Hexenjagd auf jungen HippieAls vor 50 Jahren die Pocken-Seuche in NRW losbrach

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Menschen mit Schutzmasken in Meschede

  • Vor 50 Jahren brachen die Pocken in Meschede im Hochsauerlandkreis aus – eine längst totgeglaubte Seuche.
  • Ein junger Mann, der von einer Asienreise zurückkam, hatte sie eingeschleppt.
  • Magdalena Drinhaus, damals Schwesternschülerin im Krankenhaus, wurde angesteckt.
  • Sie schildert ihre Schmerzen, aber auch die große Unruhe, und die Hexenjagd gegen den jungen Mann und seine Familie – und welche Parallelen es zum Coronavirus gibt.

Es ist ein eiskalter Winter im Jahr 1970. Wegen der vielen schweren Grippefälle ist das St. Walburga-Krankhaus in der Kleinstadt Meschede im Hochsauerlandkreis schon voll belegt. Dann wird Anfang Januar der 20-jährige Mescheder Bernd K. eingeliefert. Der „Hippie“ kommt von einem langen Asienaufenthalt zurück, zuletzt war er in Pakistan. Er ist geschwächt, zunächst gehen die Ärzte von Typhus aus. Bis sie die schockierende Diagnose stellen: Der junge Mann hat Pocken. Eine der tödlichsten Krankheiten der Welt, die in Deutschland als ausgestorben gilt.

„Die Türen wurden mit Brettern vernagelt“, erinnert sich Magdalena Drinhaus, damals 21 und Schwesternschülerin. „Keiner durfte mehr rein oder raus.“ 250 Menschen werden unter Quarantäne gestellt. Wie viele hat Bernd K. angesteckt? Wenige Tage später hat Drinhaus eine Temperatur von 38,5. Sie ist infiziert.

Pocken durch Zugluft verbreitet

Obwohl sie gar nicht auf der Station gearbeitet hat, auf der Bernd K. liegt. Wie man später bei Rauchversuchen feststellt, hat der Luftzug die Viren durchs Haus verteilt, unter anderem durch einen alten Essenaufzug. „Wir haben da abends oft in der Nähe gesessen und Karten gespielt.“

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Magdalena Drinhaus

Nur wenige Stunden später kommt schon der rote Ausschlag am ganzen Körper. Aus dem Ausschlag sprießen bald große, eitergefüllte Pocken. „Mir wurde auch furchtbar übel.“ Magdalena Drinhaus wird eine Schutzmaske und ein Plastiksack zugeworfen, Schutzanzüge gab es so schnell nicht. Sie wird in die Isolierstation nach Wickede-Wimbern gefahren. „Viele hatte Angst, uns zu transportieren. Zwei Krankenwagenfahrer meldeten sich freiwillig, denen bin ich noch heute dankbar.“ Angst oder Panik habe sie aber nie gehabt. „Die helfen dir schon. Ich komme da durch“, denkt sie.

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Ein Infizierter wird abtransportiert.

Die ersten zwei Wochen fehlen ihr jedoch völlig. Sie liegt unbekleidet auf einer Folie. Wegen der dicken Pusteln kann sie sich kaum bewegen. Sie sind auch in der Nase, im Rachen, unter den Nägeln. Gepflegt werden die 25 Menschen, die sich angesteckt haben, vor allem von der Nonne Schwester Elidia, die eigentlich in die Mission wollte und deshalb gegen jeden Schrecken der Welt geimpft ist.

Acht Wochen isoliert

Erst Mitte Februar kommt Magdalena Drinhaus wieder einigermaßen zu sich. Es gibt im Isolierzimmer kein Telefon, kein Fernsehen, keine Bücher. „Gelangweilt habe ich mich nie. Es schneite sehr heftig, ich habe mir die Schneeflocken angeguckt und Luftschlösser gebaut.“ Nur einmal, da schaut sie sich in einem Handspiegel an. „Ich sah aus wie ein Monster.“ Den Spiegel wirft sie gegen die Wand. Bernd K. liegt im Nebenzimmer. Gesehen hat Drinhaus ihn nie. Nur manchmal hört sie ihn Gitarre spielen.

Die Weltgesundheitsorganisation WHO schickt Ärzte, die sie regelmäßig durch ein riesengroßes Sichtfenster begutachten. „Das war natürlich etwas merkwürdig, all diese Männer.“ Eine ihrer Kolleginnen stirbt, das erzählt man ihr erst später. Auch drei infizierte Patienten überleben nicht, sie sterben jedoch wegen ihrer Vorerkrankungen. Das fünfjährige griechische Mädchen Ralitsa, das wegen Meningitis in der Klinik war, überlebt. Ebenso wie Bernd K.

Hetze gegen die Familie

Drinhaus ist nach acht Wochen die letzte, die aus dem Isolierkrankenhaus entlassen wird. Bernd K. ist inzwischen untergetaucht. Was Magdalena Drinhaus erst jetzt so richtig mitbekommt, ist die ungeheure Unruhe, die in Meschede und Umgebung durch die Pocken entstanden war.

