Rätselhafte PatientenDie ungewöhnlichsten Fälle der Medizin

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Infekte, Rückenschmerzen, Diabetes. Ärzte werden täglich mit den gleichen Symptomen und Beschwerden konfrontiert. Doch ab und zu treffen Mediziner auf Patienten mit so seltsamen Krankheitsbildern, dass es keine medizinische Erklärung zu geben scheint. Plötzlich stehen sie vor einem großen Rätsel.

Für die Nachwelt dokumentiert

Wie kann es zum Beispiel sein, dass ein Mann regelmäßig stark betrunken ist, obwohl er keinen Tropfen Alkohol zu sich nimmt? Und ist es tatsächlich möglich, dass bei einer Frau im besten Alter erst die Zähne und dann die Knochen brüchig werden, weil sie unglaubliche Mengen Schwarzen Tee trinkt?

Kommt einem Mediziner ein seltener Fall unter, wird dieser in der Fachliteratur für die Nachwelt dokumentiert. Mehr als 50 solcher kuriosen Fälle hat Dr. Frank Schwebke, Arzt und Journalist, aus Fachzeitschriften zusammengetragen. Verständlich und unterhaltsam erzählt er die verblüffenden Medizin-Geschichten in dem jetzt erschienen Buch „Der geheimnisvolle Patient“.

Dr. Frank Schwebke, Der geheimnisvolle Patient – Rätselhafte Krankheitsfälle und wie sie aufgeklärt wurden, 224 Seiten, 16,99 Euro, riva Verlag.

Fünf Beispiele aus dem Buch können Sie auf den folgenden Seiten nachlesen. Etwa die wahre Geschichte der Frau, die zwar das Lesen verlernt, aber nicht das Schreiben.

Eine Frau verlernt das Lesen, aber nicht das Schreiben

Erzieherin Marianne P. liest ihren Kindergartenkindern mit Vorliebe Geschichten vor. Doch eines Morgens kann die 40-Jährige die Buchstaben auf einer Anwesenheitsliste plötzlich nicht mehr erkennen. Sie erscheinen ihr wie Hieroglyphen. Die Amerikanerin ist zutiefst verunsichert, denn ansonsten fühlt sie sich topfit.

Die Vorkommnisse setzen sich fort. Marianne P. kann zwar selber schreiben, aber das Geschriebene nicht mehr entziffern. Auch die Uhr kann sie nicht mehr lesen. Sie denkt langsamer, einfache Dinge im Tagesablauf erscheinen ihr auf einmal fremd. Panisch fährt sie ins Krankenhaus. Nach einer Kernspintomografie diagnostizieren die Ärzte bei Marianne P. einen Schlaganfall. Dabei wurde die Durchblutung an einer ungewöhnlichen Stelle ihres Hirns gestört, so dass als einziges Symptom die „Wortblindheit“ auftrat. „Alexie ohne Agrafie“ lauten die Fachbegriffe. Übersetzt bedeutet das: Leseunfähigkeit ohne den Verlust des Schreibens - ein irreparabler Schaden. Der Schlaganfall hat die für das Lesen zuständigen Nervenbezirke im Gehirn für immer zerstört. Alle übrigen Sinne und Fähigkeiten funktionieren weiterhin.

Das Neurologenteam um Dres. Jason Cuomo, Murray Flaster und José Biller von der Loyola-Universitätsklinik Chicago dokumentierte den Fall in der Fachzeitschrift Neurology.

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Sturztrunken ohne einen einzigen Drink

Ein 61-jähriger Amerikaner torkelt in die Notaufnahme eines Krankenhauses in Texas. Er ist offensichtlich sturzbetrunken, beteuert aber, keinen Tropfen Alkohol getrunken zu haben. Auch seine Frau bezeugt dies glaubwürdig.

Die Messwerte sagen etwas anderes. Die Blutalkoholkonzentration liegt bei 3,5 Promille! Ein Wert, der lebensbedrohlich sein kann. Der Mann wird zur Beobachtung für 24 Stunden ins Krankenhaus aufgenommen. Ausgenüchtert erzählt er den Ärzten am nächsten Tag seine Leidensgeschichte. Denn er war nicht das erste Mal betrunken ohne Alkohol getrunken zu haben.

Sechs Jahre zuvor hatte er nach einer Operation Antibiotika bekommen. Seitdem war es häufiger zu den merkwürdigen Trunkenheitsepisoden gekommen. Um der Sache auf den Grund zu gehen, spiegelte das Ärzteteam den oberen Magen-Darm-Trakt des Patienten.

Auto-Brewery-Syndrome

Die erstaunliche Entdeckung: Im Verdauungstrakt hatte sich eine ganze Kolonie Hefepilze angesiedelt. Und zwar solche, die schon seit dem Altertum zur Herstellung alkoholischer Getränke genutzt werden. Zu suchen hatten die Pilze dort natürlich nichts. Die Hefepilze hatten im Bauch des Patienten sozusagen eine eigene Brauerei eröffnet, weshalb Experten auch vom Auto-Brewery-Syndrome sprechen.

Was war passiert? Offenbar hatten die verabreichten Antibiotika die Darmflora verändert und die Pilze wuchern lassen. Mit Medikamenten gegen die Pilze konnte der Mann erfolgreich behandelt werden. Mittlerweile genießt er wieder ein meist alkoholfreies Leben.

Über den Fall berichteten die Ärzte Barbara Cordell und Justin McCarthy im International Journal of Clinical Medicine.

