Interview zur Industrie 4.0Andreas Tressin: „Technik ist gestaltbar“

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Auch die Unternehmen im Chempark müssen viel verändern, um den Schritt in die Industrie 4.0 gehen zu können.

Leverkusen – Herr Tressin, an der Digitalisierung kommen Arbeitgeber genau so wenig vorbei wie Arbeitnehmer. Die Pandemie hat der Entwicklung einen kräftigen Schub verpasst. Kann man sich darauf jetzt nicht mal kurz ausruhen?

Andreas Tressin: Auf keinen Fall, denn die Digitalisierung – oder Industrie 4.0 – ist viel mehr als nur ein bisschen „Homeoffice“. In der Begrifflichkeit der Arbeitswirtschaft ist Industrie 4.0 die Vernetzung der gesamten Wertschöpfungsketten sowohl bei der Produktions- als auch bei der Wissensarbeit mit Hilfe der Technologie cyber-physischer Systeme: „big data“. Das heißt, die richtigen Informationen zur richtigen Zeit im richtigen Zustand am richtigen Ort zu haben.

Zur Person

Andreas Tressin ist Geschäftsführer des Arbeitgeberverbands und der Unternehmerschaft Rhein-Wupper. Beide vertreten rund 200 Mitgliedsunternehmen unterschiedlicher Branchen mit und ohne Tarifbindung aus Leverkusen, Leichlingen, Burscheid, Langenfeld und Monheim.

Weil „digital“ immer mehr Unternehmen auf der ganzen Welt ebenso können, entsteht eine neue Wettbewerbsdynamik: Im Ergebnis können immer mehr Unternehmen alles zu jedem Zeitpunkt an jedem Ort der Welt. Die Digitalisierung ist damit auch eine Schicksalsfrage für den deutschen Standort. Denn machen wir uns nichts vor: Wer nicht digital mitspielen kann oder will, wird bald gar nicht mehr mitspielen.

Beim Deutschen Gewerkschaftsbund kursiert eine Studie, nach der es in der Arbeitswelt so laufen wird wie sonst auch: Geringer Qualifizierte werden abgehängt. Das kann kein Unternehmen wollen. Was ist zu tun?

Es gibt hierzu die unterschiedlichsten Szenarien von der Spaltung von Arbeitsbereichen in einfache und komplexe Tätigkeiten bis zur flexiblen Gestaltung und Entgrenzung der Beschäftigungsverhältnisse. Ich würde den Umsetzungsprozess bei der Digitalisierung nicht an einem Szenario festmachen. Bei der Umsetzung der Digitalisierung gibt es keine einheitliche Kennzahl, geschweige denn ein einheitliches Messverfahren. Deshalb ist auch eine einheitliche Umsetzung nicht darstellbar. Es gibt also nicht die Digitalisierung aus der Schublade oder aus dem für alle geltenden Musterbetrieb. Sie ist ein Prozess, je nach Fortschreiten der technischen Möglichkeiten. Für die Beschäftigten heißt das: Alle müssen kontinuierlich für die Zukunft fit gemacht werden, und zwar durch betriebsindividuelle, bedarfsgerechte Qualifizierung.

Die Lasten müssen verteilt werden

Ist es nicht ausschließlich eine Arbeitgeber-Aufgabe, die Belegschaft fit für die Industrie 4.0 zu machen? Falls nicht, wer kann Positives beitragen?

Für mich ist das eine Frage einer ausgewogenen Lastenverteilung. Auf keinen Fall können die Unternehmen den gesamten Transformationsprozess bei der Digitalisierung alleine stemmen. Der Investitionsaufwand für Hard- und Software oder die zum Teil notwendig werdenden völlig neuen Produktionseinrichtungen und -verfahren verschlingen unglaublich viel Liquidität – Liquidität, die viele in der Pandemie aufgebraucht haben. Deshalb sehe ich hier auch den Staat in der Pflicht für Förderangebote zu sorgen, die zumindest die Unsicherheiten des Einstiegs abfedern.

Bei der Aus-, Fort- und Weiterbildung ist die Möglichkeit der Bundesregierung zu begrüßen, bei denen die Arbeitsverwaltung die Kosten je nach Größe des Betriebes teilweise oder ganz übernimmt. Ähnliches gilt für das Transfer- und Transformationskurzarbeitergeld. Auch das entlastet die Arbeitgeber.

