Helfer im Ahrtal„Da stehen 130 Leute vor dir und keiner kriegt einen Cent“

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Flutreportage Ewald und Heike

Heike und Ewald Bauer fahren als Fluthelfer regelmäßig ins Ahrtal. 

Nettersheim/Ahrweiler – In der Nacht vom 14. auf den 15 Juli floss bei den Bauers das Regenwasser Richtung Tal. Ewald und Heike Bauer guckten zu und dachten, bei ihnen in Nettersheim ginge die Welt unter. „Alles pipifax gegenüber dem, was in anderen Regionen passiert ist“, sagt Ewald heute. „Wenn du alles verloren hast, nur noch die Kleider am Leib hast – das sind Probleme.“

Zwei, drei Tage lang tigerten die Bauers durch ihr unversehrtes Haus, schockiert darüber, was die Wassermassen einige Kilometer weiter angerichtet hatten. Am 22. Juli, eine Woche nach der Katastrophe, fuhr Ewald zum ersten Mal mit einem Hilfstransport der Initiative „Eifel für Eifel“ ins Ahrtal. Seitdem hat er sich von seinem geregelten Rentnerdasein verabschiedet: Ein- bis dreimal pro Woche lenkt er den Hilfstransport ins Katastrophengebiet, mal mit seiner Frau Heike, seiner „liebsten Beifahrerin“, mal mit andern Helfern. Sie gehören zu einem harten Kern an Helfern, die die Flutkatastrophe nicht dem Vergessen überlassen wollen.

Der kostenlose Supermarkt

Es ist ein kalter Novembermorgen in Engelgau, als um 9.30 Uhr der Lkw aus Freising vor dem Bauernhof in der Taubenstraße 10 parkt. Er hat die Spende einer Molkerei geladen: Pudding, Joghurts, mehrere Paletten. Hier, etwas abseits von Nettersheim, hat „Eifel für Eifel“ ihre Ausgabestelle für Flutbetroffene aufgebaut. In einer alten Holzscheune mit dämmrigem Licht stapeln sich Essenskonserven in den Regalen, Getränke, Babywindeln, Adventskalender, Spielsachen, Jacken. „Unser kleiner Aldi“, sagt Heike Bauer stolz.

Dienstags, freitags und samstags können Flutbetroffene hier von 13 bis 17 Uhr einkaufen, wobei kaufen natürlich missvertändlich ist. Alles in dem „kleinen Aldi“ ist umsonst. An jedem Öffnungstag kommen 20 bis 25 Familien, jedes Mal begrüßen zehn bis zwölf ehrenamtliche Fluthelfer die Gäste. Der Wiederaufbau ist für Flutopfer mit genug Kosten verbunden, sagt Heike. Da sollen sie nicht auch noch für Grundnahrungsmittel Geld ausgeben müssen.

Der Rest der Lebensmittelspenden geht direkt ins Ahrtal. Um 10 Uhr liegen Pudding, Joghurt, Küchenrollen und Getränke in dem weißen Bürgerauto der Initiative. Ewald steigt in den Transporter, Heike in ein weiteres Auto: Mehrere Essensausgaben an der Ahr warten auf die Spenden.

Flutreportage Ewald

Ewald Bauer in dem Kleintransporter von „Eifel für Eifel“

Ewald Bauer nutzt seinen Ruhestand, um zu helfen

Ewald Bauer, 63 Jahre alt, Soldat im Ruhestand, ist nicht der Typ Rentner, der den Tag gemütlich vor dem Wohnzimmerkamin verbringt. Vor Corona betreute er ein Flüchtlingsmädchen in ihrer Schule, für die Gemeinden Nettersheim und Kall ist er als Schiedsmann bei Nachbarschaftsstreitigkeiten aktiv. In einer Elektrowerkstatt eines Sozialkaufhauses repariert er umsonst Haushaltsgeräte. „Ich brauche Menschen um mich herum“, sagt Ewald. „Alleine würde ich eingehen.“

Eine Stunde fahren die Bauers zu ihrem ersten Stopp. Ewald nutzt die Fahrzeit, um zu erzählen: Davon, wie eine Frau in der Taubenstraße Lebensmittel abholte, deren Mann und Sohn in der Flutnacht die Waschmaschine aus dem Keller holen wollten. Dann stieg das Wasser schlagartig an, die Kellertür mit dem Glasfenster ließ sich nicht mehr öffnen. „Sie sah wie durch ein Aquariumfenster, wie ihren beiden Jungs das Wasser an den Hals stieg“, sagt Ewald. Die zweite Kellertür, eine marode Tür, die der Vermieter nie austauschen wollte, flog im letzten Moment heraus. Vater und Sohn wurden herausgespült. Sie leben. Geschichten, bei denen auch Helfern die Worte fehlen.

