Schulpolitik„Drei Viertel der Studierenden sind de facto halbe Analphabeten“

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Alltag in ganz Europa: Schülerinnen und Schüler auf dem Weg zum Unterricht.

Köln – Die Aussicht auf den Corona-Herbst, Lehrkräftemangel, der schleppende Ausbau der Digitalisierung, marode Schulgebäude – all diese Themen spielen derzeit in der bildungspolitischen Debatte in Deutschland eine große Rolle. Welche Probleme an den Schulen aber beschäftigen unsere europäischen Nachbarn? Welche Lösungen findet Frankreich, um dringend benötigtes Personal an die Schulen zu locken, was unternehmen die Niederlande in Sachen Sprachunterricht, der für die Integration der Migranten notwendig ist? Dürfen sich spanische Schülerinnen und Schüler über Unterricht ohne Masken und andauerndes Lüften freuen? Wie steht es um Reformen - sind die notwendig, oder überflüssig? Wir haben unsere Korrespondenten um Lageberichte von der bildungspolitischen Baustelle Europa gebeten.

Frankreich: Stress und wenig Geld

Paris. Als im Mai die neue französische Regierung nach der Präsidentschaftswahl feststand, sorgte vor allem eine Personalie für Aufsehen: die Ernennung des franko-senegalesischen Historikers Pap Ndiaye zum Erziehungsminister. Der bisherige Leiter des Museums für Einwanderungsgeschichte ist ein ausgewiesener Spezialist für die Geschichte der Schwarzen und soll nun die Herausforderungen lösen, denen die Schulen in Frankreich gegenüberstehen.

Frankreich

Während der Corona-Pandemie blieben diese abgesehen vom ersten Lockdown permanent offen. Dementsprechend musste das Personal einen geregelten Unterrichtsverlauf trotz regelmäßiger Corona-Tests und Ausfällen sicherstellen. Häufig klagten die Lehrer über chaotische Zustände durch unklare Vorgaben der Regierung – Probleme, die sich angesichts drohender hoher Inzidenzen im Winter nicht wiederholen sollen.

Als Hauptsorge stellte sich beim Schulbeginn am 1. September der Personalmangel heraus, von dem laut der Lehrergewerkschaft SNES-FSU 62 Prozent der schulischen Einrichtungen im Land betroffen sind. Da zu Jahresbeginn rund 4000 Stellen unbesetzt waren, durchliefen rund 3000 Aushilfslehrer eine Schnell-Ausbildung von wenigen Tagen. Meist hatten sie zwar einen Studienabschluss, allerdings keinen pädagogischen Hintergrund. Laut Bildungsministerium konnten allerdings 80 Prozent von ihnen eine Lehr-Erfahrung vorweisen. Diese Art der Lehrer-Rekrutierung sei ebenso wenig akzeptabel, „wie wenn ein Arzt oder der Pilot eines Flugzeugs innerhalb von 30 Minuten angestellt würde“, kritisierte dennoch die Generalsekretärin der SNES-FSU, Sophie Vénétitay: „Zu unterrichten ist ein Metier, das man lernen muss und in dem man nicht improvisieren kann.“

Lehrerberuf in Frankreich gilt als unattraktiv

Seit langem gilt der Lehrerberuf in Frankreich als zu unattraktiv, um genügend Nachwuchskräfte anzuziehen. Das liegt an zunehmendem Stress und fehlender Wertschätzung durch Schüler und Eltern, vor allem aber an der vergleichsweise geringen Bezahlung. Im Schnitt verdienen französische Lehrer rund 2600 Euro netto und damit deutlich weniger als ihre Kolleginnen und Kollegen in den meisten OECD-Ländern. 1983 wurden Gehaltserhöhungen von der Inflation entkoppelt, während die Sozialabgaben zunahmen.

Minister Ndiaye hat Erhöhungen versprochen, sodass Berufsanfänger ab kommendem Jahr mit einem Nettogehalt von 2000 Euro im Monat rechnen können. Dass Frankreich in Zeiten hoher Staatsverschuldung die Löhne seiner 880.000 Lehrerinnen und Lehrer deutlich steigern kann, gilt allerdings als unwahrscheinlich. Birgit Holzer

Niederlande: Reform und Renovierung

Den Haag. Das niederländische Schul- und Bildungssystem steckt in der Krise. Es herrscht Lehrermangel. Es herrscht Reform- und Renovierungsbedarf. Nicht nur an vielen Schulgebäuden, sondern vor allem im Lehrbetrieb. Er hat sich durch die vielen Schüler mit Migrationshintergrund und aufgrund der Corona-Pandemie strukturell verändert.