Natürlich muss auch der Arbeitnehmer einen Eigenbeitrag leisten, um sich für die Zukunft fit zu machen. Dies scheint mir in der gesellschaftspolitischen Debatte aus dem Blick geraten zu sein. Eine Bringschuld des Staates sehe ich auch in der flächendeckenden Vermittlung von IT-Kompetenzen. Hier besteht Qualifizierungsbedarf auf allen Stufen des Bildungssystems. Insbesondere die „MINT“-Kompetenzen (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik) müssen in der Schule noch viel intensiver und ganzheitlicher vermittelt und entwickelt werden. Das gilt aber auch für die Hochschulen.

Wie kann man die Entgrenzung von Arbeit und Freizeit verhindern, wenn vieles digital abläuft? Braucht man da andere Tarifverträge?

Ich würde die Digitalisierung gar nicht immer so negativ sehen. Aus meiner Wahrnehmung ermöglicht Digitalisierung nämlich den Beschäftigten vor allem mehr Flexibilität, gesteigerten Komfort in der Lebensqualität, gesellschaftliche Teilhabe und Erleichterungen bei monotonen Routinetätigkeiten. Neben einer erhöhten Informationsverfügbarkeit verbessert sie die Abstimmungs- und Kommunikationsprozesse im Unternehmen. Kurzum: Die Digitalisierung bietet viele überzeugende Chancen. 

Tarifverträge sind kompliziert genug

Im Übrigen wird Technik von Menschen gemacht und ist deshalb gestaltbar; jeder Mitarbeiter sitzt bei der Transformation immer auch mit im „Driver Seat“.

Die Tarifvertragsparteien sollten zur Transformation lediglich Rahmenregelungen definieren und die Ausgestaltung den Betriebsparteien überlassen. Nur sie können auf ihre eigenen Bedürfnisse reagieren und sich mit den eigenen Problemfeldern auseinandersetzen. Ich warne davor, Tarifverträge, die schon jetzt viel zu kompliziert sind, noch weiter mit einem umfassenden Regelwerk zu präjudizieren. Das kann schon deshalb nicht funktionieren, weil in der Fläche nicht jeder denkbare Einzelfall geregelt werden kann.

Haben Arbeitgeber und Betriebsräte in Sachen Industrie 4.0 überhaupt schon klare Positionen? Und gibt es mehr Gemeinsamkeiten oder mehr, über das gestritten wird?

Ich nehme in der Beratungspraxis wahr, dass die Betriebsparteien bei der Digitalisierung mehr Chancen als Risiken sehen. Einigkeit besteht vor allem darin, dass der Mensch auch in der künftigen Arbeitswelt ein entscheidender Produktionsfaktor bleiben soll. Als vorrangigste Handlungsfelder sehen sie die Gestaltung flexibler Arbeitszeitregime und eine bedarfsgerechte Qualifizierung. Und da beide Seiten bei der Digitalisierung am eine deutliche Produktivitätssteigerung erreichen wollen, ist es unabdingbar, den Arbeitnehmerinteressen immer auch die betrieblichen Belange und Strukturen gegenüber zu stellen.

Wie weit würden Sie gehen? Braucht eine digitale Arbeitswelt ganz neue Berufe?

Die Digitalisierung muss nicht zwangsläufig bedeuten, dass völlig neue Ausbildungsberufe notwendig werden. Grundsätzlich passen nämlich die bestehenden Berufe, sie müssen nur weiterentwickelt werden. Statt neue Ausbildungsberufe sollten deshalb Zusatzqualifikationen entwickelt werden. Das gilt umso mehr, weil die Verkürzung der Innovationszyklen stetig zunimmt und damit auch die Halbwertzeit von Wissen, sodass die Bedeutung von lebensbegleitendem Lernen stetig wächst.

Ist Deutschland gut vorbereitet auf die Digitalisierung der Arbeitsprozesse?

Die Unternehmen sind in der Umbruchphase auf einem guten Weg. Bei den digitalen Infrastrukturen leben wir im internationalen Vergleich jedoch offensichtlich noch in der Steinzeit.

Schlechter als Costa Rica

Es kann nicht überraschen, dass immer häufiger über ein Glasfaser-Desaster geredet wird. So nutzen in Südkorea, dem Digitalisierungsweltmeister rund 84 Prozent aller Breitbandanschlüsse die Glasfasertechnologie. Schweden mit 73 und Spanien mit 70 Prozent gehören zur internationalen Champions League, während Deutschland mit einem Anteil von rund 5 Prozent hinter Costa Rica liegt.

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