Das Hamburger Kammerballett gastiert zum ersten Mal im Forum Leverkusen und entfacht mit seinem Doppelabend „Zerbrochene Illusionen“ einen konzentrierten Tanzstrom.
Hamburger KammerballettKünstlerischer Antwort auf den Angriffskrieg im Forum Leverkusen

„Zerbrochene Illusionen“ mit dem Hamburger Kammerballett im Forum Leverkusen –Veronika Hordina als Miss Julie
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Verletzlich stark ist Edvin Revazovs „Miss Julie“. Schon das erste Bild ist eine Störung. Eine Tänzerin in einer dunklen Nebelwolke auf einem Käfig wie in eine Erinnerung. Pēteris Vasks’ Musik weht durch die Dunkelheit. Die Choreografie nach Strindbergs „Fräulein Julie“ beginnt nicht mit Bewegung, sondern mit Spannung. Was folgt, ist ein Tanz auf der Rasierklinge zwischen Begehren und Kontrolle, Klasse und Körper, Nähe und Absturz. Veronika Hordina als Miss Julie taumelt durch die soziale Ordnung wie durch einen Nebel aus Sehnsucht: Die junge Adlige rebelliert mit einem Flirt mit Jean, dem Diener ihres Vaters. Zwischen Fräulein Julie und Jean entwickelt sich eine komplexe Beziehung, die von Macht, Sehnsucht und Klassenunterschieden geprägt ist. Der Tanz trägt jene gefährliche Intimität, die dieses naturalistische Drama so explosiv macht.
Solidarität mit der Ukraine auf der Bühne des Leverkusener Forums
Revazovs Handschrift, klar, musikalisch, emotional durchzogen, sucht nach Wahrhaftigkeit. „Ich wollte etwas schaffen, das diesen Tänzerinnen und Tänzern gehört“, sagte er im Gespräch, „etwas, das ihre Leben mit der Bühne verbindet.“ Die sind zwischen 21 und 33 Jahre alt, aus Kiew, Donezk, Charkiw und anderen ukrainischen Städten. Und sind extrem gut klassisch ausgebildet. Das Hamburger Kammerballett wurde 2022 als künstlerische Antwort auf den russischen Angriffskrieg gegründet – von Edvin Revazov, einem der profiliertesten Solisten des Hamburg Ballett, und Isabelle Rohlfs, Tänzerin und erfahrene Produktionsleiterin. In Leverkusen zeigt sich, wie viel mehr dieses Ensemble inzwischen ist: ein Stück gelebter Solidarität. Die Bühne wird zur neuen Heimat – persönlich, politisch und poetisch.

Ein intensiver Ballettabend zwischen klassischer Tiefe und zeitgenössischer Dringlichkeit.
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Dass dieser Abend mit „Hamlet Connotations“ beginnt, ist fast ein dramaturgischer Glücksgriff. Die seltene Choreografie von John Neumeier – 1976 in New York uraufgeführt, lange zu Unrecht fast vergessen – wird hier zu einem stillen Auftakt, der unter die Haut geht. Vladyslav Bondar tanzt Hamlet als innerlich zerrissene Figur, während Valerii Liubenko, Viktoriia Miroshyna, Veronika Hordina und Nicolas Gläsmann ein psychologisches Kammerspiel aus Erinnerungen, Macht und Schuld entfalten. Aaron Coplands Zwölftonmusik drängt nicht, sie schabt, flackert, bleibt fragmentarisch. Wie die Figuren selbst. Und doch passt jede Bewegung auf dieses schwere Werk.
Ein choreografischer Schatz: Neumeiers „Hamlet Connotations“
Revazov und das Ensemble mussten diese Choreografie fast neu entdecken: „Es gab kaum Material. Nur ein paar Fotos, alte Videoausschnitte, kaum Notizen“, erzählt er. Dass Neumeier schließlich persönlich den letzten Feinschliff vornahm – wenige Tage vor der Premiere – verleiht dem Ganzen den Charakter eines choreografischen Vermächtnisses. „Hamlet Connotations“ wirkt wie ein wiederentdeckter Schatz. Keine großen Gesten, kein dramatisches Rasen – sondern ein Blick in das zersplitterte Innere eines jungen Menschen, der die Welt nicht mehr versteht.
„Zerbrochene Illusionen“ ist ein Abend über Figuren, die zerbrechen – an Verhältnissen, an Rollen, an sich selbst. Doch es ist auch ein Abend über ein Ensemble, das zusammenhält. Das Hamburger Kammerballett steht nicht nur für stilistische Eleganz oder choreografische Präzision. Es steht für etwas Tieferes: eine Kunst, die sich nicht abgrenzt, sondern verbindet. Keine Behauptung von Solidarität, sondern gelebte Wirklichkeit. Ein seltenes Beispiel für so ein Engagement.


