Anhören Zwanghaftes Sexualverhalten ist ein Tabu-Thema. Die Serie „Naked” möchte das ändern und erzählt, was passiert, wenn die eigene Sexualität zur Last wird.
Unstillbare LustWenn das Sexverhalten außer Kontrolle gerät

Gesundheit, Psyche, Sexsucht. RND
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Sie hätte es erahnen können, wird Marie später denken. Denn schon in der ersten Nacht mit Louis verschiebt er die Grenzen. Die beiden haben sich auf einer Kostümparty kennengelernt. Unterschiedlicher könnten die beiden nicht sein, wie sie da verkleidet als Nonne und Vampir voreinander stehen. Sie, die alleinerziehende Mutter, er, Single, Werber. Sofort ist da diese Faszination. Sie tanzen, knutschen, gehen zusammen nach Hause.
Am nächsten Morgen, Marie schläft noch, nähert sich Louis ihr von hinten und dringt ohne Vorwarnung in sie ein. Der Zuschauer fragt sich, ob das schon eine Vergewaltigung ist. Maries Freundin wird es später als genau das bezeichnen.
Was als spannendes Spiel mit rauschhaftem Sex beginnt, schraubt sich im Verlauf der sechsteiligen deutschen Serie „Naked” immer weiter hoch. Denn Louis hat nicht nur einfach gerne leidenschaftlichen Sex. Er ist sexsüchtig. Fachleute sprechen von Hypersexualität.
Sein Alltag wird bestimmt von sexuellen Reizen. Sie überfluten seine Gedanken, stehen zwischen ihm und dem Hier und Jetzt. Sein innerer Zwang, seine sexuellen Fantasien auszuleben, kontrolliert sein Leben. Die Suche nach immer stärkeren erotischen Kicks findet er im exzessiven Pornokonsum und bei Sexpartys. Mit Marie aber fühlt er sich so wohl, dass er sich eigentlich nichts mehr wünscht, als eine funktionierende Beziehung mit ihr.
Wenn sexuelle Gedanken zum Mittelpunkt des Lebens werden
Sexsucht ist der umgangssprachliche Begriff für Hypersexualität und beschreibt ein breites Muster von zwanghaftem Sexualverhalten. Beide Begriffe würden passen, sagt die Sexologin und Paartherapeutin Ann-Marlene Henning. Denn: „Betroffene werden ‚wie von einem Zwang‘ gesteuert. Sie können nicht von allein aufhören, selbst wenn sie es noch so sehr wollen.“
Das Ausleben der Sexualität reicht von häufig wechselnden Partnern bis zu übermäßiger Masturbation. Die Folge sind Kontrollverlust und die Vernachlässigung des Alltags. Ob es sich dabei auch um eine psychische Störung handelt, hängt vom individuellen Leidensdruck der Person ab. Im System der WHO, das Krankheiten und Gesundheitsprobleme umfasst, heißt die Störung „Compulsive Sexual Behaviour Disorder“ und wird als eigene Diagnose in der ICD-11 geführt. Nicht unter Süchten, sondern im Bereich der Impulskontrollstörungen. Darunter fallen auch Haare ausreißen oder Selbstverletzung.
Grenzen sind fließend
Die Grenzen zwischen einer hohen Libido und einer Sexsucht sind fließend, sagt Ann-Marlene Henning. „Wenn allerdings soziale Relationen vernachlässigt oder der Job nicht mehr ausgeführt werden kann, weil immer wieder auf der Toilette gewichst werden muss oder auf der Arbeit Pornos geschaut werden, dann spricht man von einem zwanghaften Sexualverhalten.“ Ein weiterer Punkt sei, dass die Person nicht aufhören kann, auch wenn sie möchte. „Da gibt es eine Ähnlichkeit zur Pornografie-Nutzungsstörung, bei der der Pornografiekonsum auch nicht mehr kontrolliert werden kann, obwohl er negative Auswirkungen auf das eigene Leben hat.“
Und so gerät auch Louis aus der Serie „Naked“ immer tiefer in eine Abwärtsspirale. Seine sexuellen Gedanken und Aktivitäten werden zum Mittelpunkt seines Lebens. Sein Sexualverhalten verändert und belastet seine persönlichen, familiären, sozialen oder beruflichen Lebensbereiche. Er sucht Aufregung und Erregung in anonymen Sexchats und im Pornokonsum und besucht Swingerklubs, um harten Gruppensex zu praktizieren.
Immer auf der Suche nach neuen Kicks
Und auch der Sex mit seiner Freundin Marie kippt von Sinnlichkeit und dem Austesten der individuellen Grenzen zu mechanischem Gerammel. Louis sucht immer neue Kicks und Reize, denn – und auch das ist für Sexsucht typisch: Nichts scheint mehr auszureichen. Experten nennen das Toleranz, wenn aus dem Sexualverhalten wenig oder keine Befriedigung mehr resultiert.

Eine Frau und ein Mann liegen eng umschlungen in einem Bett.
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Bei von Sexsucht Betroffenen geht es darum, dass die Person früher, in der Kindheit und Jugend, nicht gelernt hat, sich anders zu regulieren, sagt die Sexualtherapeutin Henning. Aufgestaute Frustration entlade sich über den Sex. „Wie auch bei einer Alkoholabhängigkeit oder bei anderen Drogen reagieren Betroffene mit Sex-Wollen, wenn der innere emotionale Druck steigt“, sagt Henning.
Neben dem zwanghaften sexuellen Verhalten beschäftigt sich die Serie „Naked” auch intensiv mit dem Thema der Co-Abhängigkeit. Es geht um die Frage, wie es sich anfühlt, mit einer suchtkranken Person eine Beziehung zu führen. Im Zentrum der Erzählung steht die toxische Liebesgeschichte von Louis und seiner Freundin Marie, die verstrickt ist in das Spiel von Lust und Zwang und immer tiefer in einen emotionalen Teufelskreis gerät.
Co-Abhängige brauchen oft therapeutische Hilfe
„Angehörige versuchen, die abhängige Person immer wieder zu retten, und übernehmen so dauerhaft eine Helferrolle“, erklärt Ann-Marlene Henning. „Oft haben die Partner gar kein Vertrauen mehr, weil es immer wieder gebrochen wird. Je nachdem, wie gut ihr Selbstwertgefühl ist, kommen immer wieder Selbstzweifel auf.
Der Partner fragt sich dann: ‚Warum geht mein Partner für Sex woanders hin? Bin ich nicht begehrenswert?‘“ Für Betroffene ist es schwer, mit dem Druck umzugehen, wenn der Partner bis zu zehnmal am Tag Sex will. Co-Abhängige brauchen oft ebenfalls therapeutische Hilfe, um die ganze Dynamik besser zu verstehen.
Versucht man vergeblich über einen längeren Zeitraum, sexuelle Impulse und sexuelle Aktivitäten ohne Erfolg zu kontrollieren und zu reduzieren, sollte man sich Hilfe suchen. „Helfen können die gleichen Ansätze, die auch bei Drogen benutzt werden“, sagt Henning. In größeren Städten gebe es Selbsthilfegruppen, die oft nach einem ähnlichen Prinzip wie die Anonymen Alkoholiker arbeiten. In der Regel braucht es aber auch therapeutische Hilfe.“