Ewald erzählt von der unglaublichen Solidarität und Hilfsbereitschaft im Tal, aber auch von Schrotthändlern, die nach der Flut in die Dörfer einfielen und alles in ihre Anhänger luden, was sie in ihre Finger bekamen. Davon, wie bei Aufräumarbeiten plötzlich die Geräte ausgingen, weil jemand auf der Straße den Stecker gezogen und das Aggregat geklaut hat. Wie die Polizei Plünderer vor wütenden Anwohnern schützen musste.

Die Flut machte Altenburg zur Geisterstadt

Flutreportage Heike

Heike Bauer trägt in Altenburg Lebensmittel ins Versorgungszelt. 

11.30 Uhr. Es ist fast still auf dem Dorfplatz von Altenburg, der ersten Station der Bauers. Gerade hat das Ehepaar mehrere Palletten an Lebensmitteln in ein Versorgungszelt neben der früheren Schule getragen, jetzt machen sie selbst eine kurze Essenspause. Nur sieben Häuser des 600-Einwohner-Dorfes habe die Flut verschont, sagt ein Fluthelfer im Zelt. Ohne die Bauarbeiter wäre Altenburg eine Geisterstadt.

Flutreportage Altenburg

Der zerstörte Dorfkern in Altenburg, Landkreis Altenahr.

Hier, direkt am Flusslauf, arbeitet gerade niemand, nur aus der Ferne weht das Piepen der Bagger herüber. Die Häuser, bis zum ersten Stock mit Schlamm beklebt, ragen verlassen zwischen den braunen Straßen hervor. „Das Dorf ist wie tot“, sagt Heike. „Das ganze Dorf.“ Neben ihr liegt eine Straßenlaterne platt auf dem Gehweg, umgeknickt und verdreht wie ein weinrotes Stück Draht. Vermutlich werden Bewohner, die hier wieder einziehen, bei jedem Regen besorgt auf die Ahr blicken. „Aber was willst du machen?“, fragt Heike. „Du kannst nur hoffen, dass es mindestens 80 Jahre dauert, bis sich so eine Flut wiederholt.“

Weiter geht es, über Schotterstraßen durch Altenahr und Mayschoß, vorbei an Brücken, von denen nur noch die Pfeiler übrig sind, vorbei an Häusern, denen Wände fehlen. Manche Mayschoßer haben vor ihren zerstörten Häusern geschmückte Weihnachtsbäume aufgestellt.

Flutreportage Weihnachtsbäume

Anwohner haben vor zerstörten Häusern in Mayschoß Weihnachtsbäume aufgestellt. 

250 Klimatechniker bringen Wärme in die Häuser von Flutopfern

In Dernau tritt Ewald auf die Bremse. „Da ist doch der Tobi!“. Er deutet auf eine kleine Menschengruppe, die sich neben einem Tante-Emma-Laden und einem Berg verbogener Bahnschienen versammelt hat. Tobias Schott, 33 Jahre alt, „der Riese“, wie Ewald ihn nennt, ist mit seinen über zwei Metern Körpergröße leicht zu erkennen.

Es ist „dem Riesen“ und seinen Kollegen zu verdanken, dass hunderte Familien diesen Winter nicht in kalten Wohnungen verbringen. Seit August koordiniert Tobias Schott, eigentlich Unternehmer aus Rodgau bei Frankfurt, mit dem Klimatechniker Marco Eckert das Projekt „Wärme fürs Ahrtal“: Die Helfer bauen gespendete Einraumheizungen bei Familien ein, die Opfer der Flut wurden. Erstes Ziel, erzählt Schott, waren 100 Heizungen. „Da habe ich noch gesagt: Du spinnst, wie willst du das finanzieren? Eine Anlage kostet 3.500 Euro!“ Doch die Firmen, die sie kontaktierten, spendeten – mehr als nur hundert Heizungen.

Flutreportage Tobias

Tobias Schott, Fluthelfer

250 Klimatechniker aus ganz Deutschland meldeten sich bei Schott und Eckert. Sie bauten Überstunden ab, nahmen Urlaub, kamen ins Ahrtal, um die gespendeten Heizungen zu montieren. Manche brachten selbst Heizungen aus ihrer Firma mit. „Es macht wahnsinnig Spaß, diese Truppe zu führen“, sagt Tobias Schott. „Da stehen an einem Tag 130 Leute vor dir und keiner kriegt einen Cent.“ Manche Familien fragen, wann sie die Heizungen zurückgeben müssen. Nie, sagen die Monteure dann. Die sind ein Geschenk. Nutzt sie in den Sommermonaten einfach als Klimaanlage.

