Angriff auf die UkraineDiese Leverkusenerin hilft jetzt schwarzen Geflüchteten

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Gina Hitsch und der aus der Ukraine geflüchtete Kingsley Ibe in Wiesdorf.

Leverkusen  – Eigentlich, sagt sie, habe sie am Samstag vor einer Woche mal entspannen wollen. Entspannen im Sinne von: abschalten. Auch das Handy. Passenderweise sei sie sogar zu einer Hochzeit eingeladen gewesen, sagt Gina Hitsch. Friede, Freude, Liebe. Viel mehr Ablenkung ist ja kaum möglich. Aber Gina Hitsch aus Leverkusen kann Ablenkung gerade nicht. Und abschalten – egal ob die Gedanken oder das Handy – auch nicht.

Viel lieber hat sie sich am Tag nach der Hochzeit, „bei der es ohnehin nur ein Thema gab“, wie sie sagt, in einen Kleintransporter gesetzt und ist von Wiesdorf aus nach Köln und von dort mit einer Freundin weitergefahren. Weitergefahren, um aus der Ukraine geflüchtete Menschen herzuholen.

Eine Mission als Berufung

Solch eine Mission ist dieser Tag zwar nicht einzigartig, aber doch jedes Mal etwas Besonderes. Weil sie zutiefst menschlich und mitfühlend ist. Bei Gina Hitsch aber kommt noch etwas dazu: Sie holte schwarze Flüchtende ab und brachte sie in die Sicherheit ihrer Heimat. Ins Rheinland. Das ist so etwas wie ihre Berufung, da sie selbst eine schwarze Deutsche ist. Da sie selbst häufig genug Rassismus erlebte und erlebt. Da sie darum vor nicht allzu langer Zeit einen eigenen Verein – „Be Your Future“ – gegen Rassismus und Diskriminierung gegründet hat. Podcasts aufnimmt. Netzwerke knüpft. Ihre Stimme erhebt.

Und da Gina Hitsch durch Berichte von ihren mittlerweile zig nationalen wie internationalen Kontakten für sich persönlich das bestätigt sah, was auch in diversen Medien schon geschrieben wurde: „An der Grenze der Ukraine werden schwarze Flüchtende wie Menschen zweiter Klasse behandelt. Wir aber fordern Solidarität mit allen Flüchtenden.“

Nicht fürs Abwarten gemacht

Also wollte und musste sie etwas tun. Wie immer. Da kennt Gina Hitsch nichts. Keine Kompromisse. Zum Zuschauen und Abwarten ist jemand wie sie nicht gemacht. Wenn sie von ihrer Sache spricht, von ihrem Kampf für eine bessere Welt, dann brennt jede Silbe, die sie spricht, vor Leidenschaft.

Und ein paar Tage später sitzt Gina Hitsch dann auf einer Parkbank in Wiesdorf nahe ihrem Elternhaus. Und neben ihr sitzt Kingsley Ibe. Der 25-jährige besitzt einen nigerianischen Pass und ist einer von denen, die die junge Leverkusenerin von ihrer Tour mitgebracht hat. Fünf Nigerianer. Eine Frau aus Sierra Leone. Sechs nach eigenen Angaben Studierende aus Kiew.

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Drei Monate in Kiew

Kingsley Ibe erzählt seine Geschichte auf Englisch und blickt dabei zu Boden. Er weint immer wieder und hält die Hände vor die Augen. Gina Hitsch nimmt ihn in den Arm und zeigt allein damit, dass sie absolut keinen Grund sieht, an dieser Geschichte zu zweifeln. „Das ist unfassbar traumatisch für ihn.“ Kingsley Ibe sagt, dass er vor drei Monaten in Kiew ein Wirtschaftsstudium begonnen habe. Ein Traum zunächst. Jetzt ein Alptraum.

Belegen kann er das gleichwohl nicht: Den Studierendenausweis habe er in der dortigen Universität zurückgelassen. Und er sei, als Russland die Ukraine überfallen habe, „einfach nur so schnell wie möglich“ mit ein paar Klamotten, fast ohne Geld, in Eile und Hatz aufgebrochen, um aus dem Land zu fliehen.