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Ein Wurm im Auge

Seit drei Wochen quält sich eine Frau mit Schmerzen im linken Auge. Für die 53-Jährige fühlt es sich an, als säße dort ein Fremdkörper. Das Auge ist gerötet, juckt und tränt. Sie tippt auf eine Bindehautentzündung und verwendet entzündungshemmende Augentropfen. Doch die wirken nicht.

Schließlich geht sie doch zum Arzt, der die Entzündung bestätigt. Der Augenarzt kann zunächst keinen Auslöser für die Entzündung feststellen und nicht erklären, warum die Tropfen nicht gewirkt haben. Doch der Arzt hat einen Verdacht.

Bei der Untersuchung hatte er etwas gesehen, das ihm wie ein Trugbild erschienen ist. Ein Wurm, der durch das Untersuchungsfeld gehuscht ist. Er tippt auf eine Infektion mit einem tropischen Krankheitserreger. Im Tropengürtel Afrikas werden Fadenwürmer von Bremsen übertragen, sie siedeln sich im Unterhautfettgewebe an und wandern durch den Körper bis ins Auge. Allerdings war die Patientin nicht in Afrika, sondern auf Sri Lanka.

Langer, fadenförmiger Wurm

Dennoch zeigt eine Untersuchung im Klinikum rechts der Isar der Universität München: Unter der Oberfläche der seitlichen Augen-Bindehaut sitzt ein langer, fadenförmiger Wurm, beschreiben die beiden Augenärzte Ramin Khoramnia und Aharon Wegener im New England Journal of Medicine. Sie machen einen kleinen Schnitt und ziehen den Wurm mit einer Pinzette heraus. Er ist zehn Zentimeter lang!

Glück für die Patientin: Die Wurm-Variante aus Sri Lanka ist eine andere Gattung, sie pflanzt sich nicht im Körper fort. Mit diesem kleinen chirurgischen Eingriff ist das Wurm-Problem gelöst.

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Eine Überdosis schwarzer Tee

Sie ist eigentlich noch viel zu jung, doch Linda W. aus Michigan, USA, leidet unter Zahnverfall. Ihre Zähne sind vollständig zerbröckelt. Mit 47 Jahren hat sie keinen eigenen Zahn mehr im Mund. Hinzu kommen Schmerzen im Rücken und im Bewegungsapparat. Aus Angst vermeidet es die Amerikanerin lange, zum Arzt zu gehen. Als die Schmerzen unerträglich werden, geht sie doch.

Beim Erstgespräch kommt heraus, Linda ist ein obsessiver Fan von schwarzem Tee. „Um richtig in Schwung zu kommen, hänge ich in meine große Kanne schon mal 100 Teebeutel“, erklärt sie den Ärzten. Die Mediziner denken, dass der übermäßige Schwarztee die Schmerzen auslöst, aber wie? Röntgenbilder des Unterarms zeigen Kalkeinlagerungen. Sie verursachen die Schmerzen und deuten auf einen Knochenabbau hin. Das berichten die Ärzte im New England Journal of Medicine.

In geringer Konzentration härtet Fluor

Bluttests zeigen zudem, dass der Fluor-Gehalt weit über dem Normwert liegt. Fluorose lautet der medizinische Fachbegriff. In geringer Konzentration härtet Fluor den Zahnschmelz. Nimmt man jedoch mehr als 20 Milligramm Fluorid pro Tag zu sich, schlägt der positive Schutzeffekt von Zähnen und Knochen in das Gegenteil um, sie werden härter und brüchiger.

Schwarzer Tee ist eines der Lebensmittel mit dem höchsten Fluorgehalt. Davon hatte die Patientin keine Ahnung. Ohne den Teekonsum und durch Medikamente regenerieren sich ihre Knochen etwas, die Schmerzen lassen nach, doch die Zähne sind hinüber.

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Ein goldbrauner Ring im Auge

Bis zu ihrem 15. Lebensjahr ist Amy M. kerngesund. Dann beginnt ein langsamer, unerklärlicher aber unaufhaltsamer Verfall. Zuerst zittern ihre Hände, dann kann sie Arme und Beine nicht mehr unter Kontrolle halten. Auch die Sprache der Engländerin wird undeutlicher und sie kann sich nur noch bewegen wie eine alte Frau.

Lange kann sich Amy nicht durchringen, zu einem Arzt zu gehen. Schließlich landet sie in der Neurologischen Abteilung des London University College. Dort hat die junge Frau Glück, denn das Ärzteteam um Dr. Anette Schrag und Jonathan M. Schott stellt auf Anhieb die richtige Diagnose.

Die Spezialisten erkennen um die Iris der Patientin einen goldbraunen Ring, ein Indiz eines seltenen Erbleidens. Der „Kayser-Fleischer-Kornealring“ ist typisch für die Krankheit Morbus Wilson, ausgelöst durch eine Mutation des „Wilson-Gens“ auf Chromosom 13.

Die Folge ist ein gestörter Kupferstoffwechsel. Kupfer kann nicht mehr ausgeschieden werden, es flutet den Körper nach und nach. In einigen Fällen lagert sich Kupfer auch im Auge an und bildet den goldbraunen Ring. In diesem Fall ein großes Glück, denn häufig wird die Erbkrankheit nicht korrekt oder erst viel zu spät diagnostiziert.

Fortan muss die Patientin auf kupferhaltige Lebensmittel wie Innereien, Nüsse, Kakao und Fisch komplett verzichten. Zudem wird das abgelagerte Kupfer durch Medikamente aus dem Körper geschleust. Auch hier hat Amy Glück. Die Krankheit ist noch nicht zu weit fortgeschritten. Zittern, unwillkürliche Muskelbewegungen und Sprachstörungen bilden sich wieder völlig zurück.

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