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Magdalena Drinhaus mit dem griechischen Mädchen Ralitsa

Fahrer mit dem damals noch gültigen „MES“-Kennzeichen werden an Tankstellen abgewiesen. Post wird verbrannt, Pakete aus Meschede nicht angenommen. Eine Spezialklinik in Dortmund weigert sich, einen Schwerstverbrannten aus Meschede aufzunehmen, der Mann stirbt. Als Panzer durch den Ort fahren, hat man Angst, Meschede würde nun abgeriegelt – doch es ist nur eine normale Übung. Die Weltpresse ist auf den kleinen Ort aufmerksam geworden.

Schmähgedicht gegen den „Hippie“

Aber vor allem wütet der Volkszorn gegen Bernd K. „Seine Familie wurde bedroht, das war schrecklich.“ Magdalena Drinhaus selbst hegte nie Groll gegen Bernd K. „Er konnte ja auch nichts dafür.“ Ein Leser jedoch schreibt ein Schmähgedicht über den „langhaarigen Hippie“ an die Zeitung. Ein Mann informiert die Stadtverwaltung, dass er hoffe, dass sich jemand findet, der den „verantwortungslosen Burschen windelweich prügelt, damit ihm seine Liebe für Rauschgift ein für alle Mal vergeht“. Die Ärzte beschaffen dem Vater von Bernd K. eine neue Arbeit, damit die Eltern wegziehen können. Sie sprechen von „fast mittelalterlichen Wahnvorstellungen“ der Bevölkerung.

„Ähnliches Muster wie beim Coronavirus“

Prof. Malte Thießen ist Medizinhistoriker beim LWL-Institut für  westfälische Regionalgeschichte in Münster. Er sieht Parallen zwischen Übergriffen auf Bernd K. und seine Familie und den aktuellen rassistischen Angriffen auf Asiaten wegen der Ausbreitung des Coronavirus.

„Es ist ein typisches Muster, dass nach Sündenböcken gesucht wird. Man meint, das sei ein Verhalten aus dem finsteren Mittelalter, wo etwa die Juden für den Ausbruch der Pest verantwortlich gemacht wurden, aber wir fallen auch heute noch leicht wieder in diese Stereotypen und Verhaltensweisen zurück. Zuletzt war das sehr stark beim Aufkommen von Aids in den 80er Jahren. Und Bernd K., der „Hippie“, war ein idealer Sündenbock in den 70er Jahren. Zum Vergleich: Es gab in der 50er und 60ern auch einige Pockeneinschleppungen, die von Ärzten ausgelöst wurden. Gegen die Halbgötter in Weiß wurde aber nicht gehetzt.“

„An der Grippe sterben jährlich viele tausend Menschen. Aber die Krankheit kennen wir, wir empfinden sie nicht mehr als bedrohlich. Die Pocken waren jedoch in Vergessenheit geraten, waren fremd und machten Angst. Im Mescheder Fall hieß es damals in einer Ärztezeitung, die grassierenden Vorurteile seien schlimmer als die Seuche selbst. Nun kommen beim neuen Coronavirus sämtliche Ressentiments gegen China zum Tragen. Angebliche Rückständigkeit, schlechte Hygiene, zu viele Menschen, lügende Politiker. Und es geht auch allgemein um die Angst vor Globalisierung und Migration.“

Magdalena Drinhaus hat noch einige Jahre die roten Punkte auf der Haut. Einzige Spätfolge heute: Sie kann keine starke Sonneneinstrahlung vertragen. Nach ihrer Genesung heiratet sie, bekommt zwei Kinder und arbeitet bis zu ihrer Pensionierung im St. Walburga-Krankenhaus. Und sie ist eine gefragte Expertin. Als der Irakkrieg beginnt und es um einen möglichen Einsatz von biologischen Waffen wie etwa Pockenviren geht, sitzt sie in Talkshows. Sie ist bei Jauch und Böttinger. Der US-Bestseller-Autor Richard Preston, der sich auf Bioterrorismus-Themen spezialisiert hat und die Vorlage für den Film „Outbreak“ lieferte, interviewt sie bei einer Konferenzschaltung in ihrer Wohnung.

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2003 nehmen ihr Wissenschaftler der Uni Mainz Blut ab. Und erst vor ein paar Tagen besucht sie eine Realschulklasse, um sie zu Pocken zu befragen – und natürlich zum Coronavirus. „Ohne die Pocken würde ich das alles nicht erleben“, sagt Drinhaus. „So hat das alles auch sein Positives.“ Bernd K., hat seinen Nachnamen geändert. Er soll auf einem Hausboot in Spanien gewohnt haben und nun in einem Altersheim im Sauerland leben. „Ich würde ihn gerne mal treffen und erfahren, wie er das alles verarbeitet hat.“

Die Impfpflicht gegen Pocken endete in Westdeutschland 1976. Seit 1980 gibt es offiziell nur noch zwei Orte, an denen Pockenviren lagern – in den Seuchenbehörden der USA und Russlands. In Deutschland gab es nach dem Mescheder Fall keinen Ausbruch mehr.

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