Der Plan sei gewesen, mit dem Zug über Lviv zunächst einmal nach Budapest zu gelangen. Hauptsache weg. Egal wohin. „Aber immer hieß es nur: „Ihr nicht!" Andere Flüchtende hätten Züge besteigen dürfen. Ohne Fahrkarte. Ohne Prüfung. „Unsere Pässe dagegen wurden zigfach kontrolliert.“ Also: warten. In der Kälte. „Stundenlang“. Nächtelang. Eine Unterkunft habe es entweder gar nicht gegeben oder „sie war so teuer, dass wir sie nicht bezahlen konnten“.

„Du wirst hier sterben“

„Wir haben nachts draußen auf dem Betonboden geschlafen bei Minusgraden." Ohne Essen. Ohne etwas zum Trinken. „Viele sind kollabiert.“ Es sei um Leben oder Tod gegangen. Und trotzdem immer wieder nur diese zwei Wörter: „Ihr nicht!“ Und Beschimpfungen: „Affen!“ „Ich dachte: Hier hilft dir niemand. Niemals“, sagt Kingsley Ibe. „Ich dachte: Du wirst hier sterben!“

Er spricht mal schnell. Mal stockend. Am Ende hört man auf jeden Fall heraus, dass es doch gut ausging, weil er einfach Glück gehabt habe–- und einen Bekannten aus Nigeria. Einen Mann namens Greg, der ihnen Geld habe schicken lassen, um Zugtickets zu kaufen. Und der letztlich auch über einen befreundeten schwarzen BBC-Reporter und Aktivisten, Aaron Akinyemi, den Kontakt zu Gina Hitsch bekam. Greg ließ sie wissen, dass Kingsley und seine Gruppe Hilfe benötigten und letztlich – nach Tagen des Kampfes – einen Zug bestiegen hätten, der über Ungarn und Österreich bis München fahre. Wo Gina Hitsch auf sie wartete.

Privat untergebracht in Köln

Jetzt sind die sechs Flüchtenden in Köln. Privat untergebracht. Gina Hitsch ist mit ihnen zum Ausländeramt gegangen und hat für sie eine vom Bundesinnenministerium ausgestellte Aufenthaltsgenehmigung erwirkt, die zunächst einmal bis zum 23. Mai gültig ist. Überschrift: „Verordnung zur vorübergehenden Befreiung vom Erfordernis eines Aufenthaltstitels von anlässlich des Krieges in der Ukraine eingereisten Personen“. Oder etwas kürzer: „Ukraine-Aufenthalts-Übergangsverordnung“. Klinge schon ziemlich bürokratisch, sagt Gina Hitsch. Aber sei's drum: „Das gibt der Gruppe Zeit."

Zurück nach Kiew will von den sechs um Kingsley Ibe keiner mehr. „Auf gar keinen Fall“, betont er. Gleichwohl wollten sie alles daransetzen, ihr Studium anderswo in Europa weiterzuführen und zu beenden.

Viele Behördengänge

Gina Hitsch, die derzeit mit den Flüchtenden tagein und tagaus einen Behördengang nach dem anderen erledigt, sie zum Impfen begleitete und ihr eigenes Studium kurzzeitig links liegen lässt, um zu helfen, hat sich bereits erkundigt und weiß: „Es gibt Möglichkeiten für sie an einigen Universitäten.“ Sowohl in NRW als auch in den Niederlanden. Aber das habe noch etwas Zeit. „Erstmal sollen sie, wie alle anderen Flüchtenden auch, Abstand vom Krieg gewinnen.“

Gina Hitsch selbst kennt keinen Abstand. Kein Abschalten. Sie sucht jetzt nach einem Busunternehmen, das ihr und ihrer Sache vielleicht helfen kann. Und sie plant bereits ihre nächste Tour für die kommende oder übernächste Woche: „Ich fahre auf jeden Fall nochmal los", sagt sie. Und auch wenn kurze Zeit später auf ihrem Whats-App-Konto doch tatsächlich die Nachricht „Bin das Wochenende über nicht erreichbar. Versuche, ein bisschen Ruhe zu finden" aufpoppt: Dieses „auf jeden Fall“ hört sich nach mindestens drei Ausrufezeichen an.

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