Leverkusenerin war an ukrainischer Grenze„Die Menschen sind völlig traumatisiert“

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Kerstin Bandsom Welthungerhilfe

Kerstin Bandsom lebt in Leverkusen, arbeitet für die Welthungerhilfe – und war im Einsatz an der ukrainischen Grenze.

Leverkusen – Die Leverkusenerin Kerstin Bandsom arbeitet für die Welthungerhilfe. Anfang der Woche ist sie von einem Einsatz in Polen, Rumänien und Moldau zurückgekehrt. An den Grenzen zur Ukraine hat sie viele Geflüchtete getroffen. Im Interview spricht sie über ihre Erlebnisse, eindrückliche Begegnungen und das, was die Menschen jetzt am meisten benötigen.

Frau Bandsom, Sie sind gerade nach Hause zurückgekehrt. Sie waren im Hilfseinsatz an der ukrainischen Grenze. Was genau haben Sie dort gemacht?

Kerstin Bandsom: Wir von der Welthungerhilfe sind mit einem internationalen Team von Polen aus gestartet, um die Situation an der Grenze zur Ukraine zu untersuchen und zu schauen, welche Hilfe wir leisten können.

Wie haben Sie die Situation vor Ort erlebt?

Je nach Land war das sehr unterschiedlich. In Polen, wo schon etwa 1,5 Millionen Menschen angekommen sind, war alles sehr professionell. Und es herrscht eine unglaublich große Hilfsbereitschaft, das hat mich mich wirklich sehr berührt. Privatmenschen, Behörden, Organisationen, Hoteliers – sie alle tun, was sie können.

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Kerstin Bandsom während ihres Einsatzes an der ukrainischen Grenze

In Rumänien und besonders in Moldau – dem ärmsten Land Europas – sind die Gemeinden stärker überfordert mit der Situation. Aber auch dort gibt es sehr viele freiwillige Helferinnen und Helfer, die dort Menschen in Empfang nehmen. Dort können die Einwohner zwar kein Geld geben, aber sie sagen: Wir können unser Essen und unser Zuhause mit Euch teilen. In Rumänien hat der Leiter eines Kaufhauses zwei Etagen für die Geflüchteten freigeräumt. Dort können sie sich aufwärmen und finden etwas Ruhe und Schlaf.

Wie geht es den Menschen, die aus der Ukraine flüchten?

Es kommen vor allem Frauen und Kinder an, die teilweise drei oder vier Tage gelaufen sind und 40 Kilometer in Eiseskälte hinter sich gebracht haben. Ich habe mit Frauen gesprochen, die über 30 Stunden in einem vollen Zug standen, ohne Essen und Trinken, ohne Toilette, ohne Möglichkeit, sich zu setzen. Auch viele ältere Menschen durchleben das, Kinder, deren Windeln nicht gewechselt werden können. Und immer wieder hören sie die Sirenen. Die Menschen kommen völlig traumatisiert über die Grenze. Ich habe noch nie so blasse Kinder gesehen, Frauen ohne jeden Gesichtsausdruck.

Was erwartet sie dort?

Sie bekommen warme Decken, ein warmes Getränk, etwas zu essen.  Andere brechen in sich zusammen, ich habe das bei einer Frau um die 65 erlebt. Die Menschen kommen ja völlig durchfroren an. Manche habe ich einfach in den Arm genommen. Aber wie kann ich eine Frau trösten, die ohne ihren Mann, Vater oder Bruder über die Grenze gekommen ist? Sie sieht sie vielleicht nie wieder.

Welche Begegnungen sind Ihnen besonders in Erinnerung?

Ich habe eine junge Frau kennengelernt, Alina. Sie war im Januar noch im Urlaub – in Portugal, Deutschland und Spanien. Und fünf Stunden vor der ersten Bombe auf Kiew ist sie wieder in der Ukraine gelandet. Sie hat nur gedacht, sie träumt und hat immer gesagt: Ich wache gleich auf.