Holland

Schon vor der Corona-Pandemie war das Ausbildungsniveau vieler Schüler in der Grund- und Mittelstufe in Holland unzureichend. Einer Studie des Erziehungsministeriums zufolge besaßen bereits vor 2020, also vor Ausbruch der Corona-Pandemie, viele Schüler „unzureichende bis mangelhafte Sprach- und Rechenkenntnisse" und „zu geringe soziale Kompetenzen". Die Corona-Krise hat das noch verschlimmert, weil durch die ständigen Lockdowns viele Unterrichtsstunden ausfielen. Sie konnten im „Homeoffice“ kaum oder überhaupt nicht nachgeholt werden.

Mangel im Ausdruck und mathematische Schwächen

Mehr als ein Viertel der Grundschulkinder sind dieser Studie zufolge derzeit nicht in der Lage, sich auf dem geforderten Mindestniveau verbal auszudrücken oder zu schreiben. Im Fach Mathematik erreichen jedes Jahr etwa 5. 000 niederländische Schüler in der Grund- und Mittelstufe nicht das Zielniveau. Sie erhalten im Fach Rechnen die Note Mangelhaft.

Rund 8,5 Milliarden Euro will das christlich-liberale Haager Kabinett unter Führung von Ministerpräsident Mark Rutte nun in ein „Nationales Bildungsprogramm“ investieren. Geld, das dringend nötig ist, um erstens mehr Lehrer anzustellen, sie besser zu bezahlen, viele Schulgebäude zu renovieren und den Unterricht zu modernisieren. Denn Fakt ist auch, dass an vielen Schulen und in vielen Klassen immer mehr Kinder mit Migrationshintergrund sitzen. Sie sprechen zu Hause in der Regel die Sprache ihrer Eltern. Niederländisch ist für sie zunächst eine Fremdsprache. Helmut Hetzel

Italien: Frontalunterricht und bröckelnder Putz

Rom. Am 12. September hat in Italien nach drei Monaten Sommerferien in den meisten der 20 Regionen des Landes der Unterricht wieder begonnen - und noch wenige Wochen vor dem Beginn des neuen Schuljahrs fehlten in den Klassenzimmern sage und schreibe 200.000 Lehrkräfte. Die Vakanzen waren zum Teil bürokratisch bedingt - die Anstellungsprozeduren sind kompliziert in Italien. Zahlreiche Stellen konnten inzwischen besetzt werden. Aber zehntausende blieben unbesetzt - der Lehrermangel in Italien hat längst dramatische Ausmaße angenommen.

Mit Corona hat dies höchstens am Rand zu tun. Der wichtigste Grund für den Notstand: Italien leistet sich im EU-Vergleich überdurchschnittlich viele Lehrkräfte, nämlich 800.000 für sieben Millionen Schülerinnen und Schüler. Gleichzeitig liegen die Bildungsausgaben unter dem EU-Durchschnitt. Die logische Folge: Das Heer der Lehrerinnen und Lehrer wird miserabel bezahlt. Der Einstiegslohn für Primar- und Sekundarstufe liegt bei monatlich 1400 Euro netto. Nach 35 Dienstjahren sind es dann maximal tausend Euro mehr. Die Belastung für die Lehrpersonen nimmt zu, das Gehalt stagniert - so lässt sich kaum Personal rekrutieren.

Italien

Italiens Schulen sind seit Jahren eine einzige Problemzone. Der Unterricht gilt als wenig innovativ; Frontalunterricht herrscht vor. Bei den Pisa-Ergebnissen liegt Italien noch knapp im Mittelfeld, aber: „Drei Viertel der Studierenden an den Universitäten sind de facto halbe Analphabeten. Sie redigieren Texte, als würden sie SMS schreiben und machen unglaubliche Fehler“, schlugen unlängst die Universitäten Alarm. 13,5 Prozent der italienischen Schüler verlassen die Schule ohne Abschluss; im Rest der EU beträgt der Durchschnitt 10,2 Prozent. Auch der Prozentsatz der Italiener, die eine akademische Laufbahn einschlagen, ist weit unterdurchschnittlich.

