Einsam bis ins GrabWas geschieht mit den Toten, um die niemand trauert?

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trauerodnungsamt

Der Weg zum Gräberfeld ist einen Kilometer lang – Zeit zum Nachdenken.

  • Ralf Berghane bestattet Tote, deren Angehörige nicht ermittelt werden können, die im Alter sozial isoliert oder total verarmt waren. Manche haben Suizid begangen, andere lagen monatelang in ihrer Wohnung, bis sie gefunden wurden.
  • Die Zahl der sogenannten ordnungsamtlichen Bestattungen steigt. Was bleibt von Menschen, um die niemand trauert? Und wie werden sie beerdigt?

Ihre Namen stehen auf Zetteln, festgeklebt auf Pflanzenschildern. Der Stiel steckt in der nassen Erde, wenige Zentimeter hinter der Asche. Acht Urnen. Auch das Grab ist in acht Teile geteilt. Holzbalken, mit Kunstrasen umlegt, geben den Feldern einen quadratischen Rahmen. Quadrat. Alles achtmal. Alles identisch. Bis auf die Namen auf den Schildern. Sie zeigen, wer die Menschen waren, deren Asche hier steht. Drei Männer, fünf Frauen. Verstorben im Alter von 54 bis 85 Jahren. Wer weiß, ob sie sich je begegnet sind. Hier, auf dem Hauptfriedhof in Gelsenkirchen, 80 Zentimeter unter der Erde, werden sie gemeinsam bestattet.

Es ist kühl und windig. Die Vögel zwitschern trotzdem. Ralf Berghane, ein Mann mit Lachfalten und runder Brille, tritt aus der Trauerhalle. Acht Menschen soll Berghane heute auf ihrem letzten Gang begleiten. Er weiß nur, was in der Sterbeurkunde steht: Vorname, Nachname, Geburtsdatum, Geburtsort, Wohnsitz, Familienstand, Sterbeort, Todestag. Und die Angehörigen? Mit ihnen konnte er nicht sprechen. Das Ordnungsamt konnte weder Partner noch Kinder, Enkel, Eltern ermitteln. Oder sie haben sich geweigert, sich um die Beerdigung zu kümmern.

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Acht Verstorbene werden an diesem Tag gemeinsam auf dem Urnengrabfeld in Gelsenkirchen bestattet.

Als er auf den Vorplatz tritt, wirkt Berghane erleichtert. Es sind doch Menschen gekommen, die die Toten kannten. Arbeitskollegen, Freunde. Etwa für die Hälfte der Menschen, die vom Ordnungsamt bestattet werden, komme noch jemand vorbei, sagt Berghane. Drei Gruppen stehen da. Eine Frau mit glitzernden Turnschuhen und gepunktetem Kopftuch raucht und redet mit einem Mann mit Glatze und Daunenjacke. Neben ihnen stehen sechs Frauen mit Leder-Rucksäcken und überwiegend weißen Haaren. Eine dritte Gruppe hat sich unter dem Vordach der Trauerhalle versteckt. Berghane stellt sich vor, schüttelt jedem die Hand: „Und zu wem gehören Sie?“ Vielleicht kann er doch noch etwas erfahren. In seine Reden einbauen würde er die Geschichten nicht. Das sei ungerecht gegenüber denjenigen, für die niemand gekommen ist.

Zehn Tage lang hat das Ordnungsamt nach der Meldung eines Sterbefalls Zeit, um Angehörige zu finden. In Melderegistern, bei Standesämtern, Nachbarn. Dann wird eingeäschert. Das ist preiswerter. Und da die Bestattung meist öffentlich ausgeschrieben wird, in Köln sogar europaweit, bekommt der den Auftrag, der das günstigste Angebot macht. Wie oft es in Deutschland zu einer ordnungsamtlichen Bestattung kommt, dazu gibt es keine Daten. Klar ist: In vielen Städten werden es mehr. Der Bundesverband Deutscher Bestatter kennt drei Gründe: höhere Lebenserwartung, Altersarmut, soziale Isolation.

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Die Steine des Gräberfeldes stiftet der Verein „Ruhesteine“. Sie sollen den Toten ihre Würde zurückgeben.

„Heute sind wir gut besucht“, sagt Berghane. Vier Wochen zuvor stand er hier alleine mit vier Urnen. Berghane ist verheiratet, hat zwei Kinder. Er habe keine Angst vor dem einsamen Tod. Aber eine Garantie gebe es nicht. Was, wenn die Kinder ausziehen? Nicht mehr anrufen? Einmal habe er ein Ehepaar bestattet. Erst sei der Mann verstorben, kurz darauf die Frau. Zu beiden Bestattungen sei jeweils nur ein Gast gekommen: der Sohn. Er habe sechs Geschwister, diese wollten aber nicht kommen. Wer weiß schon, was vorgefallen ist. Das „Warum?“ im Kopf, sagt Berghane, das bleibe.