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Die Ukrainerin Alina ist aus der Ukraine geflüchtet. Sie kam fünf Stunden vor der ersten Bombe auf Kiew aus dem Urlaub zurück.

Eine andere Frau, deren Eltern in Russland leben, hat ihre Mutter angerufen und ihr gesagt: Hier wird geschossen, wir werden bombardiert. Und die Mutter sagt: Nein, das stimmt nicht.

Glauben die Menschen, bald nach Hause zurückkehren zu können – oder stellen sie sich auf Jahre im Ausland ein?

Viele gehen fest davon aus, dass sie bald zurückgehen können. Aber das wird sich im Laufe der Zeit ändern. Aus der Distanz werden sie verstehen, dass das keine Sache von wenigen Wochen ist. Ich habe heute im Zug zum Bonner Büro eine ukrainische Frau und ihr Kind kennengelernt. Sie haben kurz zuvor einen Anruf bekommen. Ihnen wurde mitgeteilt, dass ihre Wohnung zerbombt worden ist. Sie hat mir gesagt: „Ich hatte ein gutes Leben in Kiew. Dieses Leben habe ich nicht mehr. Aber ich bin in Sicherheit.“

Wie fühlt es sich für Sie an, jetzt wieder in Leverkusen in Ihrem Zuhause zu sein – und das Leid in der Ukraine geht weiter?

Ich bin trainiert für diese Einsätze und habe das Handwerkszeug gelernt, um damit umzugehen. Aber ich bin ein Mensch mit Emotionen und lasse die auch zu. Die letzten Tage klingen nach, das fühlt sich bitter an und macht manchmal traurig und hilflos. Ich kann dort professionell helfen, aber menschlich ist es sehr schwer erträglich. Ich bin auch Mutter. Das Leid, das vor allem die Frauen gerade ertragen müssen, ist sehr schwer fassbar.

Werden Sie erneut in das Krisengebiet reisen und dort helfen?

Wir haben mehrere Kolleginnen und Kollegen bei der Welthungerhilfe, die solche Einsätze durchführen. Wenn ich dafür wieder ausgewählt werde, bin ich bereit. Es ist wichtig, die schrecklichen Geschichten zu erzählen, die Situation vor Ort zu kennen und zu beschreiben. Ich möchte mitteilen, was dort passiert. Denn es passiert so oft auf der Welt. Dass Menschen von jetzt auf gleich fliehen und alles hinter sich lassen müssen, passiert jetzt in der Ukraine – und weil es so nah ist, berührt uns das viel stärker als sonst. Aber es gibt so viele Krisenplätze auf der Welt. Das darf einen nicht kalt lassen.

Wie können die Menschen am besten helfen?

Es gibt drei Möglichkeiten: Wer Sachspenden bereitstellen will, Kleider oder ähnliches, soll das bitte nur tun, wenn klar ist, dass diese Dinge auch gebraucht und angefordert werden. Einfach zu sammeln und irgendwelche Hilfsgüter oder Kleidung zu verschicken, ist nicht hilfreich. Zweitens gibt es viele Organisationen, die vor Ort sind und genau wissen, was gebraucht wird, und gezielt diese Dinge besorgen. Dazu gehört die Welthungerhilfe, aber auch viele andere Organisationen. An diese kann gespendet werden, das hilft sehr.

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Auch die Menschen in Leverkusen können helfen, wenn sie zum Beispiel geflüchtete Menschen in ihre Privatwohnungen aufnehmen. Aber das sollte nur geschehen, wenn man auch wirklich bereit dafür ist. Ich habe gesehen, wie Menschen die Nachricht bekommen, dass ihr Mann tot ist, dass das Zuhause zerstört wurde. Da brechen Menschen zusammen, sie erleben Furchtbares. Wer also jemanden aufnimmt, sollte sich ehrlich fragen: Kann ich das schaffen?

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