An den Schulen mangelt es nicht nur an Lehrkräften, sondern auch an Platz, Geld und Unterhalt. 450.000 Schülerinnen und Schüler besuchen Schulgebäude, die einen oder mehrere Minimal-Standards nicht erfüllen, besonders im Hinblick auf Sicherheit. 17.000 Klassen überschreiten die erlaubte Maximalgröße von 25 Schülern. In 18 Prozent der Klassenzimmer bröckelt der Putz von der Decke, in 23 Prozent der Gebäude gibt es eingeschlagene Fensterscheiben, 13 Prozent der Stühle und 18 Prozent der Schulbänke sind kaputt, 56 Prozent der Rollläden ebenfalls. Der Rückstand beim Unterhalt der Gebäude wird auf über 4 Milliarden Euro geschätzt. Dominik Straub

Spanien: Kulturkämpfe und Sitzenbleiber

Madrid. Eine Sorge weniger: Mit Beginn des Schuljahrs 2022/23 gibt es an spanischen Schulen keine Covid-Beschränkungen mehr. Die derzeitigen Infektionszahlen erlauben das. Kein Abstandhalten mehr in der Schulkantine, kein Dauerlüften in der Unterrichtszeit. Lehrer und Schüler können sich wieder den lange bekannten Ärgernissen zuwenden. 

Spanische Schüler bleiben häufiger sitzen als die Schüler fast aller anderen OECD-Länder: Bei der letzten Pisa-Studie 2018 stellte sich heraus, dass 28,7 Prozent aller 15-Jährigen mindestens einmal in ihrer Schullaufbahn die Klasse wiederholen mussten (zweieinhalbmal mehr als im Durchschnitt). Zum anderen gehört Spanien zu den Ländern mit den meisten Schulversagern, die ihre Schullaufbahn ohne jeden Abschluss beenden: 9,3 Prozent (mehr als doppelt so viele wie im OECD-Schnitt). Dazu kommt das verbreitete Unbehagen über ein System, in dem Auswendiglernen die beinahe einzige Strategie für den Prüfungserfolg ist. 

Spanien

Die derzeitige Linksregierung will das ändern. Das ist nichts besonderes. Ihre Schulreform, deren zweiter Teil in diesem Schuljahr umgesetzt werden soll, ist die achte seit Spaniens Rückkehr zur Demokratie vor 44 Jahren. Wie alle Bildungsreformen hat auch diese keinen breiten Rückhalt in der Gesellschaft, weswegen bereits absehbar ist, dass eine kommende rechte Regierung zur nächsten Reform mit ebenso beschränktem Rückhalt schreiten wird.

Schulbücher fehlen, Lehrpläne sind unfertig

Die achte Reform macht sich zu Beginn dieses Schuljahrs daran bemerkbar, dass Schulbücher fehlen, weil die neuen Lehrpläne nicht rechtzeitig fertig waren. Zum Teil ist das Folge einer Boykottstrategie der Regionen (den deutschen Bundesländern vergleichbar), die für die Schulpolitik verantwortlich sind, sich zu ihrem Ärger aber an die nationale Rahmengesetzgebung halten müssen.

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Wenn es nach den Reformern geht, wird die große Neuigkeit dieses Schuljahrs ein neuer Unterrichtsfokus sein: Fähigkeitsaneignung vor Kenntnisvermittlung. Was bei den Reformgegnern die größten Irritationen hervorruft, ist das Beiwerk. Selbst im Mathematikunterricht sollen jetzt „grundlegende Fähigkeiten und Einstellungen zum Verständnis von Emotionen“ vermittelt werden, und kein Unterrichtsfach wird ohne „Gender-Perspektive“ auskommen. Der Kulturkampf ist offenbar gerade aus der Schule nicht herauszuhalten. Eben deshalb reiht sich eine Bildungsreform an die andere. Dieses Jahr immerhin ohne Corona-Restriktionen. Martin Dahms

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