850 Heizungen haben die Helfer von „Wärme fürs Ahrtal“ bereits installiert. Hochgerechnet, sagt Schott, sind das 4.000 Menschen, die nun im Warmen sitzen.

„Bei Leuten wie Tobi wird nicht lang gefackelt“, sagt Ewald, als er den Motor des Transporters wieder anschmeißt. „Die sehen, was gebraucht wird und machen einfach.“

Der Kaiser von Walporzheim

Walporzheim, 14 Uhr. Es scheint, als sei in dem Ort direkt vor Ahrweiler die Zeit am 15. Juli stehen geblieben. Wenige Meter vom Fluss entfernt hängt ein Toilettenkasten vom Mauerwerk eines Hauses herunter, das zur Hälfte aus Trümmern besteht. Ewald und Heike waren schon häufiger hier: So manches Baumaterial, das an „Eifel für Eifel“ gespendet wurde, gaben sie an „den Obi“ von Walporzheim.

Eigentlich heißt „der Obi“, wie die Bauers sagen, „Baustoffzelt Kaiser Walporzheim“. Dort begrüßt der Mann, den die Helfer nur „Kaiser“ nennen, alle Besucher mit einem breiten Lächeln. Kaiser ist umgeben von Säcken voller Putz und Zement, von Rohren, Dachziegeln, Farbeimern und Badewannen. Er trägt eine gelbe Warnweste, die nicht mehr ganz so gelb ist, seit dutzende Helfer ihren Namenszug draufgekritzelt haben. „Jeder Mensch ohne Versicherung ist herzlich willkommen, hier shoppen zu gehen“, sagt Kaiser. „Für null Euro.“ Von hier aus verschenkten Helfer Baumaterial im Wert von mehreren Millionen Euro an Flutopfer.

Flutreportage Kaiser

Kaiser, Namensgeber und Organisator im Baustoffzelt Kaiser Walporzheim. 

Seit August arbeitet Kaiser ehrenamtlich in dem Baustoffzelt. Seine Firma in Bochum stellte ihn frei. Kaiser sagt, er sei nicht der Chef des Zeltes, er organisiere hier. Doch wenn irgendjemand Fragen hat, dann wenden sie sich eben an ihn. In den ersten Wochen, erzählt er, räumten die Helfer bis drei Uhr nachts gespendetes Baumaterial ein. Sie schliefen vier Stunden im Containerdorf und versammelten sich um viertel vor neun zur Lagebesprechung.

„Wenn’s mir hier zu viel wird, dann kann ich nach Hause, nach Bochum fahren“, sagt Kaiser. „Die Leute hier können das nicht.“ Einmal seien Seelsorger zu ihm ans Zelt gekommen. „Einer sagte: Ihr glaubt gar nicht, wie viele Suizide ihr verhindert habt.“ Grund genug für Kaiser, um weiterzumachen.

„Es ist ein gutes Gefühl, zu helfen“

Ahrweiler, 15 Uhr. Endstation. Heike und Ewald sitzen in einem Essenszelt der „Ahrche“, einem Containerdorf direkt am Fluss. Die Lebensmittel von „Eifel für Eifel“ tragen sie hier ins Lager, unterstützt von weiteren Helfern. Sie erinnert sich noch gut an ihre erste Fahrt nach Ahweiler, sagt Heike. Lange Zeit hatte sie gezögert, hatte Angst davor, die Zerstörung mit eigenen Augen zu sehen, bis sie Ewald im Sommer das erste Mal begleitete. Sie muss daran denken, wie sich Anwohner schämten, als sie zum Transporter kamen und um eine Flasche Wasser baten. Wie dankbar sie für Kleinigkeiten waren, die für Ewald und Heike wirklich keinen Dank wert waren. War ja nur eine Flasche Wasser – davon hatten sie doch gerade ganze Paletten abgeladen.

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„Das nimmt man auch ein Stück mit nach Hause“, sagt Heike. „Wir kommen nach zehn Stunden zurück, sind verdreckt, verschwitzt und wollen einfach nur unter die Dusche. Aber man spürt eine gewisse Zufriedenheit. Auch wenn wir nur Lebensmittel bringen, ist es ein gutes Gefühl zu wissen: Irgendjemandem wird es helfen.“

Zwischen Dernau und Ahrweiler haben Anwohner an einer Böschung ein Herz aus Blumen gepflanzt. Darüber bilden senkrecht aufgestellte Holzbuchstaben ein Wort: Danke. 

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