Wie eine ordnungsamtliche Bestattung durchgeführt werden muss, dazu gibt es je nach Stadt unterschiedliche Vorgaben: Von einer zentralen Gedenktafel auf dem Friedhof bis zu einer anonymen Bestattung ist alles dabei. Nur dass die Urne sechs Wochen nach der Einäscherung unter der Erde sein muss, das ist überall gleich. In Gelsenkirchen wurden Verstorbene noch bis vor ein paar Jahren anonym beerdigt. Für Ralf Berghane war es unerträglich, dass jemand einfach so verschwindet. Ohne Feier, ohne Namen. Vor etwa zehn Jahren fingen er und die evangelische Pfarrerin Zuzanna Hanussek darum an zu verhandeln: mit der Stadt, den Kirchen und dem Ordnungsamt. Alle zwei Wochen sollten jeweils vier bis zwölf Menschen zusammen beerdigt werden. Mit Texten, Gebeten und Grabstein. Grabflächen und Grabpflege sollte die Stadt übernehmen. Sammelbestattung – das höre sich schlimm an. Für Berghane und Hanussek aber hat es etwas Schönes.

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„Der Weg zu den Grabfeldern ist lang. Nutzen Sie ihn, um über die Verstorbenen nachzudenken“, sagt Berghane und führt die Gäste auf eine Allee. Bis zu den Urnen läuft man einen Kilometer. Vorbei an anderen Gräbern, geschmückt mit Windrädern, Engeln, Tannenzweigen. Berghane will, dass die Gäste die Einsamkeit bemerken. Etwa zehn bis 15 Prozent derjenigen, die von Berghane und seinen Kollegen ordnungsamtlich bestattet werden, haben Suizid begangen. Immer wieder komme es vor, dass Menschen erst Monate nach ihrem Tod in ihrer Wohnung entdeckt werden. Dass auf ihrer Sterbeurkunde kein Todesdatum stehe, sondern eine „Liegezeit“ – ein Zeitraum zwischen dem Auffindungsdatum und einem möglichen Sterbedatum. Manchmal sei ihr Tod nur aufgefallen, weil der Geruch nicht mehr zu ignorieren war. Im vergangenen Jahr fand man eine Frau allein in ihrer Wohnung. Sie war schon über neun Monate tot.

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Gemeindereferent Ralf Berghane und seine Kollegin bei der Bestattung

„Liegen hier Soldaten?“, fragt ein Gast, als die Gruppe an den ordnungsamtlichen Gräbern angekommen ist. Wie ein Mahnmal liegen die Steine da. Auf jedem ist ein Name eingraviert, dazu Geburtsdatum und Sterbedatum. Die Steine sollen den Verstorbenen ihre Würde zurückgeben. Aber sie sollen auch auffallen. Mehr als Tausend Steine liegen auf dem Feld. Alle 14 Tage werden es mehr. Berghane würde gerne ein Plakat anbringen, auf dem steht: „Hier werden Menschen bestattet, die keine Angehörigen haben, die sich kümmern.“ Vielleicht könnte er damit für den Verein „Ruhesteine“ werben, der je 70 Euro pro Grabsteine bezahlt. Sponsoren zu finden sei schwierig. „Die kaufen ja eh nicht mehr bei uns“, habe ihm ein Unternehmer mal geantwortet.

Berghane und seine Kollegin beginnen mit dem Vaterunser. Viel religiöser soll die Zeremonie nicht werden. Auch sonst bleibt alles allgemein. Was soll man auch sagen über einen Menschen, über den man nichts weiß? Berghane liest die Namen vor. Dann haben die Gäste die Möglichkeit, etwas zu sagen. „Nein, nein“, sagt der Mann mit Glatze und wirft eine Rose in das erste Feld. Hinter dem Friedhofszaun hört man ein paar Jungen Fußball spielen. Nicht immer sind die Diensttage einsam. Die größte Bestattung, die Ralf Berghane jemals durchgeführt hat, war eine ordnungsamtliche. 150 Gäste. Ein Pfarrer einer ghanaischen Auslandsgemeinde habe die Bestattung zusätzlich per Livestream nach Ghana übertragen. An einem anderen Tag sei eine komplette Hartz-IV-Selbsthilfegruppe mit Querflöte gekommen, wieder bei einer anderen Beerdigung kam eine Gruppe mit Bollerwagen und habe Bier in das offene Grab geschüttet.

Der Bestatter lässt die Urne an einem Seil in das Grab gleiten. Ralf Berghane greift zu einer Schaufel, nimmt etwas Erde auf das Blatt und lässt sie in die Felder regnen. „Traurig ist das“, sagt eine Frau mit rot gefärbten Haaren auf dem Rückweg. Sie ist die Ex-Schwägerin einer der Verstorbenen. Von ihrem Tod habe sie durch den Nachruf des Arbeitgebers in der Zeitung erfahren. Verschlossen sei sie gewesen, manchmal schwierig, keine Kinder, kein Partner. „Da kann man mal sehen, wie schnell so was gehen kann“, sagt sie und zieht ein Taschentuch aus ihrer Hosentasche.

Eine Stunde später sind die acht Quadrate mit Erde gefüllt. Die Namenschilder sind verschwunden. Dafür steht da eine Schale gefüllt mit Narzissen und weißen Rosen. Daneben ein Trauerkranz, irgendjemand muss ihn dort abgelegt haben. Auf der Schleife steht auf nassem Stoff: „Ein letzter Gruß“. 

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