter Zeit stark gestiegen. Unser Kolumnist Magnus Heier erklärt, was eine Muskelsucht ist.

Zwei typische Krankheiten junger Frauen und Mädchen, könnte man meinen, und hat man auch lange gemeint: „Anorexia nervosa“ und „Bulimia nervosa“. Bei der Anorexie essen die Betroffenen extrem wenig. Bei der Bulimie dagegen kommen erst Essattacken und dann der Versuch, die Nahrung vor allem durch Erbrechen oder durch Abführmittel aus dem Körper zu kriegen. Den Essstörungen liegt eine oft extrem falsche Körperwahrnehmung zugrunde: Die Betroffenen finden sich zu dick, selbst wenn sie objektiv schon bedrohlich abgemagert sind.

Magnus Heier

Magnus Heier

ist Autor und Neurologe und schreibt die wöchentliche Medizinkolumne „Aus der Praxis“.

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Ob in Filmen, Romanen oder in Gesprächen am Mittagstisch: Es ist immer von Frauen oder Mädchen die Rede. Und genau das ist auf fatale Weise falsch. Denn diese Essstörungen betreffen auch Jungen und junge Männer. Seltener zwar, aber immer öfter. Beispiel Ontario in Kanada: In einer aktuellen Studie, veröffentlicht im „Journal oft the American Medical Association“ hatten Forscher Patienten mit Essstörungen gezählt, insgesamt über 11.500 junge Menschen, die in die Krankenhäuser eingeliefert worden waren. Der beobachtete Zeitraum lag zwischen 2002 und 2019.

Zahl der eingewiesenen Jungen mit Essstörung stark gestiegen

Zwei Dinge sind bemerkenswert: Erstens nahm die Summe der Einweisungen in dieser Zeit insgesamt um 139 Prozent zu – also weit mehr als eine Verdoppelung. Zweitens, und das ist überraschend, nahm die Zahl der Einweisungen von Jungen um 416 Prozent zu. Es gibt also nachweisbar auch Jungen mit Essstörungen – und es werden deutlich mehr. Das kann ein gutes Zeichen sein: Die Krankheit wurde bisher übersehen und wird jetzt einfach zuverlässiger erkannt. Oder ein schlechtes Zeichen: Die Krankheit nimmt massiv zu.

Wahrscheinlich sind beide Erklärungen richtig. In jedem Fall muss betont werden, dass die Essstörungen bei Jungen und jungen Männern anders ablaufen, als bei Frauen, das erkennt man schon an den Begriffen: „Muskelsucht“, bei Mädchen „Magersucht“.

Muskelsucht und Magersucht sind sich ähnlicher, als es auf den ersten Blick scheint

Was vordergründig wie das Gegenteil klingt, hat ähnliche Ursachen: In beiden Fällen ist das eigene Körperbild gestört. Jungen wollen kräftig und muskulös sein. Das Ideal, das ja auch in den sozialen Medien, im Fernsehen vorgelebt wird, ist grundsätzlich unproblematisch. Wenn es aber zu einer Obsession wird, wenn für das normale soziale Leben keine Zeit mehr bleibt, wenn die „Muskelsucht“ zu erheblichem psychischem Stress führt, dann ist die Grenze zur Krankheit überschritten. Und das eben immer öfter: Denn der Druck durch die sozialen Medien steigt: Auch weil jungen Menschen sich selbst auf TikTok und Co. darstellen müssen.

Mit dem Ziel, einen muskelbepackten Körper zu bekommen, können sich auch Essstörungen entwickeln – man isst nur noch, was dem Muskelaufbau nützt. Und die Kombination aus extremem Muskeltraining und falscher Ernährung kann schließlich zu Unter- oder Fehlernährung führen. Oder zu einigen internistischen Problemen. Das Problem wird oft übersehen, weil ein muskulöser Körper bei Jungen eher gesund als krank aussieht. Trotzdem: Sprechen Sie im Zweifel den Haus- oder den Kinderarzt an.

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