Unterstützt vom Musikschulen-Ensemble „Schlagsahne“ wurde in der Wiesdorfer Christuskirche aus „Liebe ist gewaltig“ vorgelesen.
Schwere „Kost, die sich lohnt“Pfarrer Prößdorf wagt bei Lesung Exkurs zu häuslicher Gewalt

Detlev Prößdorf bei der Lesung zu „Liebe ist gewaltig“ in der Christuskirche.
Copyright: Daniel Thiel
Um 20.11 Uhr wird es am Donnerstagabend, 20. November, mitten in Wiesdorf plötzlich so laut, dass einige Personen in der Christuskirche aus Reflex ihre Hände in Richtung ihrer Ohren bewegen. Aber nein, natürlich kein Grund zur Sorge – im Rahmen der Lesung zu „Liebe ist gewaltig“ lässt es das Ensemble „Schlagsahne“ der Musikschule Leverkusen, vier Jugendliche, so richtig krachen.
Der Ton des Abends war aber schon zuvor gesetzt, als etwa im Rahmen der Lesung Sätze wie „Dafür gibt’s auf die Fresse“ fielen. Der Hintergrund ist aber zweifelsohne ein ernster, Pfarrer Detlev Prößdorf hat sich dazu entschieden, die Lesung zu einem Buch über häusliche Gewalt abzuhalten.
Keine leichte Kost, aber Kost, die sich lohnt.
Am Ende der Lesung spricht der Pfarrer in der evangelischen Kirchengemeinde Mitte noch über seine Entscheidung, dieses Werk auszuwählen. In den vergangenen Jahrzehnten sei er in seiner Arbeit auch immer wieder mit Opfern von häuslicher Gewalt zu tun gehabt, das Thema sei „präsent“ und „vielschichtig“. Natürlich sei „Liebe ist gewaltig“ „keine leichte Kost, aber Kost, die sich lohnt“, betont Prößdorf.
Die thematisch schwere Kost von Autorin Claudia Schumacher ist rhetorisch besonders deftig, wenn der Roman in die Ich-Erzählung von Protagonistin Juli Ehre, zu Beginn des Werkes 17 Jahre alt, wechselt. Dann gilt es für Pfarrer Prößdorf auch einmal, Begriffe vorzulesen, die sonst nur höchst selten in der Christuskirche eine Rolle spielen dürften – mal sind es Beleidigungen, mal gewagte Jugendsprache aus den vergangenen zwei Jahrzehnten.
Bilderbuchfamilie nach außen, häusliche Gewalt in den eigenen vier Wänden
Ehre wächst gemeinsam mit ihren drei Geschwistern als Tochter eines Anwalts auf. Allerdings prägt nicht der Beruf ihres Vaters das Familienbild, sondern das, was nach außen lange niemand weiß: Julis Vater ist gewalttätig – gegen seine Ehefrau und seine Kinder. Der zu Beginn thematisierte Satz „Dafür gibt’s auf die Fresse“ fiel im Rahmen einer seiner vielen Wutausbrüche, in denen er handgreiflich wird.
„Liebe ist gewaltig“ ist ein Roman, der auf viele Fragen, die nicht beteiligte Personen zum Thema häusliche Gewalt haben, Antworten liefert. Wieso kapseln sich die Betroffenen nicht einfach von der gewalttätigen Person ab? Wie verarbeiten die Opfer das Erlebte? Und wie schaffen sie, die Wunden öffentlich nicht zu zeigen?
Die Antwort auf die letzte Frage sind im Falle von Julis Mutter viele Rollkragenpullover, die bedecken, was sich in den eigenen vier Wänden abspielt. Julis Umgang als Jugendliche ist einerseits, in der Schule nach dem Ideal zu streben, um keine Angriffsfläche daheim zu bieten. So ist sie etwa im Mathematik-Unterricht ausgesprochen begabt und als Klassensprecherin aktiv. Andererseits verliert sie sich in Computerspielen, um zu vergessen. „Zocken ist das Einzige, was mir Zuflucht gibt“, heißt es etwa in einem ihrer Monologe.
Protagonistin Juli zieht es unter anderem in die Schweiz
Der Roman, der im Rahmen der Aktion „Buch für die Stadt“ des „Kölner Stadt-Anzeiger“ und des „Literaturhaus Köln“ prämiert wurde, zeigt dabei auch Julis Prozess der Realisation, wie die jeweiligen Familienmitglieder mit der häuslichen Gewalt umgehen – zwischen Verdrängung, Flucht und die Situation über sich ergehen lassen.
In Schumachers Buch wird aber auch deutlich, dass das Erlebte die Opfer von häuslicher Gewalt immer wieder einholt – auch wenn sie längst nicht mehr in der Nähe des Täters leben und sich ein vermeintlich eigenes Leben aufgebaut haben.
Immer wieder gab es durch die kurzen musikalischen Einschübe des Ensembles „Schlagsahne“ die Gelegenheit, das Gehörte zu reflektieren. Der Einladung in die Christuskirche folgten etwa 80 Personen, viele von ihnen zeigten sich im Anschluss an die Lesung schwer beeindruckt von der „Kost, die sich lohnt“ – die gab es auch in der Pause. Für die Zeit zwischen den beiden Lesungsteilen wurde ein umfangreiches Buffet des Kochteams der Gemeinde aufgebaut, kulinarisch orientiert an den verschiedenen Stationen von Protagonistin Juli – die es nach ihrer Zeit in der Heimat nahe Stuttgart etwa in die Schweiz verschlägt. Das sorgte für den Anwesenden für einen rundum angenehmen Abend – trotz der Schwere der Thematik des Buches, das sich Pfarrer Prößdorf für den Abend ausgesucht hatte.
Als Prößdorf im Oktober gemeinsam mit seinem Kollegen Siegfried Eckert mit dem Kurt-Lorentz-Preis ausgezeichnet wurde, lobte die Förderverein-Vorsitzende Roswitha Arnold: „Das von den beiden Preisträgern ins Leben gerufene Kultur- und Begegnungsprogramm vermag es, Menschen zusammenzubringen und die unterschiedlichsten gesellschaftlichen Themen aufzugreifen.“
Genau das ist dem Pfarrer am Donnerstagabend einmal mehr gelungen. So gab es, trotz der schweren Kost, beim Gang aus der Christuskirche in die Wiesdorfer City viele lachende Gesichter.

